Octavio Paz: Der Bogen und die Leier

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Octavio Paz: Der Bogen und die Leier

Paz-Der Bogen und die Leier

EINLEITUNG

Dichtung und Gedicht

Dichtung ist Erkenntnis, Rettung, Macht, Verlassenheit. Als ein Verfahren, das die Welt zu verändern vermag, ist die dichterische Tätigkeit ihrem Wesen nach revolutionär; als geistige Übung ist sie eine Methode zur inneren Befreiung. Die Dichtung enthüllt diese Welt; schafft eine andere. Ist Brot der Auserwählten; verfluchte Nahrung. Sie isoliert; sie vereint. Ist Aufforderung zur Reise; Rückkehr in die Heimat. Einatmen, Ausatmen, Muskelübung. Bittgebet an die Leere, Zwiegespräch mit der Abwesenheit: sie nährt sich vom Überdruß, von der Betrübnis, von der Verzweiflung. Gebet, Litanei, Epiphanie, Anwesenheit. Exorzismus, Beschwörung, Magie. Sublimation, Kompensation, Kondensation des Unbewußten. Geschichtlicher Ausdruck von Rassen, Nationen, Klassen. Sie negiert die Geschichte: in ihrem Innern lösen sich alle sachlichen Konflikte und dem Menschen wird am Ende bewußt, daß er mehr als nur Durchgang ist. Erfahrung. Gefühl, Emotion, Intuition, ungesteuertes Denken. Tochter des Zufalls; Produkt des Kalküls. Die Kunst erhabenen Sprechens; ursprüngliche Sprache. Befolgung der Regeln; Schaffung neuer. Nachahmung der alten Meister, Nachbildung des Wirklichen, Nachbildung einer Nachbildung der Idee. Verrücktheit, Ekstase, Logos. Rückkehr zur Kindheit, Koitus, Nostalgie nach dem Paradies, dem Inferno, dem Limbus. Spiel, Arbeit, asketische Tätigkeit. Bekenntnis. Angeborene Erfahrung. Vision, Musik, Symbol. Analogie: das Gedicht ist eine Muschel, in der die Musik der Welt nachklingt, und Metren und Reime sind nur Entsprechungen, Echos der kosmischen Harmonie. Lehre, Moral, Beispiel; Offenbarung, Tanz, Dialog, Monolog. Stimme des Volkes, Sprache der Auserwählten, Wort des Einsamen. Rein und unrein, heilig und verflucht, populär und minoritär, allen gemeinsam und persönlich, nackt und im Gewand, gesprochen, gemalt, geschrieben: sie hat alle Gesichter. Einige behaupten jedoch, daß sie keines besitzt: Das Gedicht ist eine Maske, die die Leere verbirgt, ein schöner Beweis für die überflüssige Großartigkeit allen Menschenwerks!
Wie sollten wir nicht in jeder dieser Formeln den Dichter erkennen, der sie rechtfertigt und ihnen, indem er sie verkörpert, Leben verleiht? Sie sind Ausdruck von etwas Erlebtem und Erlittenem und wir können gar nicht anders, als ihnen zustimmen – dazu verurteilt, die erste der zweiten und diese der folgenden zu opfern. Eben ihre Authentizität beweist, daß die Erfahrung, die jedes dieser Konzepte rechtfertigt, diese auch übersteigt. Wir müssen uns daher an die direkten Zeugnisse der dichterischen Erfahrung halten. Die Einheit der Dichtung kann nur durch den unmittelbaren Umgang mit dem Gedicht begriffen werden.
Aber wenn wir das Gedicht nach dem Wesen der Dichtung befragen, vermengen wir Dichtung und Gedicht dann nicht willkürlich miteinander? Schon Aristoteles sagte, „Homer und Empedokles haben außer der Metrik nichts gemeinsam; deshalb nennt man mit Recht den ersten einen Dichter und den zweiten einen Physiologen.“ Wir können dem nur zustimmen: nicht jedes Gedicht – genauer gesagt: nicht jedes nach den Gesetzen des Metrums verfaßte Werk – enthält Dichtung. Aber sind diese metrischen Werke echte Gedichte oder nur didaktische oder rhetorische Kunsterzeugnisse? Ein Sonett ist kein Gedicht, sondern eine literarische Form, es sei denn, dieser rhetorische Mechanismus – Strophen, Metren und Reime – wurde von der Dichtung beseelt. Es gibt Hilfsmittel zum Reimen, doch keine zum Dichten. Andererseits gibt es Dichtung ohne Gedichte; Landschaften, Personen und Begebenheiten sind oft poetisch: sie sind Dichtung, ohne Gedichte zu sein. Wenn die Dichtung sich als Kondensation des Zufalls oder als Kristallisation von Mächten und Umständen manifestiert, an denen der schöpferische Wille des Dichters unbeteiligt ist, haben wir es mit dem Dichterischen zu tun. Aber wenn der Dichter – passiv oder aktiv, wach oder schlafwandlerisch – der Leiter und Transformator des dichterischen Stroms ist, haben wir es mit etwas völlig anderem zu tun: mit einem Werk. Ein Gedicht ist ein Werk. Die Dichtung polarisiert sich, versammelt und isoliert sich in einem menschlichen Erzeugnis: im Bild, im Lied, in der Tragödie. Das Dichterische ist Dichtung in gestaltlosem Zustand; das Gedicht ist Schöpfung, ist Dichtung in Gestalt. Nur im Gedicht isoliert und offenbart sich die Dichtung ganz. Es ist also zulässig, das Gedicht nach dem Wesen der Dichtung zu befragen, wenn man aufhört, es als eine Form zu betrachten, die sich mit irgendeinem Inhalt füllen kann. Das Gedicht ist keine literarische Form, sondern der Ort der Begegnung zwischen der Dichtung und dem Menschen. Das Gedicht ist ein verbaler Organismus, der Dichtung enthält, hervorruft oder ausstrahlt. Form und Inhalt sind ein und dasselbe.
Sobald wir den Blick vom Dichterischen abwenden und ihn auf das Gedicht richten, überrascht uns die Vielfalt von Formen, die diese Wirklichkeit, die wir für einzigartig hielten, annimmt. Wie soll man die Dichtung begreifen, wenn sich jedes Gedicht als andersartig und irreduzibel erweist? Die Literaturwissenschaft trachtet danach, die schwindelerregende Vielfältigkeit des Gedichts auf Gattungen zu reduzieren. Auf Grund der Natur des Gedichts ist der Versuch doppelt untauglich. Wenn wir die Dichtung auf ein paar Formen reduzieren – epische, lyrische, dramatische −, was machen wir dann mit den Romanen, den Prosagedichten und diesen sonderbaren Büchern wie Aurelia, Les Chants de Maldoror oder Nadja? Wenn wir alle Ausnahmen und Zwischenformen – dekadente, wilde oder prophetische – berücksichtigen, wird aus der Klassifikation ein endloser Katalog. Alle verbalen Tätigkeiten, um den Bereich der Sprache nicht zu verlassen, können leicht ihr Vorzeichen wechseln und sich in ein Gedicht verwandeln: von der Interjektion bis zum logischen Diskurs. Aber dies ist nicht das einzige und auch nicht das größte Hindernis für das Klassifizieren der Rhetorik. Klassifizieren heißt nicht schon verstehen. Und noch weniger erfassen. Wie alle Klassifikationen sind die Nomenklaturen Arbeitswerkzeuge. Aber sie erweisen sich als unbrauchbar, wenn man sie für subtilere Arbeiten als die bloße äußerliche Einordnung benutzen will. Ein Großteil der Kritik besteht in nichts anderem als in dieser treuherzigen und mißbräuchlichen Anwendung der herkömmlichen Nomenklaturen.
Denselben Vorwurf kann man auch den anderen Disziplinen machen, deren sich die Kritik bedient, von der Stilistik bis zur Psychoanalyse. Die erstere will uns sagen, was ein Gedicht ist, indem sie die verbalen Eigentümlichkeiten des Dichters untersucht. Die letztere, indem sie seine Symbole deutet. Die stilistische Methode kann ebenso auf Mallarmé wie auf eine Sammlung von Kalendersprüchen angewandt werden. Das gleiche ist der Fall bei den Deutungen der Psychologen, bei den Biographien und anderen Studien, mit denen man versucht – was manchmal auch gelingt −, uns zu erklären, warum, wie und wozu ein Gedicht geschrieben wurde. Die Rhetorik, die Stilistik, die Soziologie, die Psychologie und die übrigen literarischen Disziplinen sind unentbehrlich, wenn wir ein Werk untersuchen wollen, doch sie können uns nichts über seine letzte Natur sagen.
Die Zersplitterung der Dichtung in tausend heterogene Formen könnte uns veranlassen, einen Idealtyp von Gedicht zu konstruieren. Das Ergebnis wäre ein Monstrum oder ein Phantom. Die Dichtung ist nicht die Summe aller Gedichte. Jede dichterische Schöpfung ist eine sich selbst genügende Einheit. Der Teil ist das Ganze. Jedes Gedicht ist einzigartig, irreduzibel und unwiederholbar. So ist man geneigt, der Meinung von Ortega y Gasset beizupflichten, daß nichts einen berechtigt, mit demselben Namen so verschiedene Dinge zu bezeichnen wie die Sonette von Quevedo, die Fabeln von La Fontaine und den Cántico espiritual von San Juan de la Cruz.
Diese Verschiedenartigkeit scheint uns, auf den ersten Blick, ein Produkt der Geschichte zu sein. Jede Sprache und jede Nation schaffen die Dichtung, die der Augenblick und der ihnen eigene Geist ihnen diktiert. Doch das geschichtliche Kriterium löst die Probleme nicht, sondern vermehrt sie noch. In jeder Periode und in jeder Gesellschaft herrscht die gleiche Mannigfaltigkeit: Nerval und Hugo sind Zeitgenossen, wie auch Velazquez und Rubens, Valéry und Apollinaire Zeitgenossen sind. Wenn wir, die Sprache mißbrauchend, denselben Namen für die Weden und die japanischen Haiku verwenden, ist es dann nicht auch eine Unsitte, ihn zu benutzen, um so verschiedene Erfahrungen zu bezeichnen wie die von San Juan de la Cruz und seinem indirekten profanen Vorbild: Garcilaso? Die historische Perspektive – Folge unserer zeitlichen Entfernung – führt uns dazu, an Antagonismen und Kontrasten reiche Landschaften zu nivellieren. Die Entfernung läßt uns die Unterschiede vergessen, die Sophokles von Euripides, Tirso de Molina von Lope de Vega trennen. Und diese Unterschiede sind nicht das Ergebnis geschichtlicher Veränderungen, sondern einer Wirklichkeit, die subtiler und unfaßbarer ist: der Mensch. Es könnte uns daher weniger die Geschichtswissenschaft als die Biographie den Schlüssel zum Verständnis des Gedichts liefern. Doch da stoßen wir auf ein neues Hindernis: innerhalb des Gesamtwerks eines jeden Dichters ist jedes einzelne Werk ebenfalls einzigartig, steht für sich allein, ist irreduzibel. La Galatea oder El viaje del Parnaso (Die Reise zum Parnaß) erklären nicht Don Quijote de La Mancha; lphigenie ist etwas wesentlich anderes als der Faust; Fuenteovejuna etwas wesentlich anderes als La Dorotea. Jedes Werk hat ein Eigenleben und die Eklogen sind nicht die Äneis. Manchmal negiert ein Werk ein anderes: das Préface zu den nie veröffentlichten „Poesies“ von Lautreamont macht uns die Chants de Maldoror zweideutig; Une saison en enfer erklärt die Wortalchemie der Illuminations für verrückt. Die Geschichte und die Biographie können uns den Grundton einer Periode oder eines Lebens angeben, die Grenzen eines Werks umreißen und von außen die Konfiguration eines Stils beschreiben; auch sind sie imstande, uns die allgemeine Bedeutung einer Richtung klarzumachen und sogar das Warum und das Wie eines Gedichts zu ergründen. Aber sie können uns nicht sagen, was ein Gedicht ist. Das einzige allen Gedichten gemeinsame Merkmal besteht darin, daß sie Werke sind, menschliche Erzeugnisse wie die Bilder der Maler und die Stühle der Schreiner. Aber die Gedichte sind Werke ganz besonderer Art: es gibt zwischen ihnen nicht dieses Filiationsverhältnis, das ganz offenkundig bei den Geräten gegeben ist. Technik und Schöpfung, Werkzeug und Gedicht sind verschiedene Wirklichkeiten. Technik ist ein Verfahren und taugt in dem Maße, wie es effizient ist, das heißt in dem Maße, wie es ein Verfahren ist, das sich wiederholt anwenden läßt: es verliert seinen Wert, sobald ein neues Verfahren aufkommt. Technik ist Wiederholung, die sich vervollkommnet oder veraltet; sie ist Erbe und Wandel: das Gewehr tritt an die Stelle des Bogens. Die Äneis ersetzt nicht die Odyssee. Jedes Gedicht ist ein einzigartiger Gegenstand, geschaffen mittels einer „Technik“, die im Augenblick der Schöpfung ausgedient hat. Die „dichterische Technik“ ist nicht übertragbar, weil sie nicht in Rezepten besteht, sondern in Inventionen, die allein ihrem Urheber von Nutzen sind. Es ist wahr, daß der Stil – verstanden als Gestaltungsweise, die einer Gruppe von Künstlern oder einer Epoche eigen ist – an Technik grenzt, sowohl als Erbe und Wandel als auch als kollektives Verfahren. Der Stil ist Ausgangspunkt jedes schöpferischen Unternehmens; und eben deshalb trachtet jeder Künstler danach, diesen kollektiven oder geschichtlichen Stil zu überwinden. Wenn ein Dichter einen Stil, eine Manier annimmt, hört er auf, Dichter zu sein, und wird zum Hersteller literarischer Artefakte. Góngora einen barocken Dichter zu nennen mag vom Gesichtspunkt der Literaturgeschichte aus richtig sein, doch nicht, wenn man in seine Dichtung eindringen will, die immer etwas mehr ist. Gewiß sind die Gedichte des Korduaners das höchste Beispiel des barocken Stils, aber man darf nicht vergessen, daß die charakteristischen Ausdrucksformen Góngoras – was wir heute seinen Stil nennen – anfangs Inventionen waren, neue verbale Schöpfungen, und daß daraus erst später Verfahren, Usancen, Rezepte wurden. Der Dichter benutzt, adaptiert oder imitiert den allen gemeinsamen Fundus seiner Epoche – das heißt den Stil seiner Zeit −, aber er verwandelt alle diese Materialien und schafft ein einzigartiges Werk. Die besten Bilder Góngoras – wie Damaso Alonso aufgezeigt hat – verdanken sich gerade der Fähigkeit des Dichters, die literarische Sprache seiner Vorgänger und Zeitgenossen zu verwandeln. Manchmal freilich erliegt der Dichter dem Stil. (Ein Stil, der nie der seine ist, sondern der seiner Zeit; der Dichter hat keinen Stil.) Das mißglückte Bild wird dann Gemeingut, wird zur Beute künftiger Historiker und Philologen. Mit diesen und ähnlichen Steinen werden die Gebäude errichtet, die die Geschichtswissenschaft künstlerische Stile nennt.
Ich will die Existenz der Stile nicht leugnen. Auch behaupte ich nicht, daß der Künstler aus dem Nichts schaffe. Wie alle Dichter stützt sich Góngora auf eine Sprache. Diese Sprache war präziser und radikaler als die gesprochene Sprache: sie war eine literarische Sprache, ein Stil. Aber der Dichter aus Cordoba geht über diese Sprache hinaus. Besser gesagt: er löst sie in unwiederholbare dichterische Akte auf: Bilder, Farben, Rhythmen, Visionen: Gedichte. Góngora überschreitet den barocken Stil; Garcilaso den toskanischen; Ruben Dario den modernistischen. Der Dichter nährt sich von Stilen. Ohne sie gäbe es keine Gedichte. Aber die Stile entstehen, gedeihen und vergehen. Die Gedichte bleiben, und ein jedes ist eine sich selbst genügende Einheit, ein Unikat, das es nicht noch einmal geben wird.
Den Charakter der Unwiederholbarkeit und Einzigartigkeit hat das Gedicht mit anderen Werken gemeinsam: mit Bildern, Skulpturen, Sonaten, Tänzen, Monumenten. Auf sie alle ist die Unterscheidung zwischen Gedicht und Gerät, Stil und Schöpfung anwendbar. Für Aristoteles sind die Malerei, die Skulptur, die Musik und der Tanz geradeso dichterische Formen wie die Tragödie und die Epik. Daher führt er, als er von der Abwesenheit moralischer Charaktere in der Dichtung seiner Zeitgenossen spricht, als Beispiel für diesen Mangel den Maler Zeuxis an und nicht einen Tragödiendichter. Tatsächlich gibt es, trotz der Unterschiede, die ein Bild von einer Hymne, eine Symphonie von einer Tragödie trennen, in jedem von ihnen ein schöpferisches Element, wodurch sie sich in derselben Welt bewegen. Ein Gemälde, eine Skulptur, ein Tanz sind in ihrer Art Gedichte. Und ihre Wesensart ist nicht sehr verschieden von der des aus Worten geschaffenen Gedichts. Die Verschiedenartigkeit der Künste verhindert nicht ihre Einheit. Sie unterstreicht sie eher noch.

Die Unterschiede zwischen Wort, Ton und Farbe haben einige an der wesentlichen Einheit der Künste zweifeln lassen. Das Gedicht, sagen sie, besteht aus Worten, mehrdeutigen Wirklichkeiten, die, wenn sie Farbe und Ton sind, auch Bedeutung sind; das Bild und die Sonate bestehen aus einfacheren Elementen: Formen, Noten und Farben, die an sich nichts bedeuten. Die bildenden Künste und die Tonkunst gehen von der Nicht-Bedeutung aus; das Gedicht, ein amphibischer Organismus, geht vom Wort, dem Bedeutenden aus. Diese Unterscheidung erscheint mir eher spitzfindig denn wahr. Auch Farben und Töne besitzen Bedeutung. Nicht von ungefähr sprechen die Kritiker von bildnerischen und musikalischen Sprachen. Und bevor diese Ausdrücke von den Fachleuten benutzt wurden, kannte und gebrauchte das Volk die Sprache der Farben, der Töne und der Zeichen. Es erübrigt sich, an die Insignien, Embleme, Signale, Gebärden und andere Formen nicht-verbaler Kommunikation, die manche Gruppen gebrauchen, zu erinnern. Bei allen ist die Bedeutung von ihren bildnerischen oder klanglichen Eigenschaften untrennbar.
In vielen Fällen besitzen Farben und Töne eine größere evokative Kraft als die Sprache. Bei den Azteken wurde die schwarze Farbe in Verbindung gebracht mit Dunkelheit, Kälte, Dürre, Krieg und Tod. Auch bezog sie sich auf bestimmte Götter: Tezcatlipoca, Mixcóatl; auf einen Raum: den Norden; auf eine Zeit: Técpatl; auf den Feuerstein, den Mond, den Adler. Etwas in Schwarz malen hieß soviel wie auf alle diese Verkörperungen anspielen oder sie anrufen. Jede der vier Farben bedeutete einen Raum, eine Zeit, verschiedene Götter oder Gestirne und ein Schicksal. Man wurde unter dem Zeichen einer Farbe geboren, so wie die Katholiken unter dem Schutz eines Heiligen geboren werden. Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen: die duale Funktion des Rhythmus in der alten chinesischen Kultur. Wann immer man die Begriffe Yin und Yang – die beiden alternierenden Rhythmen, die das Tao ausmachen – zu erklären versucht, bedient man sich musikalischer Begriffe. Als rhythmische Auffassung des Kosmos ist das Paar Yin und Yang Philosophie und Religion, Tanz und Musik: bedeutungsträchtige rhythmische Bewegung. So auch ist der Gebrauch von Ausdrücken wie Harmonie, Rhythmus oder Kontrapunkt, um menschliche Tätigkeiten zu bezeichnen, kein Mißbrauch der Bildersprache, sondern Anspielung auf das Bedeutungsvermögen des Tons. Jeder benutzt diese Ausdrücke, ist sich dabei bewußt, daß sie Bedeutung, eine vage Intentionalität besitzen. Es gibt weder Farben noch Töne an sich, das heißt ohne Bedeutung: von der Hand des Menschen berührt, ändert sich ihre Natur, und sie gehen in die Welt der Werke ein. Und alle Werke münden in die Bedeutung; was der Mensch berührt, färbt sich mit Intentionalität: ist ausgerichtet… Die Welt des Menschen ist die Welt der Bedeutung. Sie duldet die Zweideutigkeit, den Widerspruch, die Verrücktheit oder die Verwirrung, nicht jedoch den Mangel an Bedeutung. Noch das Schweigen ist von Zeichen erfüllt. So entsprechen die Gliederung der Gebäude und ihre Proportionen einer bestimmten Absicht. Der vertikale Schwung der Gotik, die unter Spannung stehende Ausgewogenheit des griechischen Tempels, die Rundung des buddhistischen Stupa oder die erotische Vegetation, die die Wände der Tempel von Orissa bedeckt, sie alle ermangeln nicht der Bedeutung – eher könnte man das Gegenteil sagen. Alles ist Sprache.
Die Unterschiede zwischen der gesprochenen oder geschriebenen Sprache und den anderen – bildnerischen oder musikalischen – Ausdrucksmitteln sind beträchtlich, doch sind sie so groß auch wieder nicht, daß sie uns vergessen ließen, daß sie alle ihrem Wesen nach Sprache sind: Ausdrucksmittel mit einem Bedeutungsvermögen und der Fälligkeit der Kommunikation. Maler, Musiker, Architekten, Bildhauer und andere Künstler benutzen als Materialien keine Elemente, die sich von denen, die der Dichter gebraucht, wesentlich unterscheiden. Ihre Sprachen sind verschiedene, aber sie sind Sprache. Und es ist leichter, die aztekischen Gedichte in ihre architektonischen und plastischen Äquivalente zu übertragen als ins Spanische. Die tantrischen Texte oder die erotische Kavya-Dichtung sprechen die gleiche Sprache wie die Skulpturen von Konarak. Die Sprache des Primero sueño von Sor Juana unterscheidet sich kaum von der des Sagrario Metropolitano in Mexico-Stadt. Und die surrealistische Malerei ist der Dichtung dieser Bewegung näher als der kubistischen Malerei.
Wenn man behauptet, daß es unmöglich ist, sich dem Sinn zu entziehen, heißt das, alle Werke – künstlerische oder technische – in die nivellierende Welt der Geschichte einsperren. Wie einen Sinn finden, der nicht geschichtlich ist? Weder durch ihre Materialien noch durch ihre Bedeutungen übersteigen die Werke den Menschen. Sie alle sind auf einen konkreten Menschen ausgerichtet, der seinerseits nur Bedeutung erlangt innerhalb eines bestimmten Abschnitts der Geschichte. Moral, Philosophie, Sitten, Künste, kurz all das, was Ausdruck einer bestimmten Periode ist, hat an dem teil, was wir Stil nennen. Jeder Stil ist geschichtlich und alle Erzeugnisse einer Epoche, von ihren einfachsten Geräten bis zu ihren neutralsten Werken, sind gesättigt von Geschichte, das heißt von Stil. Aber diese Affinitäten und Verwandtschaften verdecken spezifische Unterschiede. Innerhalb eines Stils kann man entdecken, was ein Gedicht von einem Traktat in Versen, ein Bild von einer Schautafel, eine Skulptur von einem Möbel trennt. Dieses distinktive Element ist die Dichtung. Nur sie kann uns den Unterschied zwischen Schöpfung und Stil, Kunstwerk und Gerät zeigen.
Gleich welche Tätigkeit oder welchen Beruf der Mensch ausübt, als Künstler oder Handwerker verwandelt er den Rohstoff: Farben, Steine, Metalle, Wörter. Die Verwandlung besteht darin, daß die Materialien die blinde Welt der Natur verlassen und in die Welt der Werke, das heißt in die der Bedeutungen eintreten. Was geschieht in diesem Fall mit der Materie Stein, die vom Menschen gleichermaßen benutzt wird, um eine Statue zu meißeln und eine Treppe zu bauen? Obgleich der Stein der Statue sich von dem der Treppe nicht unterscheidet und beide auf ein und dasselbe Bedeutungssystem Bezug haben (zum Beispiel: beide sind Teil einer mittelalterlichen Kirche), ist die Verwandlung, die der Stein in der Skulptur erfuhr, von anderer Art als jene, die aus ihm eine Treppe machte. Das Schicksal, das die Sprache bei Prosaschriftstellern und bei Dichtern erfährt, kann uns die Bedeutung dieses Unterschieds ahnen lassen.
Die höchste Form der Prosa ist der Diskurs, im strengsten Sinn des Wortes. Im Diskurs trachten die Worte danach, Eindeutigkeit zu erlangen. Diese Arbeit impliziert Reflexion und Analyse. Gleichzeitig schließt sie ein unerreichbares Ideal ein, da das Wort sich weigert, reiner Begriff, eine einzige Bedeutung zu sein. Jedes Wort besitzt von seinen physischen Eigenschaften abgesehen – eine Vielfalt von Bedeutungen. So ist die Tätigkeit des Prosaisten wider die Natur des Wortes. Es ist daher nicht anzunehmen, daß Molières Jourdain in Prosa spricht, ohne es zu wissen. Alfonso Reyes weist darauf hin, daß man nicht in Prosa sprechen kann, ohne sich dessen, was man sagt, voll bewußt zu sein. Man kann anfügen, daß Prosa nicht gesprochen wird: sie wird geschrieben. Die gesprochene Sprache ist der Dichtung näher als der Prosa; sie ist weniger reflexiv und natürlicher, und deshalb ist es leichter, Dichter zu sein, ohne es zu wissen, als Prosaist. In der Prosa trachtet das Wort danach, sich mit einer seiner möglichen Bedeutungen zu identifizieren, auf Kosten der anderen: das Brot ist Brot und der Wein ist Wein. Dieses Verfahren ist analytischer Art und es geht dabei nicht ohne Gewalt ab, da das Wort mehrere latente Bedeutungen besitzt, gewissermaßen eine Potentialität von Bedeutungslichtungen ist. Der Dichter dagegen tastet die Mehrdeutigkeit des Wortes nie an. Im Gedicht erlangt die Sprache ihre ursprüngliche Natur wieder, die durch die Reduktion, die sie durch die Prosa und Alltagssprache erfährt, verstümmelt wurde. Die Rückgewinnung ihrer Natur ist eine vollständige und betrifft die klanglichen und bildlichen Werte ebenso wie die Bedeutungen. Das Wort, schließlich in Freiheit, zeigt seinen ganzen Gehalt, alle seine Bedeutungen und Anspielungen, wie eine reife, platzende Frucht oder wie ein Feuerwerkskörper in dem Augenblick, da er am Himmel explodiert. Der Dichter setzt seine Materie in Freiheit. Der Prosaist sperrt sie ein.
Das gleiche läßt sich sagen von den Formen, Tönen und Farben. Der Stein triumphiert in der Skulptur, wird erniedrigt in der Treppe, Die Farbe prangt im Bild; die Bewegung des Körpers im Tanz. Die Materie, im Gerät besiegt oder deformiert, erlangt ihren Glanz im Kunstwerk wieder. Das dichterische Verfahren steht im Gegensatz zur technischen Manipulation. Beim ersteren gewinnt die Materie ihre Natur zurück: die Farbe ist mehr Farbe, der Ton ist ganz Ton. Im dichterischen Schaffen gibt es keinen Sieg über die Materie oder über die Werkzeuge, wie eine eitle Ästhetik von Handwerkern das will, sondern die Materie wird in Freiheit gesetzt. Worte, Töne, Farben und andere Materialien erfahren, sobald sie in den Bereich der Dichtung gelangen, eine Verwandlung. Ohne aufzuhören, Instrumente der Bedeutung und Kommunikation zu sein, werden sie „etwas anderes“. Diese Verwandlung besteht im Gegensatz zu dem, was in der Technik geschieht – nicht darin, daß sie ihre ursprüngliche Natur verlieren, sondern daß sie zu ihr zurückkehren. „Etwas anderes“ sein heißt „dasselbe“ sein: die Sache selbst, jenes, was sie wirklich und ursprünglich sind.
Andererseits sind der Stein der Statue, das Rot des Bildes, das Wort des Gedichts nicht bloß Stein, Farbe, Wort: sie verkörpern etwas, das sie transzendiert und das über sie hinausgeht. Ohne ihre primären Werte, ihr ursprüngliches Gewicht zu verlieren, sind sie auch so etwas wie Brücken, die uns ans andere Ufer führen, Türen, die sich auf eine andere Welt von Bedeutungen hin öffnen, die die Sprache allein nicht auszudrücken vermag. Als ambivalente Wirklichkeit ist das dichterische Wort ganz das, was es ist – Rhythmus, Farbe, Bedeutung −, und zugleich etwas anderes: Bild. Die Dichtung verwandelt den Stein, die Farbe, das Wort und den Ton in Bilder. Und dieses letztere Merkmal, nämlich daß sie Bilder sind, sowie ihre sonderbare Fähigkeit, beim Hörer oder Betrachter Konstellationen von Bildern hervorzurufen, macht alle Kunstwerke zu Gedichten.
Nichts hindert uns daran, die Werke der bildenden Künste und der Tonkunst als Gedichte zu betrachten, vorausgesetzt, daß sie die beiden genannten Merkmale haben: einerseits, daß ihre Materialien zu dem zurückkehren, was sie sind – leuchtende oder opake Materie −, und sich so der Welt der Nutzbarkeit verweigern; andererseits, daß sie sich in Bilder verwandeln und so eine besondere Form der Kommunikation werden. Ohne aufzuhören, Sprache zu sein – Sinn und Vermittlung des Sinns −, ist das Gedichtet etwas das jenseits der Sprache ist. Aber das, was jenseits der Sprache ist, kann man nur durch die Sprache erreichen. Ein Gemälde ist dann ein Gedicht, wenn es mehr ist als malerische Sprache. Piero della Francesca, Masaccio, Leonardo da Vinci oder Ucello verdienen und erlauben keine andere Bezeichnung als die des Dichters. Bei ihnen mündet die Auseinandersetzung mit den Ausdrucksmitteln der Malerei, das heißt mit der malerischen Sprache, in Werke, die über ebendiese Sprache hinausgehen. Die Errungenschaften Masaccios und Ucellos wurden von ihren Erben genutzt, aber ihre Werke sind mehr als diese technischen Entdeckungen: sie sind Bilder, unwiederholbare Gedichte. Ein großer Maler sein heißt ein großer Dichter sein: jemand, der die Grenzen seiner Sprache überschreitet.
Kurz, der Künstler bedient sich nicht seiner Mittel – Stein, Ton, Farbe oder Wort – wie der Handwerker, sondern er setzt sie ein, damit sie ihre ursprüngliche Natur wiedererlangen. Als Diener der Sprache, welcher auch immer, überschreitet er sie. Dieses paradoxe und widersprüchliche Verfahren – es soll weiter unten untersucht werden – erzeugt das Bild. Der Künstler ist Schöpfer von Bildern: er ist Dichter. Und dank der Tatsache, daß sie Bilder sind, können wir den Cántico espiritual und die wedischen Hymnen, das Haiku und die Sonette von Quevedo Gedichte nennen. Ihre Bildlichkeit führt die Worte dazu, ohne aufzuhören, sie selber zu sein, die Sprache als ein mit geschichtlichen Bedeutungen versehenes System zu überschreiten. Das Gedicht, ohne aufzuhören, Wort und Geschichte zu sein, überschreitet den Bereich der Geschichte. Vorbehaltlich einer eingehenden Untersuchung, worin dieses Überschreiten der Geschichte besteht, kann man den Schluß ziehen, daß die Vielfalt der Gedichte die Einheit der Dichtung nicht negiert, sondern bestätigt.

Jedes Gedicht ist einzigartig. In jedem Werk pulst, mehr oder weniger stark, die ganze Dichtung. Deshalb wird uns die Lektüre eines einzigen Gedichts unzweifelhafter als eine geschichtliche oder philosophische Untersuchung enthüllen, was Dichtung ist. Aber die Erfahrung des Gedichts – seine Wiedererschaffung durch die Lektüre oder die Rezitation – ist ebenfalls von verblüffender Vielfalt und Heterogenität. Fast immer erweist sich die Lektüre als Enthüllung von etwas, das mit Dichtung im eigentlichen Sinne nichts zu tun hat. Die wenigen Zeitgenossen von San Juan de la Cruz, die seine Gedichte lasen, schenkten ihrem exemplarischen Wert mehr Aufmerksamkeit als ihrer faszinierenden Schönheit. Viele Stellen, die wir bei Quevedo bewundern, ließen die Leser des 17. Jahrhunderts kalt, während andere Dinge, die uns abstoßen oder langweilen, für sie den Zauber des Werks ausmachten. Nur wenn wir unser Geschichtsverständnis bemühen, bekommen wir eine Ahnung von der dichterischen Funktion der geschichtlichen Aufzählungen in den Coplas von Manrique. Dagegen berühren uns, vielleicht tiefer als seine Zeitgenossen, die Anspielungen auf seine Zeit und die unmittelbare Vergangenheit. Aber nicht nur die Geschichte läßt uns ein und denselben Text mit verschiedenen Augen lesen. Für einige ist das Gedicht die Erfahrung des Verlassenseins; für andere der Härte. Junge Leute lesen Gedichte, um ihre Gefühle besser auszudrücken oder kennenzulernen, so als könnten nur im Gedicht die unklaren, von ihnen nur erahnten Züge der Liebe, des Heroismus oder der Sinnlichkeit deutlich wahrgenommen werden. Jeder Leser sucht etwas im Gedicht. Und es ist nicht sonderbar, daß er es findet: er trug es bereits in sich.
Es ist durchaus möglich, daß der Leser nach diesem ersten trügerischen Kontakt ins Zentrum des Gedichts gelangt. Stellen wir uns diese Begegnung vor. In der Wechselhaftigkeit unserer Leidenschaften und Beschäftigungen (so gespalten wie wir selbst, immer ich und mein Doppelgänger und der Doppelgänger meines anderen Ich) gibt es einen Augenblick, in dem alles miteinander paktiert. Die Gegensätze verschwinden nicht, aber sie verschmelzen für einen Augenblick. Es ist dies gleichsam ein Schwebezustand des Geistes und der Seele: die Zeit ist ohne Gewicht. Die Upanischaden lehren, daß diese Versöhnung „ananda“ oder Lust am Einen ist. Gewiß, wenige sind fähig, einen solchen Zustand zu erreichen. Aber wir alle haben einmal, sei’s für den Bruchteil einer Sekunde, etwas Ähnliches empfunden. Man muß kein Mystiker sein, um diese Gewißheit zu streifen. Wir alle sind Kinder gewesen. Wir alle haben geliebt. Die Liebe ist ein Zustand der Vereinigung und Teilnahme, den alle Menschen erreichen können: Im Liebesakt ist das Bewußtsein gleichsam die Woge, die nach Überwindung des Hindernisses und bevor sie ausläuft zu einer Fülle sich erhebt, in der alles – Form und Bewegung, Auftrieb und Schwerkraft – ein ungestütztes, sich selbst tragendes Gleichgewicht erreicht. Ruhe der Bewegung. Und so wie wir durch einen geliebten Körper ein volleres Leben schauen, das mehr Leben ist als das Leben, schauen wir durch das Gedicht das stille Licht der Dichtung. Dieser Augenblick enthält alle Augenblicke. Ohne aufzuhören zu fließen, steht die Zeit, von sich selbst erfüllt, still.
Dank dem Gedicht als einem magnetischen Gegenstand, als dem geheimen Ort der Begegnung entgegengesetzter Kräfte, können wir zur dichterischen Erfahrung gelangen. Das Gedicht ist eine Möglichkeit, die allen Menschen offensteht, gleich welches Temperament, welchen Geist, welche Veranlagung er besitzt. Jedoch ist das Gedicht nur dies: Möglichkeit, etwas, das nur im Kontakt mit einem Leser oder einem Zuhörer lebt. Es gibt ein Merkmal, das allen Gedichten gemeinsam ist und ohne das sie nie Dichtung wären: die Teilnahme. Jedesmal, wenn der Leser das Gedicht wirklich wiederbelebt, erreicht er einen Zustand, den wir dichterisch nennen können. Die Erfahrung kann diese oder jene Form annehmen, aber immer ist es ein Über-sich-Hinausgehen, ein Durchbrechen der Zeitmauer, um ein anderer zu sein. Wie das dichterische Schaffen ereignet sich die Erfahrung des Gedichts in der Geschichte; sie ist geschichtlich, und zugleich negiert sie die Geschichte. Der Leser kämpft und stirbt mit Hektor, zweifelt und tötet mit Arjuna, erkennt mit Odysseus die heimatlichen Felsen wieder. Er lebt ein Bild neu, negiert den Zeitablauf, kehrt zum Ursprung der Zeit zurück. Das Gedicht ist Vermittlung: dank ihr verkörpert sich die Ur-Zeit, die Mutter aller Zeiten, in einem Augenblick. Die zeitliche Abfolge wird reine Gegenwart, Quelle, die sich selbst nährt und den Menschen verwandelt. Die Lektüre des Gedichts hat mit dem dichterischen Schaffen große Ähnlichkeit, Der Dichter schafft Bilder, Gedichte; und das Gedicht macht aus dem Leser Bild, Dichtung.

Die drei Teile dieses Buches wollen auf die folgenden Fragen antworten: Gibt es ein dichterisches Sagen – das Gedicht −, das auf kein anderes Sagen reduzierbar ist? Was sagen die Gedichte? Wie teilt sich das dichterische Sagen mit? Es ist vielleicht nicht unnütz, zu wiederholen, daß nichts von dem, was hier festgestellt wird, als bloße Theorie oder Spekulation betrachtet werden muß, da es das Zeugnis der Begegnung mit einigen Gedichten ist. Obgleich es sich um eine mehr oder weniger systematische Ausarbeitung handelt, kann das natürliche Mißtrauen, das diese Art von Konstruktionen weckt, zu Recht beschwichtigt werden. Es ist wahr, daß sich in jeden Versuch, die Dichtung zu verstehen, Reste einschmuggeln, die mit ihr nichts zu tun haben – philosophische, moralische und andere −, man wird jedoch zugeben, daß der fragwürdige Charakter jeder Poetik so gut wie aufgehoben wird, wenn man sich auf die Entdeckung stützt, die uns manchmal, während einiger Stunden, ein Gedicht zu machen vergönnt. Und auch wenn wir jene Worte vergessen haben, wenn selbst ihr Geschmack und ihre Bedeutung verschwunden sind, lebt in uns doch die Erinnerung fort an einige randvolle Minuten, die überflutende Zeit waren, Hochflut, die die Deiche der zeitlichen Abfolge brachen. Denn das Gedicht ist Zugang zur reinen Zeit, Eintauchen in die Urwasser des Lebens. Die Dichtung ist nichts als Zeit, ständig schöpferischer Rhythmus.

 

 

 

„Dichtung ist Erkenntnis,

Rettung, Macht, Verlassenheit. Als ein Verfahren, das die Welt zu verändern vermag, ist die dichterische Tätigkeit ihrem Wesen nach revolutionär; als geistige Übung ist sie eine Methode zur inneren Befreiung.“
Bereits in den ersten beiden Sätzen dieses vor knapp dreißig Jahren entstandenen poetologischen Essays formuliert Octavio Paz programmatisch seine Suche nach den Wurzeln der Poesie und ihre Bedeutung für den Menschen. Gegenstand seiner Analyse sind drei zentrale Themen: Das Gedicht – die dichterische Offenbarung – Dichtung und Geschichte. Seine Überlegungen zum ,Phänomen Dichtung‘ gründen zu einem großen Teil auf persönlichen Erfahrungen, die Paz in den historischen Kontext von der Antike bis zur Moderne stellt.
Er fragt, ob es ein dichterisches Sagen – das Gedicht – gibt, das auf kein anderes Sagen reduzierbar ist, und analysiert, um das Wesen des Gedichtes greifbar zu machen, seine Komponenten Sprache, Rhythmus und Bild. Jegliche Dichtung entsteht und vermittelt sich in einem spezifischen historischen und gesellschaftlichen Kontext. Seine These, die Dichtkunst heilige den Augenblick und mache den historischen Verlauf zum Archetyp, veranschaulicht Octavio Paz anhand von Beispielen der Konsekration der Geschichte durch die Poesie: dem griechischen Theater, dem Roman und der Lyrik der Moderne. Letztere ist ihm besonders wichtig, da sie der Versuch des Wortes ist, Leben zu verkörpern.
Schließlich widmet sich Paz dem Abenteuer der modernen Dichtung und den Ursachen ihres historischen Scheitern. Gedichte sind Produkte der Geschichte und einer Gesellschaft, aber ihr geschichtliches Sein ist widersprüchlich. „Das Gedicht ist eine Maschine, die – ohne daß der Dichter es sich vornähme – Anti-Geschichte produziert“. (O. Paz)
Dennoch hat die Dichtung eine Funktion in unserer Zeit, die Paz aus der Perspektive der Kunst als ,post-modern‘ und vom politischen, ideologischen oder moralischen Gesichtspunkt her als ,post-ideologisch‘ definiert hat: „Zeichen ist Rotation“. Die moderne Dichtkunst des Okzidenz bildet trotz der nationalen, sprachlichen und kulturellen Unterschiede eine Einheit. Ihren Ursprung setzt er mit den Dichtern der englischen und deutschen Romantik an: Blake, Novalis, Hölderlin. Darauf folgt die Metamorphose durch den französischen Symbolismus – Baudelaire – und hispano-amerikanischen Modernismus. Höhepunkt und Ende bilden die Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Die Kunst entfaltet sich seit den Romantikern unter dem Zeichen des Bruchs, in unserer Zeit wird sie zu einer Kunst der Konvergenz: Schnittpunkt von Räumen, Zeiten und Formen. „Jetzt entdecken wir, was die Menschen der Antike gewußt haben: Geschichte ist eine unbeschriebene Gegenwart, ein verschwommenes Antlitz. Der Dichter muß diesem Gesicht wieder menschliche Züge verleihen.“ (O. Paz)

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1990

 

Zweiter Kreis – Ein neuer Anfang 1944–1958

3. Zurück in Mexiko, wo die Sonne aufgeht

1952 sieht sich der Diplomat Octavio Paz gezwungen, Paris zu verlassen und das Jahr in Neu Delhi, Tokio und Genf zu verbringen. Danach kehrt er – nach neunjähriger Abwesenheit – nach Mexiko zurück und bleibt dort bis 1958. Zwischen Paris und Mexiko also ein Jahr in Japan und Indien: Und die Faszination des Ostens bestätigt sich.
Von Januar bis Mai 1952 ist er in Indien. Dort schreibt er das Gedicht „Mutra“, das er in den Band La estación violenta (Die stürmische Jahreszeit) aufnimmt. Darin zeigt er auch sein emotionales Verhältnis zum Genius loci. In dem Gedicht bemächtigt sich ein glühendheißer Sommer mit der Macht einer absoluten Gottheit des Menschen:

Wie eine allzu liebevolle, eine furchtbare Mutter,
aaadie erstickt,
wie eine Löwin, still und sonnengleich,
wie eine einzige Welle, meeresgroß,
einfach da, ohne Laut, und läßt sich nieder
aaawie ein König, in jedem von uns,
und die gläsernen Tage schmelzen dahin, und in jeder Brust
aaaein Thron, errichtet aus Dornen und Glut,
und das Reich ein feierliches Schlucken, ein zermalmtes
aaaAtmen von Göttern und Tieren mit weitoffnen Augen
und Mündern voll heißer Insekten, die Tag und Nacht
aaadieselbe Silbe formen, Tag und Nacht.
Sommer, unendlicher Mund, Vokal aus Keuchen und
aaaDampf!
(…)

Seine Beziehung zu Indien wurde mit der Zeit immer tiefer und prägte zehn Jahre später einen wichtigen Abschnitt seines Lebens. Doch Mitte 1952 wurde Paz erst einmal von Neu Delhi nach Japan versetzt, wo er sieben Monate blieb. In Tokio schreibt er, ebenfalls in Prosaversen, das Gedicht „Gibt’s keinen Ausweg?“ („¿No hay salida?“), das er in denselben Band aufnimmt. Wie das vorherige ist es ein höchst dramatisches Gedicht. In seinem Verlauf entschwindet die Identität der Hauptperson. Eine radikale Andersheit treibt sie aus sich selbst hinaus, zieht sie an, läßt sie sich anschauen, sich sehen. Das Thema der essentiellen Entwurzelung schwebt, wie ein fernes Echo von Alfonso Reyes’ dramatischer Dichtung I figenia cruel, zwischen den Zeilen:

(…)
dieser Augenblick bin ich, plötzlich bin ich aus mir
aaaherausgegangen, ich habe keinen Namen, kein Gesicht,
Ich ist hier, hingestreckt zu meinen Füßen, mich sich
aaabetrachtend, wie ich betrachtet mich betrachte.

Draußen, in den Gärten, die der Sommer verheerte,
aaawütet eine Zikade gegen die Nacht.
Bin ich oder war ich hier?

So offenbarte sich ihm auf recht heftige Weise der Ferne Osten, der mit der Zeit eine immer tiefere Spur in seinem Werk hinterlassen sollte. Und die Verlockung, die er bereits bei seiner frühen Lektüre von José Juan Tablada verspürte, der das Haiku in die mexikanische Literatur eingeführt hatte, wurde durch seinen etwas mehr als sechsmonatigen Japan-Aufenthalt noch stärker. Diese Anziehungskraft, die die japanische Kultur auf ihn ausübte, führte unter anderem dazu, daß Paz 1955 zusammen mit einem japanischen Freund die Gedichte und Reisebeschreibungen des Matsuo Bashô erstmals in eine westliche Sprache übertrug (Sendas de Oku). Fünfzehn Jahre später, anläßlich einer Neuauflage dieser Übersetzung, versuchte Octavio Paz zu erläutern, was ihn an Japan so faszinierte, und er stellte es in einen Zusammenhang mit dem, was er die Geschichte der Leidenschaft des Westens für den Osten nennt. Er unterscheidet dabei zwei jüngere Perioden: eine, die im vergangenen Jahrhundert in Europa begann und in den angloamerikanischen Dichtern des „Imagismus“ ihren Höhepunkt fand; und eine andere, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA begann und noch andauert. Die erste, sagt der übersetzende Dichter, ist vor allem ästhetisch und beeinflußte die Literatur von Pound, Yeats, Claudel, Eluard mindestens ebenso stark wie die Malerei, zum Beispiel die der Impressionisten.

In der zweiten Periode war die Tonalität weniger ästhetisch, sie war spiritueller oder geistiger; will sagen: es begeistern uns nicht nur die künstlerischen Ausdrucksformen Japans, sondern auch die religiösen, philosophischen oder intellektuellen Strömungen. Die japanische Ästhetik – besser gesagt: der Fächer von Anschauungen und Stilen, den uns diese künstlerische und poetische Tradition bietet – hat nicht aufgehört, unsere Neugier zu wecken und ihren Reiz auf uns auszuüben, doch ist unsere Perspektive eine andere als die der früheren Generationen. Obgleich alle Künste, von der Poesie bis zur Musik und von der Malerei bis zur Architektur, aus dieser neuen Art und Weise, sich der japanischen Kultur zu nähern, Nutzen gezogen haben, glaube ich, daß das, was wir alle in ihr suchen, ein anderer Lebensstil ist, eine andere Sicht der Welt und auch des Jenseits.

Octavio Paz knüpfte immer vielfältigere Verbindungen zum Osten. Die reizvolle strenge Form des japanischen Kurzgedichts Haiku entfaltete sich in seiner Lyrik und half mit ihrer Beschränkung bei der Eindämmung des, wie Paz es ausdrückt, „überbordenden Surrealismus“. Ferner schrieb er verschiedene Artikel über die Kunst und Literatur Japans. In seinem Interview mit Masao Yamaguchi (abgedruckt in Pasión crítica) erklärte er:

In der japanischen Tradition bin ich zunächst auf die Vorstellung von der Konzentration gestoßen; dann auf die Vorstellung des Unvollendeten, der Unvollkommenheit. Etwas wegzulassen, nicht alles zu Ende zu führen… Ein japanisches Gedicht sagt mit sehr wenigen Elementen etwas, das eine große Intensität besitzt. Das hat mich sehr interessiert, denn es steht der romanischen Tradition genau entgegen, insbesondere der spanischen, die sich in der Ausweitung gefällt. Die japanische Dichtung ist eine Lektion in Ökonomie. In Indien übertreiben sie noch mehr: zweitausend Zeilen, wo ein Japaner sich auf einen Ausruf beschränkt… Außerdem konzentriert die japanische Dichtung in einem Vers eine große Vielfalt einzelner Bedeutungen; sie ist beladen mit Sinngehalten. Letztlich ist sie das Unfertige. Zuerst habe ich das bei Bashô entdeckt, dann auch bei anderen Dichtern und bei Malern. Donald Keene sagt, die japanische Ästhetik spiele mit der Vorstellung des Unvollendeten, leicht Unvollkommenen. Es ist wie ein Zeugnis, das die Zeit den Menschenwerken ausstellt: das Zeugnis der Authentizität. (…) Der Dichter sagt nicht alles, er läßt dem Leser die Möglichkeit, sein Gedicht zu vervollständigen.

Diese Reflexion darüber, wie das Werk des Künstlers in der Beziehung zum Leser eine Vervollständigung erfährt, kommentiert ungewollt Octavio Paz’ Rückkehr ins Mexiko der fünfziger Jahre. Man kann sagen, daß sich der leidenschaftliche, agile, kämpferische Dichter, mit all seinen wichtigen Erfahrungen und mit der Kultur, die er im Laufe eines Jahrzehnts, vor allem während seiner Pariser Jahre, aufgesogen und erlebt hat, durch sein Wirken in Mexiko vervollkommnet. Wenn man betrachtet, wie die Anwesenheit in seinem Land auf ihn wirkte, könnte man fast meinen, der Intellektuelle, der Mann des öffentlichen Lebens, der Octavio Paz damals war, habe diesen Kontakt mit seinem ursprünglichen kulturellen Milieu geradezu gebraucht, um sich erneut und in vielerlei Hinsicht zu verändern.
Zwischen 1953 und 1958 lebte er wieder in Mexiko-Stadt, wo er weiterhin im diplomatischen Dienst tätig war. Nach dieser Rückkehr wurde er zu einer jener Persönlichkeiten, die die heimische Kultur am deutlichsten mitprägten, indem er neue ausländische Schriftsteller bekannt machte oder eine neue Sicht auf mexikanische Maler und Autoren eröffnete.

Bei meiner Rückkehr fand ich eine Gruppe von Intellektuellen vor, die noch Dogmen anhingen, die schon damals, vor dreißig Jahren, völlig steril waren: dem sozialistischen Realismus, dem Nationalismus et cetera. Ihnen stand aber bereits eine Gruppe einzelner junger Leute gegenüber, in erster Linie denke ich da an Carlos Fuentes. Sie wurden sofort zu meinen Verbündeten, zu meinen Freunden, und gemeinsam machten wir es uns zur Aufgabe, das literarische und künstlerische Leben Mexikos zu verändern. (…) Wir versuchten zu erneuern, Fenster aufzustoßen, Strömungen bekanntzumachen, Werke und Werte, die in Mexiko unbekannt waren; in einigen Fällen würde ich sogar sagen: sie wurden absichtlich ignoriert. Noch galt, um nur ein Beispiel zu geben, die Formel von Siqueiros unumschränkt: „Einen anderen Weg als den unseren gibt es nicht.“ Ich schlug Schlachten, zog ins Feld für die neue Kunst, ganz besonders für Rufino Tamayo und andere Maler. Und neben all dem schrieb ich El arco y la lira, die letzten Gedichte von La estación violenta, darunter „El cántaro roto“ und „Piedra de sol“; und schließlich übersetzte ich auch John Donne, Apollinaire und so weiter.

Seine Anregungen wurden vor allem in der Zeitschrift Revista Mexicana de Literatura spürbar, die in der ersten Zeit von Carlos Fuentes und Emmanuel Carballo geleitet wurde. Mit verschiedenen anderen Künstlern, darunter dem Maler Juan Soriano und der Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington, gründete er 1955 die experimentelle Theatergruppe Poesía en voz alta, damals als theatralische Avantgarde viel beachtet. Er veröffentlichte sein einziges Theaterstück: La hija de Rapaccini (1956), einen Einakter nach einer Geschichte von Nathaniel Hawthorne, der im selben Jahr unter der Regie von Héctor Mendoza uraufgeführt wurde.
Ebenfalls 1956 erschien ein weiteres wichtiges Buch von Octavio Paz, diesmal ein poetologischer Essay: Der Bogen und die Leier (El arco y la lira). Dafür erhielt er im gleichen Jahr den Premio Xavier Villaurrutia, den angesehensten Literaturpreis Mexikos, der für ein einzelnes Buch verliehen wird, im Unterschied zum Premio Nacional de Letras, der für ein Gesamtwerk, einen künstlerischen Werdegang verliehen wird und den Octavio Paz 1977 erhalten sollte.
In Der Bogen und die Leier nimmt Octavio Paz, mit Variationen, die gleichen Fragen und Antworten zur Natur der Dichtung wieder auf, die er fast fünfzehn Jahre vorher in seinem Essay „Poesía de soledad y poesía de comunión“ schon formuliert hatte. Gleich zu Beginn verwahrt sich der Autor dagegen, sein Buch etwa als Spekulation oder Theorie zu betrachten, und bezeichnet es lieber als Zeugnis der Begegnung mit einigen Gedichten. Laut Paz hat der poetische Mensch, in Anlehnung an ein Bild Heraklits, teil am Wesen der Leier, die ihm mit ihrem Gesang einen Platz in der Welt zuweist; und zugleich am Bogen, der ihn über sich selbst hinausschießt.
Die drei Teile, aus denen das Buch in der ersten Ausgabe bestand, warfen folgende Fragen auf: Gibt es ein dichterisches Sagen, das auf kein anderes Sagen reduzierbar ist? Was sagen die Gedichte? Wie teilt sich das dichterische Sagen mit? Die erste Frage führt zu einer Untersuchung dessen, was das Gedicht an sich ausmacht: Sprache, Rhythmus, Vers und Prosa, das Bild.
Die zweite Frage in diesem Buch wirft uns in die Welt der dichterischen Offenbarung, der Inspiration und unserer Reise zum „anderen Ufer“, wo wir die Dichtung erfahren. Bei der Erörterung der dritten Frage äußert sich erneut, wenn auch in einem anderen Gewand, das Interesse des Autors an den Beziehungen zwischen Dichtung und Geschichte. Es ist dies seine stetige Frage danach, wie sich der nicht reduzierbare Akt der Dichtung in die Welt fügt. Wieder kommt Paz zu dem Schluß, daß Dichtung die Geschichte nicht erzählen, sondern selbst Geschichte sein soll. Wieder verweist er auf die poetische Erfahrung als ein Zurück zu sich selbst, zu den tiefsten und authentischsten Sehnsüchten. Und wieder bezeichnet er die Einsamkeit als dominierendes Merkmal der zeitgenössischen Lyrik. Gelehrtheit und originelle Interpretation des leidenschaftlichen Abenteuers Dichtung gehen in diesem Essay Hand in Hand. Am Ende läßt der Autor seine Eingangsfragen offen, fragt sich gar, ob es überhaupt Antworten gibt.
Was Paz mit diesem Buch tatsächlich offen läßt, eröffnet, ist ein neuer Weg für sein essayistisches Werk, und er wird ihn mit all seinen Sammlungen literarischer Essays ausschreiten; in erster Linie sind dies Die andere Zeit der Dichtung (Los hijos del limo, 1974) und La otra voz. Poesía y fin de siglo (Die andere Stimme. Dichtung und Jahrhundertende, 1990), die man als Fortführungen von Der Bogen und die Leier ansehen kann.
Ab der zweiten Ausgabe (1967) dieses Buches ersetzte ein Text mit dem Titel „Die rotierenden Zeichen“ („Los signos on rotación“) den alten Epilog. Es handelt sich um ein neues poetologisches Manifest, in dem behauptet und erläutert wird, daß die moderne Dichtung nicht, wie einmal gesagt wurde, das Gedicht der Dichtung sei, sondern daß gegenwärtig die höchste Form der Dichtung in der Negation der Dichtung bestehe, in der Kritik an der Sprache, der dichterischen Erfahrung an sich. Zeichen der Zeit: aus dem Gedicht selbst wird sich eine Lesart ergeben, doch niemals wird es eine definitive, abgeschlossene Lesart sein. Andererseits soll die Dichtung nicht Erfindung sein, sondern Entdeckung der Anderen, der Andersheit, die uns umgibt. Demnach ist Dichtung die geheimnisvolle, authentische Suche nach einem Hier und einem Jetzt. Das Thema Dichtung und Revolution, Dichtung und Gesellschaft wird neu betrachtet und wieder ausgeklammert, sein anmaßender Zug erkannt. Laut Paz war es früher Aufgabe des Dichters, den Worten des Volkes einen reineren Sinn zu verleihen; heute ist es die Frage nach diesem Sinn. Zugleich ist Dichtung der Versuch, Getrenntes wieder zu vereinen.
Bereits 1955 hatte er, in seinem Gedicht „Zerbrochener Krug“ („El cántaro roto“) einen entrüsteten Blick auf das bittere Elend in seinem Land geworfen; dort erfleht er diese neue Synthese des Unvereinten:

aaaDer innere Blick entfaltet sich, und eine Welt aus Taumel und Flamme wird unter der Stirn des Träumenden geboren:
aaa
(…)
aaaSag mir, Dürre, sag mir, verbrannte Erde, Erde aus fein zermahlenen Knochen, sag mir, Mond in der Todesstunde, gibt es kein Wasser?
aaaGibt es nur Blut, nur Staub, nur das Treten nackter Füße auf den Dorn,
aaanur Lumpen und Insektenfraß und Benommenheit unter dem Mittag, herzlos wie ein Kazike aus Gold?
aaa
(…)
aaazu träumen gilt es, rückwärts, der Brunnenstube entgegen, zu rudern, Jahrhunderte aufwärts,
aaaüber die Kindheit hinaus, über den Anfang hinaus, über die Taufwasser hinaus,
aaaniederzulegen die Wände, die den Menschen vom Menschen scheiden, erneut zu verbinden, was getrennt war,
aaaLeben und Tod sind keine gegensätzlichen Welten, wir sind ein einziger Stengel mit Zwillingsblüten,
aaaauszugraben gilt es das verlorene Wort, zu träumen nach innen und auch nach außen,
aaazu entziffern die Tätowierung der Nacht und Auge in Auge den Mittag zu schauen, ihm die Maske zu rauben,
aaa
(…)

Die Veröffentlichung dieses Gedichts in der Revista Mexicana de Literatura erregte Protest bei den Nationalisten, die verhindern wollten, daß das inzwischen institutionalisierte Trugbild von einem durch und durch modernen Mexiko getrübt würde. Octavio Paz und seine Verbündeten kämpften darum aufzuzeigen, daß das Land noch ein gutes Stück Wegs vor sich hatte, wenn es wirklich in das moderne Zeitalter eintreten wollte. Er glaubte noch daran, auch wenn in seinen Essays bereits erste Anzeichen dessen erkennbar sind, was sich mit der Zeit zu einer offenen Kritik an dem Modernitätsgedanken selbst auswachsen sollte.
Paz’ Schaffen als Kritiker und literarischer Essayist war schon damals beachtlich. Las peras del olmo (Die Möglichkeit des Unmöglichen) (1957) war der erste Essayband mit recht vermischten Texten, ein kleines Panorama von fünfzehn Jahren Kulturjournalismus. Der erste Teil des Buchs bestand aus Texten über die mexikanische Lyrik: seine ersten Essays über Sor Juana, José Juan Tablada, Carlos Pellicer, José Gorostiza, López Velarde; dazu seine Einführungen zu zwei Anthologien, eine mit zeitgenössischer mexikanischer Lyrik, die andere mit Lyrik quer durch die Jahrhunderte. Der zweite Teil versammelte die unterschiedlichsten Texte, angefangen mit einem aus seiner Jugend, „Poesía de soledad y poesía de comunion“ (Dichtung der Einsamkeit und Dichtung als Kommunion), bis hin zu Essays über den Surrealismus, die japanische Literatur, die Maler Rufino Tarnayo, Juan Soriano und Pedro Coronel sowie die spanischen Schriftsteller Machado und Moreno Villa.
Von nun an treten verschiedene Grundgedanken auf, die der Dichter-Essayist im Laufe der Zeit stetig weiterentwickelt, darunter die Idee des Modernen in der Kunst als eine Tradition, und zwar als eine aus Brüchen bestehende Tradition. Die Vorstellung vom Niedergang der Avantgarde gewinnt an Aktualität, wenn man bedenkt, daß es unmöglich geworden ist, an die lineare, progressive Zeit zu glauben: Die Idee des Modernen steckt in der Krise, daher lösen sich sowohl der Begriff der Zukunft als auch der des Wandels auf. Octavio Paz hat schon im voraus die Problematik angesprochen, die sich heute hinter dem Wort „Postmoderne“ verbirgt.
Octavio Paz’ Erforschung der Moderne und ihrer Zerfallserscheinungen hat sich mit der Literatur, besonders mit der Dichtung befaßt, aber auch mit der bildenden Kunst, vor allem der Malerei. Als Kunstkritiker eröffnete Paz in Mexiko der Moderne ein neues Forum, wo nicht nur darüber informiert wurde, was in der Welt geschah, sondern auch daran gearbeitet wurde, das Werk der modernen mexikanischen Maler zu verstehen. Plötzlich sah man die prähispanische Kunst mit anderen Augen, denn mit seinem vom Surrealismus geschärften Blick wußte Paz die Werte des „Primitiven“ als authentische, verblüffende Kunst zu schätzen.
Seit seiner Rückkehr nach Mexiko in den fünfziger Jahren, nach der Veröffentlichung von ¿Aguila o sol?, schlug Paz’ Dichtung einen immer innovativeren und experimentelleren Kurs ein. Sein dichterisches Abenteuer ebnete den Weg selbst den jüngsten Dichtern, die bisweilen, bevor sie zu einer eigenen Stimme fanden, in seine Fußstapfen traten.
1954 veröffentlichte er Semilias para un himno (Saat für einen Lobgesang), zweiundzwanzig in Form und Umfang unterschiedliche Gedichte, in denen bereits, was seine Arbeit mit Bildern betrifft, die Lehren der japanischen Lyrik erkennbar sind. Eine Art Haiku dient einem der Teile als Eröffnung:

Der Tag tut seine Hand auf
Drei Wolken
Und diese wenigen Wörter

Wiederkehrende Themen in diesem Band sind die Zerrissenheit des Lebens („Zerbrochene Spiegel in denen die Welt zerstückt sich erblickt“), die Suche nach einer anderen Gegenwart („Zeig dich / Hilf mir zu sein / Hilf dir zu sein“) und die Begegnung mit einem anderen Körper:

Du weintest und lachtest
Das Bett ein stiller Ozean
Und wieder ergrünte das Zimmer
Bäume sprossen Wasser entsprang
Da waren Zweige und Lächeln zwischen den Laken
Da waren Ringe nach dem Maße des Glücks
Überraschende Vögel auf deinen Brüsten
Funkelnde Federn in deinen Augen
Wie das schlafende Gold war dein Körper
Wie das Gold und seine glühende Replik wenn das Licht es trifft
Wie das Stromkabel das bei Berührung Funken sprüht
Du lachtest und weintest
Wir ließen unsere Namen am Ufer
Wir ließen unsere Gestalt
Mit geschlossenen Augen körperinwärts
Unter den Doppelbögen deiner Lippen
Es gab kein Licht gab keinen Schatten
Inwärts immer weiter
Wie zwei Meere die sich küssen
Wie zwei Nächte blindlings sich durchdringen
Immer tiefer auf den Grund
An Bord des schwarzen Seglers

Im darauffolgenden Jahr (1955) schrieb er eine Sammlung von Haikus, „Einzelne Steine“ („Piedras sueltas“), die später in Semilias para un himno aufgenommen wurden. In dieser allerknappsten Form spürte er Bildern nach, die an prähispanische Gegenstände und Mythen erinnern. Andere zeigen den Dichter verblüfft vor Schlaglichtern auf die Welt. In einem, mit dem Titel „Biografia“, deutet sich bereits das starke Gefühl an, welches den Dichter in den folgenden Jahren überkommt, nämlich daß ein Abschnitt seines Lebens zu Ende geht, von ihm abrückt. Die allumfassende Trennung, von der er in seiner Dichtung aus jener Zeit immerzu spricht, ist auch Trennung von sich selbst, von dem, was er tat und war:

Nicht was sein konnte:
es ist was war.

Und was einmal war das ist tot.

Aus damaliger Perspektive scheinen die Gedichte aus Semillas para un himno auf eine weitaus ambitioniertere Verwirklichung der ihnen innewohnenden Themen und Obsessionen abzuzielen. Diese erreicht Paz in einem umfangreichen Synthese-Gedicht: „Sonnenstein“ („Piedra de sol“). Es erschien 1957 als Kulmination einer dichterischen Suche: ein zirkuläres Gedicht, zugleich ein Gedicht über die Liebe und die Verbrechen der Geschichte, ein Gedicht voller Mythologien und Archetypen, ein Gedicht der Begegnung mit der Geliebten und mit der in Trümmern liegenden Welt, wenn die Sonne die Sinne aufbricht wie Steine und aus ihnen das Leben hervorkeimen läßt.
Das Langgedicht „Sonnenstein“ ist im Pazschen Werk von fundamentaler Bedeutung. Es ist autobiographisch, aber ebenso die Biographie einer Generation. Eine Vision dessen, was von ihren Träumen geblieben ist: Trümmer der großen historischen Illusionen, Bekräftigung des Experiments und des Liebesdrangs, denn was bleibt, ist das Leben selbst. Ein Eros, allumfassend und zu diesem Zeitpunkt bereits das beherrschende Merkmal seiner Poetik:

(…)
ich geh durch deinen Wuchs wie durch ein Flußbett,
wie durch den Wald geh ich durch deinen Körper,
so wie auf schmalem Pfade im Gebirge,
der jählings dann an einem Abgrund endet,
geh ich den Saumweg deines feinen Denkens,
und an dem Ausgang deiner weißen Stirn dann
stürzt mein Schatten und bleibt zersplittert liegen,
ich sammle, ein ums andre, meine Teile
und tappe weiter ohne Körper, tastend,

(…)
ich möchte weiter, weiter gehn und kann nicht
der Augenblick fiel in den nächsten, tiefer,
ich lag im Traum von Stein, der keinen Traum kennt,
und da, am Ende der versteinten Jahre,
hört’ ich mein Blut in seinem Kerker singen,

(…)

1958 erschien La estación violenta (Die stürmische Jahreszeit), worin auch das vorangegangene Gedicht enthalten ist; und 1960 wurden die Gedichte dieses Bandes sogar in die Neuauflage von Libertad bajo palabra aufgenommen, womit sich ein Zyklus seines Werkes und seines Lebens schloß.
1959 verläßt Octavio Paz erneut Mexiko, doch seine Präsenz, seine Spur im Land ist bereits endgültig, und selbst in Indien, wo er später wohnt, wird seine Verbindung mit dem heimischen kulturellen Leben enger sein als während seiner früheren Auslandsaufenthalte.

Alberto Ruy Sánchez, aus Alberto Ray Sánchez: Octavio Paz. Leben und Werk, Suhrkamp Verlag, 1991

 

LOB DES KOLIBRIS
Für Octavio Paz

Die Luft bebt flimmernd
vom Huschen der Flügel und Farben –
der Kolibri
erscheint der Blume wie ein Verkündigungsengel

Man sagt ihm nach, dass er wie Blumen
zur Zeit der Dürre sterbe, um aufzuleben zur Regenzeit.
Seine Farben bezeugen, dass er den Regenbogen durchflogen
in Tlaloks grünem Paradies.

Er nährt sich vom Honig, der Blütenessenz,
ist Zartheit, fast Bangnis
nach dem Sein,
kehrt immer wieder in die Luft zurück
und ist doch aus Blut und Knochen, wahrhaftig.

Sie nahmen nicht wahr, dass in einer Sekunde
die kleinsten Kolibris an fünfzig
Flügelregungen vollführen.
Sie verknüpfen Zartheit mit Sehnsucht
und lassen sie von den kleinsten Schwingen tragen.
Hast und Sehnsucht sind Zwillingsblumen.
Das wussten die Azteken,
da sie erlaubten, dass aus einem Worte erwachsen
Ottin und Yollotl – Regung und Herz.

Es wurde also
der Kolibri Bote
des Xochipilli, des Herrn der Blüten und Seelen.
Und ward wohl zugleich mit der Fünften Sonne geboren,
dort, zu Teotihuacan, als sich die Götter versammelt.

Jan Zych
Aus dem Polnischen von Otto F. Babler

 

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Octavio Paz

Der Magistrat der Stadt Frankfurt a.M. und der Suhrkamp Verlag ehren den Dichter Octavio Paz am 27.9.1992 im Kaisersaal des Römers.
Lesungen und Reden: Octavio Paz, Ulla Berkéwicz, Elisabeth Borchers, Eva Demski, Friederike Roth, Ralf Rothmann, Andreas von Schoeler, Siegfried Unseld, Rudolf Wittkopf

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Bernhard Widder: Belesenheit und Fantasie
Wiener Zeitung, 28.3.2014

Peter Mohr: Romantiker in diplomatischen Diensten
titel-kulturmagazin.net, 31.3.2014

 

 

Fakten und Vermutungen zum AutorNobelpreis + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK

 

Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 1/2.

 

Octavio Paz – Porträt, Gespräch und Lesung Teil 2/2.

 

Octavio Paz – Filmporträt nach seinem Tod.

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