Paul-Henri Campbell: Zu Valzhyna Morts Gedicht „Genesis“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Valzhyna Morts Gedicht „Genesis“ aus Valzhyna Mort: Musik für Tote und Auferstandene

 

 

 

 

VALZYNA MORT

Genesis

Ich bin grundsätzlich für Kain.

Wegen seiner zürnenden
Einsamkeit, der ihn
zurückweisenden Mutter
und seines christlichen Sarkasmus:
„Bin ich denn meines Bruders Hüter?“
fragt der Brudermörder.

Denn in der Tat: Sind wir nicht vielmehr
die Hüter unserer Verstorbenen?

Noch einmal von vorn:

Ich bin für den Apfel, der weit fällt
vom Stamm.

Wie ein Zweig
zwischen den Beinen die trocknende Nabelschnur.

Und Kain, wie wurde sie durchschnitten?

Mit einem Stein?

Dort
wo sie nach Vorstrafen fragen.
schreib: „Mutter, Leib“.
wo nach Waffen:
„Mutter, Leib“

 

„Mein zweisprachiger Schreibprozess“,

notiert Valzhyna Mort (*1981) in einem Spurentext, der der deutschsprachigen Ausgabe von Music for the Dead and Resurrected nachgestellt ist, „ist nicht besonders geheimnisvoll und unterscheidet sich im Grunde kaum von der Arbeit einer Dichterin, die mehrere Versionen eines Gedichts anfertigt.“ Die seit 2006 in den USA lebende Autorin aus Minsk, Belarus, säkularisiert in diesem Satz unumwunden den Sprach-Hokuspokus, womit gerne kokettiert wird, sobald die Dichtung doppel- oder mehrzüngig wird: für Valzhyna Mort sind ihre Sprachen auf eine dringlich-profane Weise „Sprachmaterial“, sind sie Chance und Conundrum zugleich. „Worte“, schreibt sie weiter, „sind nur ein Kompromiss.“ In dieser Dichterin regt sich in unzähligen Gebärden scheinbar ein anonymer Wille: tanzt, trauert oder tobt ihre Ausdrücklichkeit, ergeht sie sich in phantasmagorischen Erinnerungen oder gelangt sie zu ephemereren Einsichten – und zu solchen, die letzte Gültigkeit haben. Wie hier, wo die Sympathie für den Brudermörder umschlägt in eine Einsicht in die ständigen, gewaltsamen Brüche vom ersten Lichtblick der Welt an, ab ovo; in eine Einsicht ins genealogische Strafregister, das ein unmögliches Verhältnis zur Herkunft überhaupt macht und den Brudermord fast zum emanzipatorischen Akt erhebt. Es ist interessant zu verfolgen, wie in diesem von Katharina Narbutovič und Uljana Wolf so behutsam zusammengestellten, vielsprachigen Gedichtband unaufhörlich Zusammenhänge thematisiert werden, die entweder nicht sind oder unrein geworden sind: ein Gedicht heißt „Versuch in Ahnenforschung“, darin die Verse „Mein Mutterland rasselt mit den Knochenschlüsseln. / Eva schaut zu, mit ihrer einen roten Wimper“ zu lesen sind, ein anderes Gedicht gehört zu den als Lieder angekündigten Texten und heißt „Lied für laute Stimme und Schraubenzieher“, noch eins trägt den Titel „Nocturne für einen fahrenden Zug“. Warum scheint dieser poetische Prozess, der mehr als ein Lexikon in seinem Vollzug verbraucht, so nüchtern, ja fast trocken in seiner Melancholie? Die Gedichte präsentieren sich z.B. als Grabinschrift, Wiegenlied, Notiz, Reportage, in memoriam oder Lament. Vielleicht ist es der Eindruck eines harten, diesseitigen Elegien-Tons, der viele dieser Texte zu berührenden poetischen Bewegungen werden lässt.

Paul-Henri Campbell, Volltext, Heft 3, 2021

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