Peter Huchel: Poesiealbum 277

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Peter Huchel: Poesiealbum 277

Huchel/Rößler-Poesiealbum 277

DAS GERICHT

Nicht dafür geboren,
unter den Fittichen der Gewalt zu leben,
nahm ich die Unschuld des Schuldigen an.

Gerechtfertigt
durch das Recht der Stärke,
saß der Richter an seinem Tisch,
unwirsch blätternd in meinen Akten.

Nicht gewillt,
um Milde zu bitten,
stand ich vor den Schranken,
in der Maske des untergehenden Monds.

Wandanstarrend
sah ich den Reiter, ein dunkler Wind
verband ihm die Augen,
die Sporen der Disteln klirrten.
Er hetzte unter Erlen den Fluß hinauf.

Nicht jeder geht aufrecht
durch die Furt der Zeiten.
Vielen reißt das Wasser
die Steine unter den Füßen fort.

Wandanstarrend,
nicht fähig,
den blutigen Dunst
noch Morgenröte zu nennen,
hörte ich den Richter
das Urteil sprechen,
zerbrochene Sätze aus vergilbten Papieren.
Er schlug den Aktendeckel zu.

Unergründlich,
was sein Gesicht bewegte.
Ich blickte ihn an
und sah seine Ohnmacht.
Die Kälte schnitt in meine Zähne.

 

 

 

Wettlauf mit der Vergeblichkeit

Der Dichter Peter Huchel hat auf dem Territorium, das ihn nicht wollte, schreibend siebenundzwanzig Jahre seines Lebens zugebracht. In diesem Zeitraum, der von großer Gelassenheit zeugt, ist von ihm, im Territorium, ein Buch erschienen, 1948, noch vor der Staatsgründung, es trägt den schmucklosen Titel Gedichte.
Ende der sechziger Jahre, ein oder zwei Jahresläufe vor dem Tag, an dem er jenes Territorium verlassen wird, machte ein sensationelles Gerücht die Runde, dem man einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit nachsagte, weil sich in ihm ein kulturpolitisches Schnäuzen und Räuspern von Kurt Hager materialisierte, der letzten Instanz in ideologischen Fragen. Der süß anmutende Kern der Botschaft prophezeite: Hager könne sich eine „klug getroffene Auswahl“ aus den Gedichten Huchels in einem Verlag des Territoriums durchaus vorstellen. Andere Arbeiten beiseitelegend begann ich umgehend, das „Poesiealbum Peter Huchel“ vorzubereiten, rundherum bemüht, beim Auswählen der Texte jene Klugheit zu beweisen, von der, wie ich nur allzu gut wußte, alles abhing. Ich stellte sogar fünf Exemplare des satzreifen Manuskripts her, obwohl für den Druckgenehmigungsweg nur drei erforderlich waren.
So glaubte ich, schlau zu sein und das Ziel mit einer winzigen Dosis List erreichen zu können, nicht bedenkend, daß sich das Ziel auf eben dem Territorium befand, auf dem Peter Huchel siebenundzwanzig Jahre seines Lebens als literarischer Johann Ohneland zugebracht hatte und meine vermeintliche Schlauheit und selbst meine listigste List ohnmächtig waren angesichts der zahllosen kleinen, aber einflußreichen irdischen Götter in den Ebenen der Produktionsstrukturen, die für augenblickliche Papierengpässe sorgten oder, dem Gegenstand angemessen, Havarien im Druckmaschinenpark meldeten, die erdichtet waren.

Nachsätze 2007:

  1. Sobald feststand, daß das Projekt chancenlos war, habe ich die Manuskripte nach Karl-Marx-Stadt in die Wohnung meiner Mutter gebracht, wo sich bereits ein Depositum literarischer Wertsachen befand. 1979, bei ihrem Tod inmitten der schönen denunzierenden Menschengemeinschaft, sind alle Papiere, die ich dort in Sicherheit glaubte, in das Eigentum der Karl-Marx-Städter Müllabfuhr übergegangen. Nach meinem Offenen Brief an Honecker zur Biermann-Ausbürgerung von 1976 war mir die Einreise in die DDR zur Beerdigung bei Androhung einer sechs- bis achtjährigen Zuchthausstrafe verwehrt. Die einzige Kopie des Manuskripts, die sich erhalten hat, befindet sich in meinem Kopf.
  2. Im Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart des VEB Bibliographischen Instituts Leipzig von 1967 wird Huchels 1963 im S. Fischer-Verlag erschienener Gedichtband Chausseen Chausseen, der sein bedeutendster ist, nicht nur in petit unter „weitere Werke“ aufgeführt, sondern auch mit der falschen Jahreszahl 1936 versehen, so daß der Eindruck entstehen soll, der Autor habe im Dritten Reich Bücher veröffentlicht. In Meyers Taschenlexikon Schriftsteller der DDR desselben Verlages von 1974 ist der Name des Dichters nach stalinistischem Vorbild lexikographisch liquidiert worden.
  3. Als ich Huchel im Sommer 1977 in Staufen besuchte und ihm die Texte meiner Auswahl nannte, nickte er, den Kopf gesenkt, hinter dem Rauch der Zigarette auf märkisch schweigsame Weise.

Bernd Jentzsch

 

Poesiealbum 277: Peter Huchel

ist die getreue Rekonstruktion eines Manuskripts das kulturpolitisch schwierige Zeiten nicht überlebt hat und zugleich die späte Verbeugung vor einem unserer größten Dichter des zwanzigsten Jahrhunderts.

MärkischerVerlag Wilhelmshorst, Klappentext, 2007

 

Der sozialistische Lord

Mit der vorliegenden Auswahl greift Bernd Jentzsch einen verloren geglaubten Faden wieder auf. Zu DDR-Zeiten hatte der Schriftsteller Bernd Jentzsch mit der von ihm 1967 gegründeten Reihe Poesiealbum eine bedeutende Unternehmung ins Leben gerufen. Kompetent ausgewählt und weltoffen, dazu in hoher Auflage und preisgünstig zugleich hatte sich das Poesiealbum großer Beliebtheit bei den Lesern erfreut. Bernd Jentzsch gibt in gewohnt kundiger Weise auch im „Peter Huchel“-Heft Einblick in Hintergründe des Zustandekommens dieser Sammlung. In der DDR hatte Peter Huchel in den 1950er Jahren die diffizile Aufgabe unternommen, das Renommee der jungen Republik mit der Leitung der herausragenden Zeitschrift Sinn und Form zu unterstützen. 1962 wurde ihm diese Aufgabe entzogen. Kurt Hagers Angriff im Parteiblatt Neues Deutschland auf die Zeitschrift Sinn und Form machte die Runde, als er ihr wünschte, „daß sie einmal aus ihrer feinen Zurückhaltung und Beschaulichkeit, die etwas von der Art englischer Lords an sich hat, ihrer noblen Betrachtungsweise und philosophischen Skurrilität heraustreten möchte und einmal parteilich zu den so nahen und wichtigen, so großen und erhabenen Problemen des Schönen in unserem sozialistischen Aufbau Stellung nehmen möchte“.
Kurz vor Huchels Ausreise aus der DDR am 27.4.1971 war Bernd Jentzsch das Gerücht zu Ohren gekommen, daß der kulturmächtige Funktionär Kurt Hager unter gewissen Einschränkungen sich durchaus eine Gedichtauswahl von Peter Huchel in der DDR vorstellen könne. In vorauseilendem Gehorsam stellte Jentzsch fünf Exemplare eines satzreifen Manuskripts zusammen – allein die Mühe war vergeblich. Eine DDR-Auswahl kam nicht zustande! Lediglich 1948 war im Aufbau-Verlag eine erste Buchveröffentlichung Huchels erschienen, seine weiteren Gedichtbände waren in westlichen Verlagen veröffentlicht worden.
Die Landschaft der Mark Brandenburg hatte es Huchel seit seiner Kindheit angetan. Den weiten Himmeln, den grünen Seen mit ihrem Binsengestrüpp spürte Huchel bis in die phonetischen Verästelungen hinein nach:

Diese Lokalitäten befinden sich nicht etwa in den Büchern anderer Dichter, sondern fünfzehn Minuten von meinem Hause entfernt. Und meine Sprache zieht aus dieser schilfigen Landschaft der Kolke und Luche ihr Leben.

Huchel besaß die Eigenart, Verse so lange vor sich hinzuraunen, bis sie in die rechte Form geraten sind. Daher erklären sich auch die häufigen Überarbeitungen: Huchels Art, Gedichte zu schreiben, war ein unablässiger Prozeß der Anpassung. Eine „Abwechslung der hohen und tiefen Vokale“ in den Versen kennzeichnen „Huchels Meisterschaft in der Klangmalerei“.
Die Biermann-Ausbürgerung 1976 brachte in der Folge auch Bernd Jentzsch in Bedrängnis. Jentzsch, der sich in der Schweiz aufgehalten hatte, um eine Anthologie zusammenzustellen, kehrte nicht mehr in die DDR zurück. Die Huchel-Manuskripte wurden nach dem Tode seiner in der DDR verbliebenen Mutter vernichtet. Aus dem Gedächtnis stellte er seine Huchel-Anthologie wieder her und ließ sie sich noch vom Meister persönlich im Sommer 1977 in Staufen absegnen. Huchel „nickte, den Kopf gesenkt, hinter dem Rauch der Zigarette auf märkisch schweigsame Weise“.
Huchels beste Gedichte gehören zu den besten der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.

Volker Strebel, Ostragehege, Heft 49, 2008

Der Unpolitische als Politikum

– Über Peter Huchel. –

Als in den sechziger Jahren eine breitere Öffentlichkeit in der Bundesrepublik auf den Namen Peter Huchel aufmerksam wurde, hatte dies weniger mit dem Lyriker zu tun, als vielmehr mit dem „politischen Fall“, der aus der Weigerung Huchels entstanden war, sich den wechselnden ideologischen Maßgaben des DDR-Staates zu beugen. Nach vierzehn die Zeitschrift bis heute prägenden Jahren als Chefredakteur von Sinn und Form war Huchel Ende 1962 von seinem Posten verdrängt worden. Das letzte von ihm verantwortete Doppelheft wirkte wie ein Paukenschlag: Gleich auf die knappe Mitteilung Willi Bredels, Peter Huchel scheide auf eigenen Wunsch zum Ende des Jahres aus, folgt ein Text aus dem Nachlass Brechts unter dem Titel „Über die Widerstandskraft der Vernunft“. Neben Reden von Aragon und Sartre enthält die Nummer unter anderem Beiträge von Huchels Jugendfreund Günter Eich, von Ilse Aichinger, Paul Celan, Isaak Babel, Jewgenij Jewtuschenko, Arnold Zweig, Hans Mayer, Ernst Fischer und Werner Krauss. Die Antwort der Kulturfunktionäre ließ nicht lange auf sich warten: Mit diesem Heft habe Huchel, ließ Alexander Abusch verlauten, „seine Intoleranz gegen andere künstlerische Anschauungen“ gezeigt. Er habe allerhand „fragwürdige“ Beiträge summiert, „um der Nummer bewußt einen demonstrativ gegen unsere sozialistische Kulturpolitik und gegen den sozialistischen Realismus gerichteten Charakter zu geben“. Die Hamburger Zeit feiere ihn jetzt „als einen ,Helden der westlichen Welt‘, der auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik kämpft“. Die DDR lasse sich aber „durch die Intoleranz des Herrn Huchel in keiner Weise provozieren“. Der Akademie-Präsident, Willi Bredel, hielt das Heft für einen „Loyalitätsbruch sondergleichen“. Er möchte nicht mehr mit Huchel weiterverhandeln. Dass Huchel jetzt eine „hohe Altersrente“ und eine Reise nach Italien beantrage, sei eine Frechheit.
Was war geschehen, dass der Dichter, der einmal von der „Größe eines Genies“ schrieb und damit Stalin meinte, der 1950 ein Versepos zu Ehren der ostdeutschen Bodenreform und noch 1961 einen Spruch für den ersten DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck verfasste, die Konfrontation mit dem Regime suchte? Und war es nicht schon die zweite Wendung, die Huchel vollzog, nachdem er sich bis 1940 mit mehr als dreißig Arbeiten an der Hörspielproduktion des Reichsrundfunks beteiligte und sich damit später dem Vorwurf ausgesetzt sah, – um es mit den Worten Günter Eichs zu sagen −, „das Schlachthaus mit Geranien“ geschmückt zu haben? Freilich läßt sich aus der Biographie Huchels auch eine Kontinuität von Einstellungen herauslesen, die in das linke politische Spektrum weisen. So erscheint sein anfängliches Engagement für das gesellschaftliche Experiment DDR durchaus plausibel, bedenkt man die Herkunft aus dem Freundeskreis Bloch, Kantorowicz, Haffner und so weiter. Jedoch mehr oder weniger differenzierte Apologie oder Verdammung sind nur zwei Seiten derselben Methode, ein Leben und ein Werk vom Hochstand heutigen Wissens zu beurteilen. Die entscheidende Kontinuität, der rote Faden, der sich durch alle Lebensphasen von Engagement und bewusster Anpassung bis hin zur politischen Verweigerung in Huchels Leben zieht, scheint mir das zu sein, was Hermann Kasack einmal als „lyrische Weltanschauung“ bezeichnet hat: das Streben, die Welt im Medium des Gedichts zu erkennen und zu gestalten. Dieses Streben hat seine Wurzeln, von denen Huchel selbst berichtet hat: „Wenn ich an das Dorf denke, in dem meine Mutter groß wurde und in dem ich später aufwuchs, so sehe ich das hohe weiße Doppeldachhaus in Alt-Langerwisch. Hier hörte ich zum erstenmal in meinem Leben Verse, lange Balladen über den Räuber Rinaldo Rinaldini, über den unglücklichen Kaiser auf Sanct Helena, Spottverse auf Landräte und Pastoren. Der sie mir vortrug, abends am Küchenfeuer, war auch ihr Dichter, es war mein kauziger Großvater, der sich schließlich nur noch und sehr zum Schaden seiner Landwirtschaft mit seiner kleinen Bibliothek beschäftigte. (…) Aus diesen Kindheitstagen habe ich so viel Erfahrungen mit ins Leben genommen, daß mir noch heute alles deutlich in Erinnerung geblieben ist. Für mich ist dieses alte Haus, um Augustinus zu zitieren, ,der große Hof des Gedächtnisses, daselbst Himmel und Erde gegenwärtig sind‘, weit und grenzenlos, und in ihm ist alles gegenwärtig: die Kindheit der Sterne, der schilfige Mittelgraben, die jahrhundertgraue Linde, die Erlen, die Pappeln, der sandige Heuweg. Und vor allem die Menschen der damaligen Landschaft: die Magd Anna, die mich aufzog, der alte Knecht, der aus dem Bau der Spinnen das Wetter voraussagte, der alte Ziegeuner, der bei abnehmendem Mond die Gürtelrose, das Rheuma bepustete, die Schnitter, Kutscher, Stromer und Zigeuner. – Etwas vom Geruch eines zerriebenen Nußblatts – und wir sehen in einen verschollenen Sommer hinein. Nicht wir rufen das Vergangene an, das Vergangene ruft uns an.“
Dass Huchel auf dem Land aufgewachsen sei, gehört zu einer Wunschbiografie, die um so glaubhafter erscheint, als sie durch das spätere Werk bezeugt ist. Selbst in den Akten der Staatssicherheit liest man noch: „H. ist bäuerlicher Herkunft.“ Dabei wissen wir spätestens seit den Recherchen seiner Biografen Hub Nijssen und Stephen Parker, dass Huchel in eher kleinstädtischen Verhältnissen in Lichterfelde, das heute zu Berlin gehört, und in Potsdam aufgewachsen ist. Die Ehe der Eltern scheint nicht eben glücklich  gewesen zu sein. Ein Gedicht Huchels beschreibt den Vater, Wachtmeister im 3. Garde-Ulanregiment in Potsdam und später Kanzleibeamter, als einen Trinker. Die Mutter ist häufig krank und gibt das Kind zu den Großeltern. Hier erlebt Huchel die im Rückblick wichtigste Zeit seiner Kindheit, hier wächst das Inventar von Bildern, aus dem er für seine Lyrik ein Leben lang schöpft.
Wenn es je so etwas wie einen politischen Initiationsakt für Huchel gegeben hat, so fällt der in das Jahr 1920. Huchel selbst schreibt darüber: „Am Vormittag meldet sich der Sechzehnjährige von der Schulbank in die Reihen der Potsdamer Freikorps, stülpt der Sekundaner den Stahlhelm auf. Sein Zug, Dilettanten am Gewehr, Angestellte, Studenten, Schüler, wird unter dem Decknamen der Einwohnerwehr zum Schutz des Wasserwerks eingesetzt. Stacheldraht sperrt die Straße. Passanten, Autos werden aus Mangel an kriegerischer Betätigung angehalten und streng militärisch befragt. Auch sonst ist die Stimmung gehoben, ihre Grundlage gesund, hohe Tageslöhnung, Freibier, Zigaretten.“ Der Realschüler Huchel wird bei einer Schießerei „irrtümlich blessiert“ und erwacht in dem „matterleuchteten Gang des Krankenhauses“: „Zwei Monate liegt er dort, ausgelöscht in der weißgetünchten Melancholie des Krankenzimmers. Erst spät kommt es zu Debatten von Bett zu Bett: Politik. Der Nachbar, ein Metalldreher, macht ihm immer wieder die einfachsten Begriffe klar. Mit einem Heizer, der seine Lokomotive Lotte nennt, schließt er Freundschaft. Am Stock verläßt er das Krankenhaus. Ein Schuß hat genügt, um in ein neues Leben zu humpeln.“
Mitpatienten hatten ihm das Antikriegsbuch Le Fell von Henri Barbusse gegeben. „Von da an war ich vollkommen rot“, berichtet Huchel nicht ohne Selbstironie. Doch Politik war es nicht, was ihn während seiner späten Schuljahre und in seiner Studienzeit umtrieb. Schon der Schüler erkannte (wie sich Freunde später erinnern) seine Berufung zum Dichter. Erste Lyrik kreist um Gottsuche und Menschheitsversöhnung, Spuren Rilkes sind ebenso wenig zu verleugnen wie Einflüsse des Expressionismus:

Du Name Gott, wie kann ich dich begreifen?
Du schweigst bewölkt. Du bist. Wir aber werden
nicht Frucht aus deinem Wort. O regne Licht
in uns!
(…)

Noch ist nicht klar, ob dies der Anfang eines bedeutenden lyrischen Werks oder ein Beispiel für die literarische Begleiterscheinung reifender Selbstfindung ist, die in späteren Lebensphasen gern verleugnet wird. Für Huchel selbst scheint es solche Zweifel niemals gegeben zu haben. Schon der Abiturient stellte, vorerst ohne Aussicht auf Publikation, ein erstes Heft von Gedichten zusammen, die zwischen 1918 und 1923 entstanden waren. Folgerichtig war die Entscheidung, ein Studium der Literatur und Philosophie aufzunehmen. Nach zwei Jahren an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität setzte er sein Studium 1925/26 in Freiburg und Wien fort, kehrte nach Berlin zurück, brach das Studium schließlich ab und ging für weitere zwei Jahre nach Frankreich. Huchels Interessen waren weniger wissenschaftlicher als allgemein geistesgeschichtlicher Natur. Er interessierte sich für Kunstgeschichte und Religion, entdeckte für sich die Mystiker und belegte eine Vorlesung zur Sexualpsychologie. In Wien hörte er unter anderem „Politische Lyrik des 18. und 19. Jahrhunderts“. Hans Arno Joachim, der in den frühen Jahren sein literarischer Mentor war, vermittelte erste Kontakte zu Schriftstellern. Nicht weniger entscheidend waren jedoch die Kontakte, die Huchel in Berlin knüpfte. Dort machte er die Bekanntschaft von Karola Piotrkowska, der späteren Karola Bloch, die zu dieser Zeit mit Alfred Kantorowicz zusammenlebte. Durch sie kam Huchel mit jenen zionistischen und marxistischen Kreisen in Berührung, die sich von den parteigebundenen Genossen den Vorwurf des „Salonkommunismus“ gefallen lassen mussten. Der Student begeisterte sich für Oskar Goldbergs Buch Die Wirklichkeit der Hebräer und gehörte ein Jahr lang zu den Jüngern dieses eigenwilligen Gelehrten. Was ihn sonst zu jener Zeit intellektuell bewegte, hat er im Rückblick beschrieben: „(Ich) las Trakl und Kafka, las Freud und die Spuren von Bloch. Eine neue Welt tat sich mir auf, als ich die Mystiker entdeckte, vor allem Jacob Böhme. Von Francis Bacon übernahm ich als Leitwort: ,Wenig Wissen jagt die Götter fort, mehr Wissen bringt sie wieder zurück.‘“
Mit diesem Leitwort war Huchel nicht gerade zum orthodoxen Marxisten prädestiniert. Auch anderes hielt ihn davon fern, sich vorbehaltlos zum Kommunismus zu bekennen: Er war nicht weit genug entfernt vom Alltag und den Nöten der ärmeren Schichten aufgewachsen, als dass er an die Phrasen vom besseren Menschen hätte glauben können, wie sie viele Intellektuelle aus dem Großbürgertum, die zur KPD gestoßen waren, nachbeteten. Ein biografischer Nachholbedarf oder ein Bewährungsdruck bestand für Huchel nicht. Vermutlich noch entscheidender für sein distanziertes Verhältnis zum organisierten Kommunismus war die Scheu, durch ein ernst gemeintes Bekenntnis zum geschlossenen marxistischen Weltbild mit seinen Zweifeln und Fragen auch jene Quellen zu versiegeln, aus denen er für seine Lyrik schöpfte. In seinem Text „Europa Neunzehnhunderttraurig“, der 1931 in der Literarischen Welt von Willy Haas erschien, schreibt er darüber: „(…) er hat sich nicht an dem Start nach Unterschlupf beteiligt. Seine Altersgenossen sitzen im Parteibüro, und manchmal geben sie sogar zu, daß es aus irgendeiner Ecke her nicht gut riecht. Immerhin, sie haben ihr Dach über dem Kopf. Aber da ihm selbst die marxistische Würde nicht zu Gesicht steht, wird er sich unter aussichtslosem Himmel weiterhin einregnen lassen. Sie winken aus der Arche der Partei, und er versteht ihren Zuruf. Der lautet: ,Wir können dir an Hand des Unterbaues nachweisen, daß du absacken wirst, ohne ein Lücke zu hinterlassen.‘ Aber dagegen hat er nicht viel einzuwenden, nichts zu erwidern. Sie müssen es wissen, denn sie haben die Wissenschaft. Doch unterdessen schlägt sein Herz privat weiter. Und er lebt ohne Entschuldigung.“
Das klingt kaum anders als das Credo des jungen Günter Eich, der im Jahr zuvor in der Zeitschrift Kolonne auf die selbst gestellte Frage „Verantwortung vor der Zeit?“ antwortete: „Nicht im geringsten. Nur vor mir selber.“ Und doch war der biografische Hintergrund, vor dem vergleichbare Einstellungen gewachsen waren, denkbar verschieden. Eich gehörte – gemeinsam mit Martin Raschke und Adolf Artur Kuhnert – zum Freundeskreis, der im Dresdner Jess-Verlag die Zeitschrift Kolonne herausgab. Hier hatten sich junge Lyriker zusammengefunden, die mit ihrem neuromantischen und zivilisationskritischen Dichtungsverständnis Front machten gegen die ideologische Vereinnahmung der Literatur. Politische Enthaltsamkeit gehörte zum Programm, und sicher geht man nicht fehl, hinter der elitär wirkenden Trennung von (für den Tag geschriebener) Literatur und (überzeitlicher) Dichtung oder der Ächtung des städtischen Lebens eine grundsätzlich konservative Weltanschauung zu sehen. Ein gewisser Widerspruch zu dieser Haltung tut sich allerdings im Hinblick auf die Tatsache auf, dass gerade Raschke und Eich das damals modernste Kommunikationsmittel, den Rundfunk, glänzend für ihre Arbeit zu nutzen wussten. Die Lebenswege von Eich und Huchel begegneten sich ein erstes Mal 1932, als Peter Huchel unter 547 Einsendern den Lyrikpreis der Kolonne gewann. „Die Worte öffnen sich wie Fächer, und es entfällt ihnen die verlorene Zeit“, heißt es in der Laudatio auf den Preisträger.
Während dieser Zeit lebte Huchel in der Berliner Künstlerkolonie am Laubenheimer Platz, im Nachbarhaus wohnten Karola und Ernst Bloch. Huchels Freund Alfred Kantorowicz, der vier Häuser weiter lebte, war kommunistischer Zellenleiter. Er stand einer Gruppe vor, zu der neben anderen Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner, Ernst Busch, Erich Weinert, Arthur Koestler, Erich Mühsam, Wilhelm Reich und Max Schroeder gehörten. 1947 urteilt Kantorowicz im Rückblick auf diese Zeit über Huchel: „(Er) hatte auf seine verschlafene, musisch-versponnene Weise mit unseren Kampfaktionen gegen die Nazis sympathisiert, ohne sich bei Freund und Feind sonderlich bemerkbar zu machen.“ Peter Huchel, der durch den Kolonne-Preis bekannt geworden war, bekam vom Dresdner Verleger Jess das Angebot, einen Band in seinem Verlag zu veröffentlichen. Zuvor schon hatte Eich 1930 im Jess-Verlag debütiert, 1931 sollte dort ein Lyrikband von Hermann Kasack erscheinen, was jedoch an finanziellen Problemen des Verlags scheiterte. Die Arbeiten an dem Band, der unter dem Titel Der Knabenteich erscheinen sollte, zog sich bis in die erste Jahreshälfte 1933 hinein und schließlich verzichtete Huchel – angesichts der „veränderten geschichtlichen Lage“, wie Benn es formuliert hatte, und vermutlich auch aus literarischen Bedenken – auf eine Publikation des satzfertigen Manuskripts. Axel Vieregg, Herausgeber der Gesammelten Werke des Dichters, hat auf Grund eines im Nachlass überlieferten Inhaltsverzeichnisses die Gedichtsammlung rekonstruiert. Bezeichnend ist, dass mehr als die Hälfte der Texte – 39 Gedichte vor allem aus der ersten Hälfte der zwanziger Jahre – zu Lebzeiten Huchels nie wieder erschienen sind. Nur 18 der insgesamt 73 Titel übernahm der äußerst selbstkritische Dichter fünfzehn Jahre später für den Band Gedichte. In einer Selbstanzeige zum Knabenteich, die er im Dezember 1932 im Rundfunk las, heißt es: „Die erste Bedingung zum Verständnis dieser Verse wird darin bestehen, sich diesem Buch ohne jede Programmforderung zu nähern. Denn zeitnah sind die Gedichte nur zum Teil, nämlich sofern es ihnen gelungen ist, die vergangene Zeit wieder gegenwärtig zu machen. Nicht immer wird das den Gedichten gelungen sein; aber wo sie sich dem Vorsatz nähern, muß in ihnen wieder die Kindheit sichtbar werden, ein Stück Natur, ein Stück Leben, das seit ,damals‘ unter Tag lag. Auch die Menschen, und nicht zuletzt diese, müssen sichtbar werden. (…) Niemals wird die Landschaft (der Zauche, der Mark) fotografisch gesehen, niemals wird sie naiv – als Lied zur Laute – besungen; mit Horizonten und Bäumen – von innen her will sie über die bloße Idylle hinaus; und meist erscheint sie nur, wenn der Mensch in ihr auftaucht. Oft trägt dann der Mensch die Züge der Natur, und die Natur nimmt das Gesicht des Menschen an. Aber nicht so sehr das Hinfinden des Menschen zur Natur, nicht so sehr das Einfühlen oder die Rückkehr in die Natur will in den Gedichten zum Ausdruck kommen, mehr noch ist es die Natur als Handelnde, die auf den Menschen eindringt und ihn in sich hineinzieht.“ Es fällt auf, dass sich diese Selbstanzeige im Ton kaum von dem eingangs zitierten autobiografischen Text aus den sechziger Jahren unterscheidet. Tatsächlich ist das wenige an Prosa, das seit dem Beginn der dreißiger Jahre von Huchel überliefert ist, genauso sorgfältig gearbeitet wie die Lyrik. Einmal als gültig erkannte Bilder und Wendungen finden sich teilweise über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten in den verschiedenen Reden, Briefen und Interviews wieder. So kann Huchel noch 1962 ganze Passagen aus seiner Selbstanzeige von 1932 nutzen, um eine Lesung im alten Gutshaus seiner Großeltern in Alt-Langerwisch einzuleiten.
Die sogenannte Machtübernahme durch die Nazis war auch für Huchel mit einschneidenden Veränderungen verbunden. Die Künstlerkolonie wurde von einem SA-Trupp überrollt, es kam zu Haussuchungen und Verhaftungen. Freunde wie Hans Arno Joachim, Kantorowicz und Bloch mussten emigrieren. Jetzt wurde das Geflecht von Beziehungen wichtig, das Huchel zu den jungen Autoren des Kolonne-Kreises geknüpft hatte, von denen sich einige inzwischen um die Berliner Rabenpresse von V.O. Stomps geschart hatten. Horst Lange vermittelte den für Huchels schriftstellerisches Überleben im „Dritten Reich“ folgenreichen Kontakt zu Wilhelm Hoffmann, dem Ehemann Elisabeth Langgässers, der bis 1935 bei der Berliner Funkstunde arbeitete. Zu den Freunden jener Zeit, die in Deutschland verblieben, gehörten neben Horst Lange und Oda Schäfer auch Günter Eich, Eberhard Meckel, Werner und Charlotte Bergengruen sowie bis zu seiner Emigration Sebastian Haffner. Nach seiner Rückkehr von einem einjährigen Aufenthalt bei den Eltern seiner Frau in Siebenbürgen hatte Huchel eine erste Auftragsarbeit des Rundfunks erfolgreich abschließen können. Bis zur kriegsbedingten Einstellung der Hörfunkproduktion 1940 schrieb er nach eigenen Angaben ungefähr 35 Hörspiele, von denen nur etwa die Hälfte im Text und ein weiteres Dutzend mit Titelangaben oder als Vorstufen überliefert sind. Lyrik von Huchel ist seit 1935 kaum noch erschienen, gerade einmal zwei neue Gedichte und sieben Nachdrucke sind bis 1946 veröffentlicht worden. Dazu gehört das Gedicht „Späte Zeit“:

Still das Laub am Baum verklagt.
Einsam frieren Moos und Grund.
Über allen Jägern jagt
hoch im Wind ein fremder Hund.

Überall im nassen Sand
liegt des Waldes Pulverbrand,
Eicheln wie Patronen.

Herbst schoß seine Schüsse ab,
leise Schüsse übers Grab.
Horch, es rascheln Totenkronen,
Nebel ziehen und Dämonen.

Im Juni 1940 hatte die Redaktion der Zeitschrift Die Dame einen Lyrikpreis ausgeschrieben, im Oktober waren einige der Einsendungen abgedruckt worden, darunter das Gedicht Huchels. Zur Jury gehörten unter anderem Marie Luise Kaschnitz und Georg Britting. Preisgekrönt wurde nicht Huchels Gedicht, sondern das des Oberstabsarztes Bodo Schütt, das, wie es in der Begründung heißt, „in seiner sehr männlichen Verhaltenheit und zuchtvollen Strenge, in seiner vor Empfindung gleichsam stählernen Härte als das allgemeingültige Bekenntnis eines Mannes (wirkt), der die Kraft hat, sein Herz dem großen deutschen Aufbruch darzubringen“. Im Vergleich dazu hätte sich Huchelleicht den Vorwurf des Defätismus einhandeln können allzu deutlich sind die Anspielungen auf die „Apokalyptischen Reiter“, allzu nahe liegt die Frage nach den – wie auch immer gebrochenen – zeitgeschichtlichen Urbildern der „Dämonen“. Andererseits hätte eine wohlwollende Lesart die Ästhetisierung des Untergangs hervorheben können, die durchaus zum nationalsozialistischen Themenrepertoire gehörte. Hier wird ein Phänomen deutlich, das auch bei der Betrachtung anderer Huchel-Gedichte eine Rolle spielt: Die Logik einer nach politischen Spuren suchenden Betrachtungsweise führt beinahe zwangsläufig auf die Frage, ob es sich bei den Strophen um ein im politischen Sinne „harmloses“ Gedicht, im konkreten Fall um die lyrische Verdichtung eines diffusen Endzeitgefühls, oder um einen „literarischen Kassiber“, eine verschlüsselte Zeitkritik handle. Worin mögen die Gründe für eine derartige Verengung der Perspektive liegen? Zum einen im Gedicht selbst, das die Stichworte für eine zeitkritische Spurensuche liefert. Zum anderen sind die Interpretationen von Huchels Lyrik postum in das Spannungsfeld einer Debatte geraten, in der ihm – verkürzt gesagt – auf der einen Seite vorgeworfen wird, mit dem NS-Regime geistig kollaboriert, und auf der anderen Seite attestiert wird, mit literarischen Mitteln unter den wechselnden Herrschaftsverhältnissen opponiert zu haben. Wer Wirkungsabsichten außerhalb dieser Polarität unterstellt, wird sogleich mit dem Vorwurf moralischer Indifferenz konfrontiert.
Von den Hörspielen tat Huchel die meisten später als „Brotarbeiten“ ab. Eine Reihe dieser Stücke ist als Bearbeitung von literarischen Vorlagen entstanden, andere stützen sich auf authentische historische Quellen und literarische Vorbilder, wie etwa „Margarethe Minde“. Handschriftliche Randbemerkungen in „Die Greuel von Denshawai“ dokumentieren überdies, dass Huchel sich 1939/40 mit dem politisch-sarkastischen und antibritischen Text von George Bernard Shaw im Hinblick auf eine Hörspielbearbeitung beschäftigte. Da weder ein Tonträger noch ein Manuskript dieser Shaw-Bearbeitung überliefert ist – auch die Ankündigungen in den Rundfunkzeitschriften sind ungenau −, ist jedoch unklar, ob dieses Stück überhaupt gesendet wurde. Zu konstatieren ist die Bereitschaft Huchels, sich an der antibritischen Kriegspropaganda zu beteiligen. Mit Kriegsbeginn und Zusammenlegung der Sender zu einem Einheitsprogramm erlosch das offizielle Interesse an Hörspielen. Durch die ausbleibenden Aufträge geriet Huchel in Geldnot und erhielt von der Schiller-Stiftung in Weimar mehrere Zuwendungen aus der Notstandskasse. 1941 erfolgte seine Einberufung. Er wurde zunächst als Flugmelder in einem kleinen Dorf bei Greifswald eingesetzt. Mit Hilfe privater Beziehungen gelang es ihm jedoch gegen Ende 1942, nach Berlin-Grunewald versetzt zu werden. Als Huchel Ende April 1945 in der Nähe von Berlin in sowjetische Kriegsgefangenschaft geriet, war er noch immer Obergefreiter. Über die relativ kurze Zeit der Kriegsgefangenschaft schreibt er 1951 in einem Lebenslauf:

(…) übernahm im Lager Rüdersdorf die politische und kulturelle Betreuung der Kameraden (Leitung des Antifa-Aktivs). August/September 1945 Schüler der Schule der SMA (…).

Am 13. Mai 1945 hatte eine Gruppe deutscher kommunistischer Emigranten unter sowjetischer Leitung begonnen, den Sendebetrieb des Rundfunks in der Masurenallee wieder aufzunehmen; Huchel wurde im September 1945 als Sendeleiters beim Sender angestellt. Am 1. August 1946 avancierte er zum einflussreichen Sendedirektor und Direktor des Berliner Rundfunks. Zu dieser Zeit leitete er die „Autorenstunde“, in der er dem Publikum in jeweils halbstündigen Sendungen Autoren wie Elisabeth Langgässer, August Scholtis, Hedda Zinner und Hermann Kasack vorstellte – alles alte Bekannte aus der Zeit der Künstlerkolonie. Daneben betreute er Hörspielseminare, organisierte Tagungen, schlug sich mit administrativen Angelegenheiten herum und lud zu öffentlichen Diskussionen ein.
Der Übergang in die neue Zeit ist Huchel erstaunlich schnell und reibungslos gelungen. Gerade fünf Jahre, nachdem in der Berliner Masurenallee sein letztes Hörspiel produziert worden war, kehrte der Autor als Dramaturg und später gar als Sendeleiter in dasselbe Gebäude zurück. Kantorowicz, der Jugendfreund aus den dreißiger Jahren, beschreibt mehr als drei Jahrzehnte später in seinem Deutschen Tagebuch eine Traumszene, in der er von Huchel ermutigt wird, ihn zu Hermann Göring ins „Haus des Rundfunks“, jenen gigantischen Poelzig-Bau aus den letzten Jahren der Weimarer Republik, zu begleiten. Max Schroeder, der Leiter des Aufbau Verlags, dem Kantorowicz von seinem Traum erzählte, setzte Göring mit Johannes R. Becher gleich. Der Traum von Kantorowicz berührt gleich zwei Empfindlichkeiten: Zum einen Huchels vermeintliche Nähe zur wechselnden Macht, zum anderen die als ungerecht empfundene Protektion eines Dagebliebenen, während ihm, dem Emigranten, das Leben zunehmend schwer gemacht wurde. Auch im Kreis der Freunde, der in den vergangenen zwölf Jahren entstanden war, gab es Irritationen im Hinblick auf das Engagement Huchels für die neuen Machthaber. Kaum eine der Freundschaften aus dieser Zeit überlebte. Günter Eich unternahm mehrere briefliche Anläufe, um mit Huchel wieder in Kontakt zu kommen. Zu einer Zusammenarbeit, wie sie seit 1934 üblich gewesen war, kam es später nicht mehr. Freilich brachte Huchel, der Ende 1948 die Stellung beim Berliner Rundfunk mit der Chefredaktion von Sinn und Form tauschte, in einem der ersten Hefte Übertragungen von Eich aus dem Chinesischen.  Dies blieb jedoch – abgesehen von der Doppelnummer 5/6 1962 – der einzige Beitrag Eichs in der von Huchel verantworteten Redaktionszeit.
Erst 1948, zum Teil über zwei Jahrzehnte nach ihrer Entstehung, erschienen die Gedichte Huchels in einem eigenständigen Band – gleichzeitig bei Aufbau und im Westen als Lizenzausgabe im Stahlberg Verlag. Die Kritiken sind durchweg positiv, es wird auf Loerke und Lehmann als Vorbilder verwiesen – eine literarische Sensation löste der Band jedoch nicht aus. Im Osten erschienen die Gedichte Huchels im Klima der beginnenden Formalismus-Realismus-Debatte schon nicht mehr als zeitgemäß, zu wenig zupackend, zu wenig „realistisch“, auch wenn die Toleranzgrenzen noch lange nicht so eng waren wie in den kommenden Jahren. Bei den in dem Band versammelten Gedichten spielen die Sujets Kindheit und Natur eine bestimmende Rolle, einige der Gedichte beziehen sich unter dem Titel „Zwölf Nächte“ thematisch auf die jüngste Zeitgeschichte. Eingeleitet wird diese Abteilung mit dem schon erwähnten „Späte Zeit“, es folgt unter anderem „Deutschland“, ein Zyklus, dessen zweiter Teil in der 1948 publizierten Fassung lautet:

Welt der Wölfe, Welt der Ratten.
Blut und Aas am kalten Herde.
Aber noch streifen die Schatten
der toten Götter die Erde.

Göttlich bleibt der Mensch und versöhnt.
Und sein Atem wird frei wieder wehen.
Wenn auch die heulende Rotte höhnt,
sie wird vergehen.

Dass er dieses Gedicht als literarischen Kommentar zum Zeitgeschehen verstanden wissen wollte, hat Huchel mit der (im Band ansonsten nur spärlich vorgenommenen) Datierung auf das Jahr 1939 deutlich gemacht. Die Strophen korrespondieren mit einem der Manifeste des aufgeklärten Humanismus, Goethes Gedicht „Das Göttliche“. Auf den goetheschen Imperativ „Edel sei der Mensch, / hilfreich und gut!“ antwortet Huchels Gedicht mit der Gewissheit: „Göttlich bleibt der Mensch und versöhnt“. Hier ist ein optimistisches Deutungsmuster vorgezeichnet, das nach dem Krieg die retrospektive Wahrnehmung des „Dritten Reichs“ vielfach bestimmen sollte: Die Jahre des Nazi-Regimes wurden als „Rückschritt in die Barbarei“, als Verzögerung innerhalb eines geschichtlichen Verlaufs begriffen, der grundsätzlich von der fortschreitenden Humanisierung der Gesellschaft geprägt sei. Unabhängig davon, dass dieser Optimismus bei Huchel wie eine Selbstüberredung wirkt, leidet die poetische Substanz des Gedichts unter der geschichtsphilosophischen Abstraktion. So fallen Huchels lyrische Ausflüge in Bereiche der politischen Zeitkritik – gemessen an seinem sonstigen Werk – literarisch wenig überzeugend aus. Im Abgleiten in das rein Stimmungshafte oder ins Deklamatorische holt den Lyriker – freilich auf hohem Niveau – jenes Phänomen ein, das er selbst einmal beschrieben hat: „Nicht jedem liegt die politische Deklamation“, schrieb er 1953, auf dem Höhepunkt einer inquisitorischen Debatte gegen den sogenannten Formalismus, „aber ein Gedicht, das ein sehr persönliches Erlebnis in der Sprache wirklich macht, kann weit mehr von der Bewegtheit der Zeit durchweht sein als eine Reimerei, die sich politisch gibt.“
Anfang der fünfziger Jahre kam die Zeitschrift Sinn und Form wegen ihrer vermeintlich elitären Ausrichtung ins Schußfeld. Das auf den ersten Blick Unpolitische der Texte wurde als Abstinenz, als neue „Innere Emigration“ beargwöhnt und zunehmend zum Politikum – frei nach dem Becher-Motto von 1929: „Und wenn ihr schweigt, wir fragen, worüber ihr schweigt: in euch schweigt die Klasse, auch euer Schweigen ist Stellungnahme.“ Doch gerade Becher hatte Huchel 1948 zum Chefredakteur gemacht, und Brecht war es, der schützend seine Hände über das Unternehmen hielt, als Huchel 1953 das erste Mal entlassen werden sollte. Damals weigerte sich der Chefredakteur, eine Kantate von Becher und Ernst Hermann Meyer auf Ulbrichts 60. Geburtstag zu drucken. Sinn und Form war seit 1950 eine Zeitschrift der Akademie der Künste in Ost-Berlin und Huchel hatte alle Mühe, sie vor den ausschweifenden Publikationsgelüsten der Akademiemitglieder zu schützen und das Niveau der ersten Jahre bei einer immer engstirniger werdenden Kulturpolitik zu halten. Förderlich dabei wirkten der abgelegene Redaktionsort, das private Haus des Dichters in Wilhelmshorst bei Potsdam sowie der autoritäre Stil des Chefredakteurs, dessen Sicherheit und Kompromisslosigkeit in der literarischen Bewertung einhergingen mit der Fähigkeit, wo es sein musste, politische Kompromisse zu machen. Ein Beispiel dafür dürfte das Heft 2/1953 mit den Beiträgen zum Tod Stalins sein, in dem unter anderem Johannes R. Becher mit seinem Gedicht „Danksagung“ vertreten ist. Zwei Strophen im Folgenden zur Veranschaulichung:

Dort wird er sein, wo sich von ihm die Fluten
Des Rheins erzählen und der Kölner Dom.
Dort wird er sein in allem Schönen, Guten,
Auf jedem Berg, an jedem deutschen Strom.

Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
Und winkt zu sich heran ein scheues Reh.

Im gleichen Heft legte sich der damals in Warschau lebende Kritiker Marceli Ranicki in einem Beitrag über Erich Weinert mit Becher an, der sich „der Versuchung des Expressionismus“ nicht widersetzt hätte, folgerichtig seien „fast sämtliche Gedichte Bechers, die aus jener Zeit stammen, heute schon in Vergessenheit geraten“. Was den Ruf dieser Zeitschrift, von der Walter Jens einmal als dem „geheimen Journal der Nation“ sprach und der Enzensberger seine erste Begegnung mit Adorno verdankt, was den Ruf von Sinn und Form unter Peter Huchel jedoch eigentlich ausmachte, war die Aktualität der literarischen und essayistischen Beiträge im Sinn ihrer überzeitlichen Geltung; gleich in den ersten Nummern Beiträge von Romain Rolland, Oskar Loerke, Ernst Niekisch, Hermann Kasack und Gertrud Kolmar. Jean Paul Sartre, Bertolt Brecht, Ernst Bloch und Thomas Mann gehörten ebenso zu den Beiträgern wie Hans Mayer oder Hans Henny Jahnn. Als „stille Enklave des Liberalismus“ wurde die Zeitschrift im Westen gelobt. Freilich war es damit schon bald nach dem Bau der Mauer vorbei. Die Strategie der SED hatte sich geändert, trotz anhaltender rhetorischer Beteuerungen war man nicht mehr wirklich an einer gesamtdeutschen Ausrichtung der Politik interessiert. Die Zeit der Volkskongresse und gesamtdeutschen Begegnungen war vorüber, jenseits der Hoffnungen vieler Intellektueller in der DDR auf eine offene Debatte über die Entwicklung der Gesellschaft, ging es nur noch um die Sicherung des eigenen Terrains.
Auch auf ideologischem Gebiet wurden die Zügel angezogen. Huchel hatte immer häufiger vor der Akademie der Künste Rede und Antwort zu stehen. Im Archiv der Akademie sind Listen aus jener Zeit überliefert, in denen eine statistische Auswertung der Zeitschrift zu dem Schluss kommt, dass unverhältnismäßig wenige Autoren aus den sozialistischen Ländern vertreten seien und die Problematik des sozialistischen Aufbaus in der DDR in den Beiträgen keine Beachtung fände. Die Konzeption der Zeitschrift als gesamtdeutsches Aushängeschild und als Identifikationsangebot für die Reste des in der DDR verbliebenen Bildungsbürgertums hatte sich mit dem Mauerbau schlicht überholt. Huchel sollte – gewissermaßen als ideologisches Korrektiv – Bodo Uhse als zweiter Chefredakteur zur Seite gestellt werden. Auch sollte er die Zeitschrift stärker den Belangen der Akademie öffnen. Inzwischen einigermaßen erfahren im Umgang mit den Funktionären, erkannte Huchel darin zu Recht den Versuch, ihn schleichend aus der Redaktion zu drängen. Doch diesmal zog er mit der Zusammenstellung des eingangs erwähnten Doppelhefts die offene Konfrontation vor. Verschärft wurde die Situation dadurch, dass Huchel im Frühjahr 1963 den Fontane-Preis der Stadt Berlin verliehen bekommen hatte, einen Preis des „Frontstadtsenats“, wie es auf der anderen Seite der Mauer hieß. Sofort wurde alles mobilisiert, um den Dichter von der Annahme des Preises abzuhalten. Die Funktionäre gaben sich in Wilhelmshorst die Klinke in die Hand, Politbüromitglied Alfred Kurella schreibt nach einem Besuch bei Huchel:

Lieber Peter Huchel!
Auf der ganzen Rückfahrt kam ich nicht von folgendem Gedanken los: Mit Ihrer bisher wiederholt bewiesenen Stellung zu unserer Republik und zu einem antifaschistischen Deutschland müssen Sie doch verstehen, daß durch die Veranstaltung des Westberliner Senats ein neues Faktum entstanden ist, das Sie nicht hinnehmen können. (…) Sie haben wiederholt von Würde und von Stolz gesprochen. Es kann weder Ihre Würde noch Ihren Stolz verletzen, wenn Sie zu dem neuen Tatsachenbestand neu Stellung nehmen und Rudolf Hartung etwa in folgendem Sinne schreiben:
Sie haben in dem Beschluß der Jury eine  Würdigung Ihres dichterischen Werkes gesehen. Inzwischen ist der Preis aber übernommen und verteilt worden durch den Westberliner Senat. Sie müssen sich versagen, diesen Senat politisch zu qualifizieren. Aber Sie können aus der Hand dieses politischen Gremiums, dessen Handlungen Ihrer politischen Überzeugung zuwiderlaufen, keinen Preis entgegennehmen. Deshalb müssen Sie mit dem Ausdruck des Leidwesens gegenüber der Jury Ihre Zustimmung zu dem Preis rückgängig machen.
Das soll kein ,Entwurf‘ sein. – So ungefähr würde ich in dieser Lage einen solchen Brief schreiben. (…) In der aufrichtigen Hoffnung, daß uns die gemeinsame Grundlage einer antifaschistischen Haltung gewahrt bleibt, Ihr Professor Kurella.

Die plumpe Einflüsterung zeigte keine Wirkung: Huchel hatte sich bereits entschieden, ohne zu wissen, was das für die nächsten Jahre bedeuten würde. Die geplante Ausreise nach Italien, zunächst auf Einladung Gottfried Bermann-Fischers nach Camaiore, kommt nicht zustande. In einem erst jüngst von Stephen Parker aufgefundenen Dokument kann man die Anweisungen Ulbrichts nachlesen, Huchel nicht ausreisen zu lassen, sondern ihn unauffällig wieder in den ostdeutschen Kulturbetrieb einzubinden. Das Problem sollte möglichst rasch aus dem Focus westlicher Publizität verschwinden. Was das für Huchel bis 1971 bedeutete, hat er als Notiz für ein Gespräch mit Kurt Hager resümiert:

Seit acht Jahren keine Genehmigung für Reisen, trotz wiederholter Anträge bei den zuständigen Stellen: Deutsche Akademie der Künste, Ministerium für Kultur, Schriftstellerverband. Gleichfalls keine Genehmigung zum Besuch der Mitgliederversammlungen der Hamburger oder der Westberliner Akademie. Keine Genehmigung für Autorenlesungen in Westdeutschland oder im Ausland (Schweden, Kanada). Seit über einem Jahr besonders deutliche Isolierung durch verstärkte Konfiszierung meiner Post: mich erreichte nicht die Mitteilung von der Verleihung des großen Kunstpreises von Nordrhein- Westfalen oder die Ernennung zum ordentlichen Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Seit Jahren Konfiszierung jeder westdeutschen oder ausländischen Literaturzeitschrift.

Ungenannt bleibt die Bespitzelung durch die Staatssicherheit, die einen Nachbarn angeworben hatte, das Haus und die Familie zu beobachten, den Briefverkehr in beide Richtungen filterte und sämtliche Telefongespräche der Familie mithörte. Einem Brief Monica Huchels an die Wagenbachs, in dem sie von einer zugelaufenen Katze berichtet, glaubte die Staatssicherheit einen Fluchtplan entnehmen zu können. Monica Huchel schreibt:

Ein kleiner Haken ist bei dem Vergnügen, denn Sascha (der Hund) ist seiner ganzen Statur nach ein Katzenmörder – deshalb müssen Schleusen gebaut werden und eine gedachte Koexistenz kann nur sehr sukzessiv eingerichtet werden.

Der letzte Satz ist in der Briefkopie, die sich in den Unterlagen der Staatssicherheit fand, unterstrichen, darunter steht handschriftlich zur Erläuterung:

Verdacht Grenzdurchbruch.

Man wusste, dass Huchel überwacht wird. Die ihn dennoch in jener Zeit besuchten, hatten entweder nichts mehr zu verlieren wie Wolf Biermann, Günter Kunert, Norbert Randow und Henryk Bereska, oder sie waren nicht gewillt, Rücksicht zu nehmen, wie der junge Jürgen Israel, damals Lektor im Verlag von Noa Kiepenheuer und kurz darauf im Gefängnis wegen Wehrdienstverweigerung. Oder der Student Stefan Welzk, der den spektakulären Protest gegen die Sprengung der Leipziger Universitätskirche organisierte und auf abenteuerliche Weise mit dem Schlauchboot über das Schwarze Meer in den Westen flüchtete.
1963 – fünfzehn Jahre nach dem späten Debüt von 1948 – war der zweite Gedichtband von Huchel unter dem Titel Chausseen Chausseen im S. Fischer Verlag erschienen. Anders als im Band Gedichte bilden Kindheitserinnerungen in Chausseen Chausseen nur in wenigen Fällen den thematischen Rahmen für ein Gedicht. Zum ersten Mal nehmen die Landschaften des Südens einen großen Raum in der Lyrik Huchels ein, andere Gedichte spiegeln Erinnerungen an die zwanziger Jahre, als Huchel durch Südfrankreich wanderte, und an die Verheerungen des Kriegs. Als Reaktion auf eine einstimmig positive bis euphorische Besprechung des Bands in der westdeutschen Presse meldete sich Wilhelm Lehmann mit einer radikalen Kritik zu Wort, die im Kern den Vorwurf des „Lyrizismus“, des Epigonentums und mangelnder Genauigkeit bei der Verwendung von Natur-Metaphern enthält. Lehmann bemängelte, dass „das Lob der Dichtung mit dem Lob der mannhaften Haltung ihres heute sechzigjährigen Urhebers“ ernährt werde: „Lyrik als Widerstand gegen zeitgenössische politische Verhältnisse wird von vornherein auf das eigentlich Lyrische als ein zeitloses Element verzichten müssen.“ Für Lehmann verbot sich der Gebrauch von Naturmetaphern außerhalb der prägnanten Anschaulichkeit, für Huchel dagegen war die Natur „nicht mehr die heile, die absolute Natur, sondern es war für mich die vom Menschen veränderte Natur“. Bereits vierzig Jahre zuvor hatte Huchel formuliert: „Nicht wir rufen das Vergangene an, das Vergangene ruft uns an.“ Die Magie, die von den Dingen ausgeht, wird mit metaphorischer Tiefenschärfe eingefangen. Ein solches „naturmagisches“ Verfahren entzieht sich apriori politischer Instrumentalisierung, selbst wenn der Anlass des Gedichts ein politischer ist. Peter Härtling hat das auf die Formel gebracht: Huchels „Lyrik redet nicht von Politik, sie redet aus der Existenz“.
Nach beinahe neun Jahren der Isolation konnte die Familie im April 1971 nach Italien ausreisen. Im Anschluss an einen einjährigen Gastaufenthalt in der Villa Massimo zogen die Huchels nach Staufen im Breisgau. In Rom hatte Peter Huchel die während der vergangenen neun Jahre entstandenen Gedichte für eine Publikation bei Suhrkamp bearbeitet. Der Band erschien 1972 unter dem Titel Gezählte Tage. Zahlreiche dieser Texte stehen in direkter Beziehung zur Lebenssituation des Dichters in den Jahren, die von Überwachung und Schikanen geprägt waren. „Hubertusweg“, die Adresse von Huchels Haus und zugleich die einstige Redaktionsanschrift von Sinn und Form, gehört ebenso dazu wie „Unkraut“ oder „Am Tage meines Fortgehns“. Gerahmt wird der Band durch die Gedichte „Ophelia“, zu dem der Tod einer jungen Frau an der Mauer den Anlass gegeben hat, und „Das Gericht“, in dem Huchel die Erfahrung eines politisch motivierten Gerichtsverfahrens verarbeitet. Darin heißt es:

Wandanstarrend,
nicht fähig,
den blutigen Dunst
noch Morgenröte zu nennen,
hörte ich den Richter
das Urteil sprechen, zerbrochene Sätze aus vergilbten Papieren.
Er schlug den Aktendeckel zu.

Man könnte dies wohl ein „politisches Gedicht“ nennen, wenn man es nur als Schlussstein und äußere Bestätigung einer lange schon vollzogenen politischen Desillusionierung läse:

nicht fähig,
den blutigen Dunst
noch Morgenröte zu nennen

Was so schön in die kommunistische Ikonografie passte – das Panzerschiff Aurora gab den Startschuss in die neue Zeit – hat sich bei Huchel auf die martialische Basis des Gesellschaftsexperiments reduziert, auf den „blutigen Dunst“. Für „Das Gericht“ gilt jedoch auch, was Huchel mit Blick auf die biografisch-politische Bedeutungsschicht im Gedicht postuliert hatte – hier wird ein „sehr persönliches Ereignis in der Sprache wirklich“ gemacht. Huchel selbst antwortete im Rückblick auf die sechziger Jahre in einem Interview mit Karl Corino auf die Frage, ob seine Gedichte aus jener Zeit auch politisch seien:

Direkt politische Gedichte möchte ich nicht sagen. Aber es sind natürlich die Gedichte der damaligen Jahre, wo man mich gezwungen hatte, so auszusagen. Ich wollte also keine politischen Gedichte schreiben, aber jede andere Aussage wäre einfach verlogen gewesen.

Die letzten Jahre Huchels waren von der Rastlosigkeit des Heimatlosen geprägt. Eine Lesereise folgte auf die andere, Stationen innerhalb kurzer Zeit waren Italien, Österreich, Belgien, England, Holland, Norwegen, Schweden und die Schweiz. Zugleich wurde der Dichter mit Preisen überhäuft, seitdem er im Westen lebte; er erhielt den Merck-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung, den Österreichischen Staatspreis, den Literaturpreis der Deutschen Freimaurer, den Gryphius-Preis, alles in allem zehn Preise in acht Jahren, darunter die Mitgliedschaft im Orden pour le mérite. Als 1979 sein letzter Band unter dem Titel Die neunte Stunde erschien, war Huchel bereits von den Folgen eines Schlaganfalls gezeichnet. Die öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Dichter während seines letzten Lebensjahrzehnts im Westen zuteil wurde, war das Gegenstück zur erzwungenen Isolation in der DDR. Dass diese Aufmerksamkeit im Fall von Huchel einem der bedeutenden Lyriker seiner Zeit galt, wurde vielfach als glücklicher Rezeptionsumstand gedeutet. Ohne Zweifel jedoch hat die politische Perspektive eher den Blick auf das lyrische Werk Huchels verstellt. Auch wenn der Dichter im Einzelfall der Versuchung oder dem Druck nicht widerstanden hat, unvermittelt auf die Sphäre des Politischen einzugehen, hatte er – bei einem ausgeprägten sozialen Empfinden – an den Machtspielen der Politik kein Interesse. Nicht der Dichter, sondern der Chefredakteur von Sinn und Form war zur politischen Figur geworden, lange bevor er zum deutsch-deutschen Politikum wurde. Seine exponierte Stellung im Literaturbetrieb der DDR ließ dem Unpolitischen wenig Spielraum für politikfernes Wirken, sie bildete letztlich auch den Resonanzboden für den Fall Huchel. Dagegen liegen die Gebilde huchelscher Poesie nach wie vor unversehrt unter dem Geröll der politischen Wertungen. „(…) unterdessen schlägt sein Herz privat weiter. Und er lebt ohne Entschuldigung“, hatte Huchel den Altersgenossen im Parteibüro 1931 zugerufen. Die Zeiten waren nicht danach.

Peter Walther, aus: text + kritik – Peter Huchel Heft 157, edition text + kritik, München, Januar 2003.

Ich und Zeit im Gedicht Peter Huchels

Der Havel das Eis, den Kröten den Mund
öffnet April.
Der Himmel war vom Schnee noch wund,
ich kam auf die Welt, es regnete still
in der dritten Nacht April.

In keinem anderen in seine Lyrikbände aufgenommenen Gedicht hat Huchel so unverschlüsselt ein autobiographisches Datum benannt: den 3. April 1903, den Tag seiner Geburt.
Dabei hätte ihn unser Jahrhundert, in dem das Ich so stark wie niemals zuvor zu Wort drängt, dazu ermutigen sollen. Mit der Ich-Erkundung im Dschungel von Es und Über-Ich trat es in Wiener Behandlungszimmern hervor, ehe es seinen psychoanalytischen Siegeszug durch die Welt begann. Mit Selbstverwirklichung, Selbstdarstellung und Selbstentblößung will es enden.
Dem Ich, der Passion der Modernen, und dem Selbst, dem Atavismus der Postmodernen, begegnete Huchel mit Mißtrauen und ohne Pathos.
Er lernte weder sich selbst für das Maß aller Dinge zu halten noch sein Ich so zu zergliedern, daß jedes Rätsel daraus entfloh. Zum Irrglauben der Zeitgenossen, sich selbst zu verstehen, neigte er nicht.
Sein Selbstgefühl war trotz seiner Verletzlichkeit so stark, daß es durch die Fülle der ihm widerfahrenen Demütigungen zwar erschüttert, doch nie zerstört wurde. Immer erwog er, ob das, was er fühlte, dachte oder erlebt hatte, für den anderen wichtig oder auch nur interessant sein könne, gleichgültig, ob dieser andere sein Gegenüber im Gespräch oder sein Leser war.
Deshalb wurde es dem Besucher, dem Bekannten, ja, selbst dem oberflächlichen Freund schwer, den äußeren Umkreis des Huchelschen Daseins zu durchdringen und mit ihm über das zu reden, was ihn nicht nur als äußeres Ereignis bewegte oder gar empörte, sondern ihn geprägt hatte, von dem, worunter er denkend und empfindend litt, von dem, was ihn erhellte und freute.
Weit lieber als von sich selbst zu sprechen, lenkte er das Gespräch auf das Schicksal oder die gegenwärtige Situation des Gesprächspartners, verstand er es, ihm auch das Nichtigste zu entlocken. Das war nicht bloße Konversation, es war zugleich Interesse am Alltag, an der Gestalt, die das Leben, es mochte noch so trivial sein, im Einzelnen erfuhr. Denn daß ein Leben sich erhält und nicht in die Abgründe stürzt, die es umgeben, war ihm keineswegs selbstverständlich; auch wo es nicht als Wunder gelten konnte, blieb es für ihn bemerkenswert: ein Schnippchen, das Wille oder Gewohnheit dem Schicksal schlugen.
Das Ich, das in Huchels Gedichten spricht, verkörpert eine Fülle von Wesen und Konstellationen, die mit dem Dichter zuweilen eng, zuweilen in schwer deutbarer Weise verbunden sind.

Barfuß im Sauerampfer
lief ich zum Brombeertische,
Weide, der morsche Zaun
warf mich in Brennesselbüsche

Hier lief ich barfuß einst als Kind
und trug den braunen Kaffeekrug
zur Vesper im Lupinenwind.
Der Beifuß meine Füße schlug.

Der hier in die Kindheit zurückschaut, schildert sie als etwas unwiederbringlich Vergangenes, auch wenn er sie durch Bild- und Suggestionskraft für Augenblicke zu neuem Leben erweckt. Diese scheinbare heile Welt wird durch eine strenge soziale Hierarchie gegliedert: auf deren tiefster Stufe stehen Magd, Knecht, Tagelöhner und noch darunter allerlei fahrendes, durch seine Unstetheit geheimnisvolles Volk. Armut und Not sind nicht fern, und dennoch zerstören sie die aus sich selbst lebende agrarische Sphäre nicht. Sie kennt, wiewohl in die lineare Zeit des christlichen Weltalters gezwungen, den mythischen Kreislauf noch. Diese Atmosphäre bringt das Wesen des Kindes hervor, wird aber wiederum von ihm und damit vom Dichter erschaffen, der sich die Augen des Kindes, das er gewesen ist, leiht, um zurückzuschauen. Das Kinderauge zergliedert nicht und verwandelt, was es sieht, nicht durch Vorurteil und Reflexion. Es schaut, was sich erschauen lassen will, mag es nun dem Erwachsenenblick sichtbar oder unsichtbar sein. Das Kinderauge sieht mit durchaus nicht schuldloser Unschuld eine Umgebung, die, obwohl sie vertraut scheint, es immer von neuem staunen läßt. Huchels Generation ist durch die Reflexion über Kunst, Leben und Welt geprägt. Daß seine frühen Gedichte in einer scheinbar reflexionsfreien Naivität verharren dürfen, danken sie dem doppelten Blick des Erwachsenen, der, ohne sich zu verleugnen, mit dem Auge des Kindes schaut.
Leicht wechselt ein solches kindliches Ich zu einem Wir. Denn dem Kind erschließt sich die ländliche Welt meist im Kreis der Gefährten. Auf seinen Entdeckungsfahrten werden „Ich“ und „Wir“ zuweilen austauschbar, weil sich das Wir als ein kollektives Ich erweist, konstituiert durch ein gemeinsames Empfinden während eines gemeinsamen Kinderabenteuers. Dann wieder löst sich das Ich schmerzlos aus diesem Wir wie im Gedicht „Kindheit in Alt-Langerwische“

Kindheit, o blühender Zauch,
wo wir im nußweißen Tag,
klein im Holunderrauch
waren den Hummeln nach.

Vor uns die Wolken schön
liefen wie jappende Doggen.
Dengeln und Wetzsteingetön
herrschten im Roggen.

Mund und Tasche war froh,
wenn ich ins Kellerloch kroch,
wo es nach Winterstroh,
Nüssen und Äpfeln roch.

Das Ich löst sich schmerzlos, es wird nicht in Schmerzen von Wir geboren, um fortan als ein Für-sich zu existieren, unfähig, mit seiner Herkunft wieder eins zu werden. Nein, das Ich des Huchelschen Gedichtes kehrt wie selbstverständlich in das Wir zurück:

Und wir huschten grau im Mond
noch mit Hund und Fledermaus.

Gott, wie schliefen im Schlafe wir treu,
nachts im strohwarmen Bette.

Aus solchem Schlaf können Ich und Wir ungeschädigt zu einem neuen Tageszyklus erwachen.
Selbst in einer scheinbaren Objektivierung wie im Gedicht „Kinder im Herbst“ bleiben im unpersönlichen Wort „Kinder“ Ich und Wir gegenwärtig. Denn es wurden keine fremden Kinder geschildert, vielmehr das Kind Huchel und seine Gefährten. Der Gestus ist nicht der des Beobachters, sondern der des Handelnden und der des Empfindenden:

Schneebeeren weiß und schaumig knallen,
wenn sie die Kinder sich zerdrücken.

Sie hörn den ödesten der Laute,
das trübe Sickern in der Brache.

Wie geheimnisvoll und wie erschreckend wird dieser „ödeste der Laute“ erfahren. So ist es keineswegs ein Stilbruch, wenn sich die Kinder im zweiten Teil des Gedichtes unvermittelt in ein Wir verwandeln:

Fern von der Dörfer Dreschflegelschlag

gingen wir Kinder mit Schnur und Messer.

Ort und Lebewesen sind untrennbar miteinander verbunden. Hund und Fledermaus haben teil am Wir der Kinder. Mund und Tasche freuen sich mit dem Jungen, wenn er in den vorweihnachtlichen Vorratskeller kriecht. Die Natur bleibt kein totes Gegenüber; die vom Menschen geschaffenen Dinge wie Sense, Wetzstein, Pumpe und Wolltuch gehören ihr zu.
Huchel der Wilhelm-Lehmann-Schule zurechnend, hat man von Naturmagie gesprochen. (Huchel selbst hat mir gegenüber entschieden verneint, ein Lehmann-Schüler zu sein, eher ließ er den Einfluß Loerkes, den er sehr schätzte, gelten) Es wäre töricht zu leugnen, daß aus einem bedeutenden Gedicht wie „Letzte Fahrt“ und aus manch späterem Huchel-Text etwas Magisches entgegentritt, doch ist die Natur allenfalls die Signatur des Magischen, nicht aber selbst ein Magier, der auf das Kind wirkte.
Auch von Animatismus zu reden, das heißt davon, daß alle Dinge sich beleben, scheint mir ungenau: eher weisen Kinder-Ich und Kindheitswelt auf eine monistische Struktur: das Kind ist Teil seiner Welt, auch wenn es diese von außen zu entdecken scheint.
Deshalb ist aus einer in Bruchstücke zerfallenen Welt in eine als ein Ganzes verstandene zurückzuschauen, nicht unproblematisch. Huchel suggeriert nicht – außer in frühen Rollengedichten wie „Der polnische Schnitter“ – er schildere unmittelbare Gegenwart. Für die meisten Ich- und Wir-Gedichte wählt er, wenn sie die Kindheit zurückrufen, das Präteritum. Aber die Imaginationskraft seiner Bilder ist so groß, daß sie das Zeitempfinden verblassen läßt. Jedoch lauert hinter der scheinbaren Idylle tödliche Gefahr: der Sündenfall, der Sturz aus der zyklischen Zeit, das Entstehen von Alter und Tod. Schmerzlich hatte Huchel erfahren, daß ein Leben ohne innere wie äußere Gefährdung kein Leben, sondern etwas Totes ist. Wie Jacob Burckhardt hätte er über das höchste spätbürgerliche Ideal, das Idol unserer Zeit, die Sekurität, gehöhnt. Sehnsucht nach Sicherheit – nein, zumindest nicht im Gedicht, wohl aber nach Geborgenheit. Sekurität bedeutet Sicherheit in der Zeit, Geborgenheit hingegen ist zeitlos.
Orte waren Peter Huchel sehr wichtig: Der Mensch gestaltet den Ort, der Ort prägt den Menschen und hält ihn fest über die Stunde seines Todes hinaus. Wie unvergleichlich färbt sich der Vergangenheitsblick im Gedicht „Herkunft“; Der Erwachsene leiht nicht die Augen des Kindes: „die Augen gehen ihm über“, weil er die Kindheitsstätte betritt. Er wird verwandelt in das Kind, das er war. Gleichzeitig durchdringt das Vergangene unlöslich die Gegenwart wie ein Wildkraut, das durch eine Staude wächst. Häuser sind Lebensstätten des Menschen, nicht bloße Unterkünfte, die Kain für eine Nacht ein Schlaflager gewähren. Das Haus ist des Menschen eigenes Tun. Außerhalb seiner ist er als der, als welcher er in ihm erscheint, undenkbar.

Daß ich kam im Schattenwind,
weiß davon das Haus?

In dieser Frage schwingt eine andere mit: Bin ich noch der, der ich war? Denn nur von diesem könnte das Haus wissen. Es ist eine Aufbewahrerin von Kindheit. Gegenstände, Früchte, Düfte, Geräusche halten das Vergangene wach. Laut Hannah Arendt wird Welt durch Gegenstände, die uns für Jahre umgeben und uns oft überdauern, gebildet: Wer jedes Jahr renoviert, besitzt keine Welt. Ein Haus zu verlassen, ist nichts Gleichgültiges, sondern der Verzicht auf einen Teil seines Lebens. Der moderne Dichter ist heimatlos, das Haus, das er besitzt, wird nicht sein Eigentum:

Wer nie erbaut ein Haus,
die Erde speit ihn aus…
Ich baute nie ein Haus,

klagt die Zwetajewa. Eine solche Klage wäre für Huchel undenkbar. Ebenso wie die Mark Brandenburg liebte er die Ferne. Fast ein Jahrzehnt in das große Gefängnis DDR gesperrt zu sein, war für ihn, den leidenschaftlich Reisenden, unerträglich. Er brauchte das Reisen, um schreiben und leben zu können, aber seltsam: kaum sechs Wochen fort, sehne er sich wieder nach zu Hause, der Ordnung, dem Vertrautsein, hat mir der alternde Huchel gestanden; der junge konnte jahrelang unterwegs sein.

Wer nie erbaut ein Haus,
die Erde speit ihn aus.

Huchel war kein Dichter von Sentenzen. Daß ich an manchen Tagen einzig aus Gnomen bestand, verwirrte ihn: Sentenzen sind gewalttätig gegenüber der Poesie und unduldsam gegen den Geist.
Was die Achmatowa schreibt, als sie das lange Jahre bewohnte Haus an der Fontanka verläßt, hätte Huchel beeindruckt:

Doch hinter meinen Schultern sah mir nach
In jener Stunde mein verlaßnes Haus
Aus halbgeschloßnem, ungewognem Auge,
Dem Fenster, das ich nie vergessen kann.
Ihr fünfzehn Jahre, plötzlich truget ihr
die Maske des basaltenen Jahrtausends.

Doch das ländliche Haus in Huchels Gedicht „Herkunft“ ist nicht geschichtsbeladen wie das der Achmatowa, dazu steht es zu nah an der zyklischen Zeit. In ihm wohnen die Toten so selbstverständlich wie die Lebenden; es gewährt beiden eine Heimstatt, und keiner nimmt Anstoß am Dasein des anderen.
Das ändert sich in späteren Texten grundlegend. Die geschichtliche Zeit hat endgültig Besitz von Dingen und Menschen ergriffen. Die Toten, denen ihr Besitz streitig gemacht wird, sind außerstande, mit den Lebenden zu teilen. Sie bleiben nicht länger Hausgenossen, sondern werden zu ihren Widersachern.
Im Gedicht „Corenc“ ist es ein:

Einödig Haus, aus dem das Leben
vertrieben und verbannt!

Was der Achtsamkeit der Lebenden entfiel, bietet keinen Ruheraum mehr für die Toten.
Im Gedicht „Alte Feuerstelle“ stößt gar der Tote, der alles sein eigen nennt, den dort Schlafenden aus dem Haus. Die Toten werden eines der großen Themen Huchelscher Poesie. Sie sind die Verstoßenen, denen die Lebenden – und darin liegt ihre Schuld – ihren angestammten Platz nehmen, ohne sie durch ein Totenopfer, ein Gedenken, zu versöhnen. Überall werden ihre Signaturen sichtbar: in den Eisblumen, den raschelnden Totenkronen im Herbst, den Hürden des Nebels, hinter denen die toten Pferde weiden, in den Gläsern der Bar, in die sie Eis hauchen, in den Spinnennetzen, den Schleiern toter Bräute, im dünnen Staub des Uhrengehäuses.
In die Kindheitswelt des Huchelschen Gedichtes bricht die Zeit nicht bedrohlich und zerstörerisch ein; es kennt das Wort „unwiederbringlich“ noch nicht. Die „Wendische Heide“ wird vom archaischen mythischen Kreislauf umschlossen und vom uralten ewigen Hirten, einer Erdgottheit, behütet.
In Huchels Frühwerk dominieren die tellurischen Götter, auch wenn sie als solche nicht immer kenntlich werden. So verschwimmt im Gedicht „Winternebel“ die Grenze zwischen dem poetischen Bild „Nebelgeiß“ und einer sich zur dämonischen Gestalt verselbständigenden Metapher.
Die Frau, die im Gedicht „Heimkehr“, einer Bewältigung des Traumas von 1945, „aus dem wendischen Wald“ tritt, ist eine Erdgöttin:

Da war es die Mutter der Frühe,
unter dem alten Himmel
die Mutter der Völker.

Die Erneuerung und Entsühnung wird vom mythischen Kreislauf erhofft. Noch am Ausgang der 60er Jahre hat sich Huchel, wenn auch durch Auflösungskräfte der modernen Welt nachdenklich geworden, in einem Gespräch dazu bekannt.
Der Bedeutung des Wortes „wendisch“ in seinen Gedichten wäre eine eigene Untersuchung zu widmen. Oft verweist es auf die archaische, die frühe Stunde des Lebens, gewissermaßen auf die „Zeiten da Geschehn noch sichtbar war“, auch wenn dieser Rilkesche Gestus Huchel sehr fern lag: Seine frühe Zeit liegt noch vor derjenigen der Heroen und erst recht noch vor den Orphikern. Sobald der Heros hervortritt, löst sich der Mensch aus der engsten Bindung mit der Natur, er erwirbt ein unaustauschbares Ich und wird selbst dort mit Namen benannt, wo er ein Geschehen im mythischen Kreislauf personifiziert.
Nebst dem Tellurischen ist es das Chtonische, das Unterirdische, das in Huchels Versen Gewalt gewinnt: die Toten sind mit ihm aufs Engste verbunden, auch Aristeas, der „unweit der kimmerschen Fähre“ verbannt lebt. Perseplione, Göttin im Schattenreich, gehört der Nacht an:

Die Abgründige kam,
stieg aus der Erde
aufgleißend im Mondlicht.

Ein Gedicht wie „Caputher Heuweg“ ist in gewissem Sinne noch zeitlos. Solange das Grummet auf alte Weise eingefahren wird, kann der Erwachsene wieder Kind werden, und mit den alten Zigeunern fortziehen. Im Zeitalter der Traktoren und der riesigen nicht mehr von Menschenkraft hebbaren Heurollen, wie sie maschinell und in höchster Präzision zusammengebunden, heute auf den Feldern liegen, wäre eine solche Rückkehr undenkbar.
Jedoch die Zeit als beherrschende Macht dringt früher in Huchels Verse. In der letzten Strophe des „Löwenzahn“-Gedichts gehen Zeitlosigkeit und Zeit ineinander über.

Monde um Monde wehten ins Jahr,
wehten wie Schnee auf Wange und Haar.
Zeitlose Stunde, die mich verließ,
da sich der Löwenzahn weiß zerblies.

Hier endet die Mythische Vertauschung von Vater und Sohn, wie sie noch im Gedicht „Letzte Fahrt“ möglich schien. Zweifellos wird der Löwenzahn im nächsten Jahr erneut blühen und sich weiß zerblasen, jedoch das Ich des Gedichts, dessen Haar von den Löwenzahnschirmen, einer Zeitmetapher, weiß wird, ist verurteilt zu altern. Ähnlich heißt es im Zyklus „Der Rückzug“:

Zwischen den beiden
Sicheln des Mondes wurde ich alt

Der Kreislauf der Planeten wiederholt sich noch immer. Aber der Mensch lebt fortan in der linearen Zeit. Wird wie in „Lenz“ oder „Wiepersdorf“ ein historischer Ort betreten, so stellen sich wie von selbst Zeit und Alter ein. „Die Heimkehr“, Ausdruck einer Hoffnung, die von so vielen mit dem Namen Sozialismus verbunden wurde, markiert den letzten Punkt, an welchem dem Kreislauf der Natur, dem mythischen Zyklus, Heilkraft zugestanden wird.
Zwar rufen die Gedichte von Chausseen Chausseen, kaum jedoch die der Gezählten Tage und der Neunten Stunde, diese Welt noch wach, aber einerseits wechselt der Themenkreis mehr und mehr aus der Mark in südliche Länder, andererseits dominiert das Motiv der Vergänglichkeit, und die Lebenden wie die Verstorbenen besiedeln nicht länger die gleiche Welt, denn:

Jenseits des Flusses
Leben die Toten.
Das Wort
Ist die Fähre.

Und in der Mitte der Dinge
Die Trauer.

Trauer, so nahe am Stein, weht nicht durch den „glücklichen Garten“, den Garten der Kindheit, sie herrscht dort, wo uns keine Magd mehr in das bergende Tuch Welt hüllt.
Das Ich, benannt oder unbenannt, ist in Huchels Texten stets gegenwärtig: die genaue, bildstarke Beschreibung von Situation und Landschaft weist auf einen individuellen einzigartigen Beobachter.
Ein neues Ich, das des Chronisten, kann erst hervortreten, wenn die lineare Zeit in Huchels Gedichte gedrungen ist. Zum Chronisten gehört das besondere Ereignis, dessen Zeuge er sein muß – unfreiwillig, denn die Zeugenschaft reißt ihn aus jenem Raum, in dem Menschen und Dinge einen angestammten Ort besitzen. Der Zeuge wird einsam, kein Wunder, daß er sich gegen sein Amt wehrt wie der Wind im „Winterpsalm“:

aaaaaaaaaIch schweige.
Ich will nicht Zeuge sein.

Einem Menschen wie Peter Huchel konnte es in unserem selbstherrlichen grausamen Jahrhundert nicht erspart bleiben, Zeuge zu werden. Der zweite Weltkrieg läßt den Chronisten hervortreten im „Bericht des Pfarrers vom Untergang seiner Gemeinde“, im „Winterquartier“, aber auch im Zyklus „Der Rückzug“, der in den Polybios-Gedichten wieder aufgenommen und gegenwärtigt wird.
Dieses Chronisten-Ich gewinnt im Spätwerk Macht, sei es in ganz alltäglichen Schilderungen wie „Waschtag“, „April 63“, „Meinungen“, sei es in Texten, die Mythos und Gegenwart verbinden wie „Das Gericht“ oder „Hubertusweg“, sei es in verschlüsselten Gedichten wie „Ophelia“ oder „Im Kun-lun-Gebirge“.
Jedes aus Huchels Versen sprechende Ich, mag es empirisch, intelligibel oder mythisch sein, ist authentisch. Vielleicht gilt auch von ihm, dem Toten, was er zum Gedenken seines Freundes Hans Joachim geschrieben hat:

Der Zeitlos Abgekehrte
die Zeit bewacht.

Uwe Grüning, Ostragehege, Heft 9, 1997

„Der Stoff von Weltliteratur ist die Provinz“

– 20 Jahre Peter-Huchel-Haus: Anlass für ein Gespräch mit Lutz Seiler über den Dichter, der Mark und Welt in sich vereinte. –

Lena Schneider: Herr Seiler, als wir uns das letzte Mal trafen, sagten Sie: Hier in Wilhelmshorst hängen Peter-Huchel-Gedichte in jedem Baum. Was heißt das genau? 

Lutz Seiler: Das hier ist die Landschaft, auf die Huchels Dichtung gründet, hier fand er den poetischen Rohstoff für seine Verse. In der Landschaft der Mark sah er die Motive für seine Dichtung, aus ihr beziehen sie ihre Substanz. Auch die Gestalten dieser Landschaft sind in seine Gedichte eingegangen. Man könnte sagen, dies ist der Ort, der seine Gedichte hervorgebracht hat, der Ort, durch den er gegangen ist, auf den er schaute beim Schreiben. Bis zum Schluss ist das so geblieben, auch nachdem Huchel die DDR verlassen hatte. Die süddeutsche Ecke um Freiburg spielte für sein Schreiben kaum eine Rolle. Es gibt ein poetisches Notizbuch von ihm, in dem stand bis an sein Lebensende: „Im Falle des Verlusts zu senden an“ – und dann kommt die Adresse seines Hauses in Wilhelmshorst, des heutigen Peter-Huchel-Hauses. Bis an sein Lebensende ist das die Heimatadresse seiner Verse geblieben.

Schneider: Wilhelmshorst blieb sein Bezugspunkt. 

Seiler: Ja, und die Landschaft kommt ganz konkret vor. Man findet den Mittelgraben zwischen Langerwisch und Wilhelmshorst oder den Caputher Heuweg. Die Gedichte sind konkret in dieser Landschaft verankert.

Schneider: Wie zeigt sich das sprachlich?

Seiler: Huchel wurde geprägt von dieser Landschaft, schon als Kind. Vielleicht spielt das auch für seine Sprache eine Rolle. Er hat gehört und aufgenommen, wie die Menschen hier sprechen. Er ist aufgewachsen auf dem Bauerngut seines Großvaters in Langerwisch. Dort hat er auch seine ersten literarischen Begegnungen gehabt, sein Großvater war literaturbegeistert, hat Gedichte rezitiert und hatte Bücher im Gewehrschrank. Bis ins Alter blieb diese Gegend für Huchel eine Sehnsuchtslandschaft.

Schneider: Als Sie nach Wilhelmshorst gezogen sind, wussten Sie nichts von Huchels Haus hier. War er für Sie dennoch schon eine wichtige Lektüre, bevor Sie hier heimisch wurden?

Seiler: Schon als ich anfing zu schreiben, habe ich Huchel gelesen. Das war mehr Zufall. Während der Armeezeit hatte ich angefangen, Gedichte zu schreiben. Wir waren spezialisiert auf den Bau von Attrappen, aus dem Sand geschaufelte Panzer, Scheinbrücken, Dinge dieser Art. Es gab in meiner Einheit einen Kulturoffizier, der mitbekommen hatte, dass es einen Soldaten gab, der sich für Literatur interessierte, woraufhin ich aller 14 Tage Ausgang bekam, um an den Treffen eines Zirkels schreibender Arbeiter teilzunehmen. Der Zirkel tagte in der Gewerkschaftsbibliothek „Walter Ulbricht“ der Leuna Werke. Diese Bibliothek sortierte regelmäßig Bücher aus, darunter war auch Peter Huchel, sein erster Gedichtband von 1948, eigentlich damals schon eine bibliophile Kostbarkeit. Das wusste nur niemand, ich auch nicht. Diesen Gedichtband hatte ich dabei, als wir ins Feldlager fuhren. Im Feldlager begann ich, Peter Huchel zu lesen, während wir eine Scheinbrücke bauten, über die Saale. Eine Brücke, die im Cockpit der Nato-Tornados wie eine echte Panzerpontonbrücke aussehen sollte, unsere kostbarste Attrappe. Huchel war eines der stärksten Leseerlebnisse in dieser frühen Zeit, andere kamen hinzu. Über Huchel selbst und wo er gelebt hatte, wusste ich damals noch nichts. In der Nachwendezeit, als ich nach Wilhelmshorst zog, änderte sich das, dann schloss sich der Kreis.

Schneider: Welche Verse aus ihrer frühen Huchel-Lektüre haben sich besonders eingeprägt?

Seiler: „Der Holunder öffnet die Monde, alles geht ins Schweigen über“ Das ist aus dem Band Die neunte Stunde. Es gibt ein paar Huchel-Verse, die ich in Kruso versteckt habe. „Über den Jägern jagt der größere Hund“ zum Beispiel, ein sehr frühes Gedicht.

Wenn ich mit den Beuteträgern
ziehe durch den dunklen Grund,
droben über allen Jägern
jagt wie Wind der größre Hund.

Es gibt noch einige andere Lieblingsgedichte von Huchel für mich. „Havelnacht“ zum Beispiel oder „Sibylle des Sommers“.

Schneider: Holunder, Monde, Hunde – zeigt sich darin, in der Fähigkeit, über Natur- oder Tierbilder etwas Größeres zu beschreiben, etwas für Huchels Dichtung Typisches?

Seiler: Nein, er steht damit ja in einer bestimmten Tradition, die es in der Dichtung gibt. Im Westen gehörte Günter Eich dazu. Die beiden kannten sich aus der Vorkriegszeit gut und waren befreundet. Beide haben als junge Dichter zum Beispiel Wilhelm Lehmann verehrt. Diese Dichtung, die die Bilder der Landschaft benutzt, hat eine lange Tradition. Später änderte sich das bei Huchel, seine Gedichte werden formal freier und politischer.

Schneider: Woran macht sich das Politische fest?

Seiler: Das hatte ganz bestimmt mit seiner eigenen Situation zu tun. Er hatte in der DDR ja immer öfter politische Schwierigkeiten, weil er versuchte mit der Zeitschrift Sinn und Form, deren Chefredakteur er war, eine weltoffene gute Literatur zu publizieren, Essays von Ernst Bloch oder Hans Mayer, die zu den Beiträgern zählten. Das war der Akademie der Künste, die die Zeitschrift herausgab, ein Dorn im Auge. Vor allem das gesamtdeutsche Konzept der Zeitschrift wollte man nach 1961 nicht mehr. Man nahm ihm die Zeitschrift weg, drängte ihn zum Rücktritt. Von da an war Huchel vollkommen isoliert, durfte nicht reisen, seine Post wurde abgefangen, er wurde bespitzelt. In dieser Zeit der Isolation sind großartige Gedichte entstanden.

Schneider: Wenn nicht die Landschaftsmotive – was ist für Sie das Besondere, Huchel-Typische an seinen Gedichten?

Seiler: Die Schönheit des Klangs, der Sprache. Man muss Huchel lesen, denke ich. Er hat mit dem Klang gearbeitet, er hat die Verse vor sich hin geraunt. Er sagte das auch selbst einmal: „Ich raune so lange vor mich hin, bis ich hören kann, dass es stimmt“. Huchel wusste, wie sein Vers klingen muss, dafür hatte er ein perfektes Gehör.

Schneider: Und „das Märkische“ in der Dichtung, gibt es das eigentlich?

Seiler: Nein, jedenfalls nicht bei Huchel, nicht in diesem engeren Sinne. Christoph Meckel, der Huchel kannte, hat zu Recht immer wieder betont: Huchel ist ein Weltdichter. Nur weil er die Landschaft, aus der er kommt, ins Gedicht hebt, ist er kein provinzieller Dichter. Weltliteratur wird ja eigentlich immer aus den Provinzen heraus geschrieben. Der Stoff dieser Welt ist die Provinz, das kann man auch über Huchel sagen.

Schneider: Peter Huchel arbeitete mit Worten wie mit Bausteinen, rückte sie so lange in seinen Notizen hin und her, bis es stimmte.

Seiler: Wer selbst schreibt, den wundert das nicht so sehr. Die langwierige Arbeit, das Montieren, das Hineinlauschen ins Wort, in einen Vers, das endlose Überarbeiten, das gehört zum Schreiben. Und es gibt keinen Bauplan, man hört, wann es stimmt, wann man da ist, wo man hinwollte, ohne dass man vorher gewusst hat, dass es genau das war, was man wollte. Davon erzählt auch das poetische Notizbuch von Peter Huchel.

Schneider: Könnte man sagen, dass das Märkische Teil seines Themenbaukastens ist?

Seiler: Man könnte sagen, dass diese Landschaft in seinen Gedichten zu Wort kommt. Dass in den frühen Gedichten immer wieder das „Schilf“ auftaucht, weil er die Havellandschaft vor Augen hatte. Mit dem Schilf kommt das „i“ ins Spiel, reine Sprache. Die Landschaft ist eine Art Quellgrund für diese Gedichte. Oder „Kindheit in Alt-Langerwisch“. Langerwisch auf den ersten Blick kein besonders poetisches Wort, aber Huchel schafft es, das Wort einzubetten in die Musik seines Gedichts, gibt ihm Poesie, die weit über den konkreten Ort hinausgeht.

Schneider: So wie Sie Huchels Arbeitsweise beschreiben, scheint Sie der Ihren sehr ähnlich.

Seiler: Vielleicht stimmt das. Das ist tatsächlich etwas, indem ich mich Huchel sehr nah fühle: die Arbeit vom Ohr her, nah am Klang. Dafür ist Huchel eine Art Gewährsmann.

Schneider: Warum muss man bei Huchel immer noch betonen, dass er zu den Großen gehört?

Seiler: Huchel gehört zur Weltliteratur und war immer auch für andere Dichter ein wichtiger Bezugspunkt. Wie Kanonisierungen in der Literarturgeschichte ablaufen, weiß ich nicht. Die Frage, warum Huchel nicht so viel Beachtung gefunden hat wie Bertold Brecht oder Thomas Mann, stellt sich auch nicht, wenn es wirklich um Literatur geht, das heißt um das Besondere, die Eigenart vieler verschiedener Stimmen. Und eigentlich würde ich gern auch ein wenig widersprechen. Wenn wir, wie neuerdings, aus Anlass unseres 20-jährigen Jubiläums, wieder vermehrt Veranstaltungen zu Huchel selbst machen, mit Thomas Rosenlöcher oder Michael Krüger, dann stößt das auf großes Interesse. Die Leute wollen von Huchel hören. Es gibt eine Sehnsucht, sich mit dieser Dichtung zu verorten, und sei es in einer Seelenlandschaft. Und Huchel ist eine Integrationsfigur – in Ost und in West.

Potsdamer Neueste Nachrichten, 2.9.2017

 

 

Peter Hamm: Vermächtnis des Schweigens. Der Lyriker Peter Huchel, Merkur, Heft 195, Mai 1964

Franz Schonauer: Peter Huchel – Porträt eines Lyrikers
DU, Heft 11, November 1964

 

 

DER SCHWAN

Nichts
über den Wassern
und schon hängt am Augenschlag
schwanenhafte Geometrie
wasserbewurzelt
aufrankend
und wieder geneigt
Staubschluckend
und mit der Luft maßnehmend
am Weltall –

Nelly Sachs

 

DIE VERZAUBERTE
Für Peter Huchel
in memoriam „Die schilfige Nymphe“

Den grünen Leib der Libelle,
Das Auge der Unke dazu,
So treibe ich über der Welle,
Dem murmelnden Mund der Quelle,
Die strömt aus dem dunkeln Du.

Hörst du mich?
Siehst du mich?
Ach, ich bin unsichtbar
Im weißen Spinnenhaar,
Im wirren Gräsergarn,
Unter Dorn und Farn.

Alles, was flüstert und schäumt,
Alles, was schauert und bebt,
Bin ich, die einsam träumt
Und im Entschweben lebt.

Im Schilf, im Ried
Singt ein Vogel mein Lied,
Liegt das Schwanenkleid
Meiner Flucht bereit.

Suche du mich!
Finde du mich!
Bis ich dir wiederkehr
So federleicht,
Ist alles still und leer,
Was mir noch gleicht.

Oda Schaefer

EINKEHR IN EIN GESICHT
für Peter Huchel

Hinter der Stirn
Echo aus schlaflosen Nächten,
wo noch unbewacht
Verse durch Wachträume gehn.
Später die Wege, gesäumt
von geborstenen Bäumen,
erinnern den Stiefelschlag
auf den Todeschausseen.

Schwer unter Blicken
Gefäße voll schmerzenden Wassers,
Träne unsichtbar
gegen den Augapfel klopft,
mit den letzten geschmolzenen
Blumen am Fenster
Erinnerung an harte Winter vertropft.

Keine Erstarrung,
kein Vorwurf auf Lippen,
Alter der Silberdistel
klart auf in Haar und Gesicht,
dir auch „riß Wasser
die Steine fort unter den Füßen“
sehend, mit verbundenen Augen
lauschst du dem „fremden Gericht“.

Charlotte Grasnick

IN STAUFEN
für Peter Huchel

1    „Zu zahm, zu hübsch“, sagtest du,
Vor deiner geborgten Villa sitzend
Mit Blick über Weinberge, über die weite Ebene,
In der sich, weit weg, wenn der Dunst aufsteigt,
Die Umrisse der Vogesen abzeichnen;
Oder, wenn du deinen Kopf drehtest,
Näher, der bergige Rand
Des Waldes, den man Schwarz nennt.

Nicht schwarz genug, für dich,
Aus deiner wahren Heimat vertrieben,
Dem bedrohten, dem bedrohlichen Osten?
Gezähmt für Nutzholz, gepflegt,
seine Wanderwege
Aus pädagogischen Gründen versehen
Mit Namen und Herkunft
Typischer Bäume;
Und die Füchse verschwunden,
Vergast, aus Angst vor der Tollwut.

Nicht schwarz genug, für dich,
Auf ihrem Hügel, die Burgruine
Aus pädagogischen Gründen bewahrt
Mit einer Gedenktafel für Faust?

2    Dennoch kamen die streunenden Katzen,
Unberührbar, verwildert,
Zum Fressen zu dir.
Eine von ihnen zog
Ein Bein nach, geschlitzt von einem Schuß.
Über dem Schwimmbad
Schwebten Bussarde, riefen.
Hoch oben, von einem Wipfel
Glitt ein Pirol
Durch seinen kleinen Tonumfang
Und einmal, nur einmal
Blitzte er auf in schnellem Flug
Und ließ Eiche, Esche, Tannen
Schwärzer aussehen.

Und du läßt auch nicht zu,
Daß Marienkäfer, Schmetterlinge Ertrinken oder
Vom Gelbrandkäfer,
der über das Schwimmbad herrschte,
Lebendig ausgeweidet werden.

Zu spät schöpfte ich
Einen Puppenräuber ab,
Und kehrte zu meinem Buch zurück,
,Bilder aus der Insektenwelt‘,
Vom guten alten Fabre.
Um ebendiese Spezies dort
Beobachtet und dokumentiert zu finden:
Ihren Massenmord An Raupen,
Das Hochzeitsmahl des Weibchens
Am Männchen.

3    Dunkel waren auch die Grabsteine
In Sulzburg, die hebräischen Buchstaben
Auf den ältesten
Von jahrhundertealtem Moos geschwärzt
Und keine neuen, die hinzukommen,
Die letzten einer langen Linie
Vergast, östlich von hier, verschwunden.

Gut gepflegt, durch Zäune
Vom Zeltplatz
Und dem Vordringen des Waldes getrennt,
War dieser Ort schwarz genug
Selbst dort, wo Sonnenstrahlen
Auf neue Blätter, weiße Blumen fielen.

Du sagtest nichts, schautest nur:
Steinplatten, beschriftet oder blank,
In schwarzen Lehm gesteckt.
Die verbliebenen Namen, deutsch;
Die späteren Inschriften, deutsch;
Kein Stein, keine Inschrift
Für die letzten der Linie,
Die Aas waren, jüdisches.

4    Ja, viel schwärzer werden sie sein,
Viel öder, unsere Landschaften, bevor
Dies auf uns zukommt:
„Die Öde wird Geschichte
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
In den Sand“.

Aber mit Augen, die schon lange
In die Dunkelheit starren, sehend,
Kannst du noch
Die Weinberge, den Waldrand betrachten,
Wo selbst jetzt
Ein Baummarder, wie er muß,
Seine wilde oder zahme Beute tötet;

Kannst noch
Die streunenden Katzen füttern,
Kannst Insekten, wie du mußt,
Vor natürlichem,
Vor vom Menschen verursachten Tod retten,
Die, glänzend oder matt,
Im Töten geschickt, erfüllt sind
Und ihrerseits, gewillt,
Getötet zu werden;

Kannst schreiben, noch, schreiben
Für die Mörder, für die Retter,
Solange sie überleben.
Für die Termiten, Papier-
Fresser, solange sie überleben.
Oder für den Sand allein,
Für den blanken Sand.

Michael Hamburger

 

 

Fakten und Vermutungen zum Poesiealbum + wiederentdeckt +
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50 Jahre 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6

 

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber
Porträtgalerie

 

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Peter Hamm: „Sei getreu, sagt der Stein“. Zum 70. Geburtstag Peter Huchels
Süddeutsche Zeitung, 3.4.1973

Karl Krolow: Ein Mann, der Gesichte hat. Peter Huchel zum 70
Hannoversche Allgemeine Zeitung, 3.4.1973

Olof Lagercrantz: Ein deutscher Dichter. Peter Huchel zum siebzigsten Geburtstag
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1973

Helmut Mader: Mottos zu einem Leben. Peter Huchel wird siebzig Jahre alt
Stuttgarter Zeitung, 3.4.1973

Ellen Kayser: Peter Huchel wird am 3. April 70 Jahre alt
Die Tat, 31.3.1973

hvg: Vom Unkraut eines Dichters
Freiburger Nachrichten, 31.3.1973

Nachrufe auf Peter Huchel:

Franz Kalterbräu: Peter Huchel ist tot
Frankfurter Rundschau, 7.5.1981

Karl Krolow: Apokalyptische Landschaft
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1981

Albert von Schirnding: In der Mitte der Dinge die Trauer
Süddeutsche Zeitung, 8.5.1981

Bruno Bolliger: Unbekümmert geht der Fremde davon
Neue Zürcher Zeitung, 9./10.5.1981

Stephan Hermlin: Aber wir sind doch Brüder…
Die Zeit, 15.5.1981

Wolfgang Kopplin: Nachruf. Der große Peter Huchel
Bayernkurier, 16.5.1981

Hans Dieter Schmidt: „Der Fremde geht davon…“. Erinnerungen an den Dichter Peter Huchel
Rhein-Neckar-Zeitung, 16./17.5.1981

Klaus Sauer: Eine deutsche Passion
Deutschland Archiv, Heft 6, 1981

Stefan Welzk: „Überdrüssig der Götter und ihrer Feuer“
Frankfurter Hefte, Heft 8, 1981

Axel Vieregg: Nachruf auf Peter Huchel
Neue Deutsche Hefte, Heft 3, 1981

Zum 81. Geburtstag des Autors:

Hans Mayer: Schneenarben. Schriftzeichen.
Die Zeit, 6.4.1984

Beitrag zum 10. Todestag des Autors:

Thea Samain: Testament an den Balken genagelt
Neue Zeit, 30.4.1991

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Alexander Kluy: Der große Hof des Gedächtnisses
Berliner Zeitung, 29.3.2003

Sebastian Kiefer: Der Naturmagier als sozialistischer Funktionär
Neue Rundschau, Heft 1, 2003

Lutz Seiler: Im Kieferngewölbe
Sinn und Form, Heft 2, 2003

Klaus Bellin: „Aufs tote Gleis rangiert“
Neues Deutschland, 3.4.2003

Helmut Böttiger: Kindheitsträume und Diktaturdrangsal
Stuttgarter Zeitung, 3.4.2003

Christian Egger: Auf den Feldern der Kindheit
Mitteldeutsche Zeitung, 3.4.2003

Uwe Pörksen: Der Widerstand gegen die Lüge
Badische Zeitung, 3.4.2003

Steffen Richter: Mit dem Pflug in den Acker geschrieben
Frankfurter Rundschau, 3.4.2003

Michael Braun: „Unter der blanken Hacke des Monds werde ich sterben“
Basler Zeitung, 4.4.2003

Christian Bergmann: ZAUBER EINER WORTKUNST – bewundert und verfemt
Ostragehege, Heft 28, 2002

Peter Hamm: „In der Mitte der Dinge die Trauer“
Manuskript

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