Pierre Chappuis: So weit die Stimme reicht / À portée de la voix

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pierre Chappuis: So weit die Stimme reicht / À portée de la voix

Chappuis-So weit die Stimme reicht / À portée de la voix

ORGELPUNKT

Unmöglich, bei Tag den Blick von der letzten Scherbe
aaaaazu
lassen, die den Nebel löchert, verloren, blinkend,
aaaaanicht zu
orten und in keiner Weise von ihr loszukommen.

Von hier aus kaum ein Nadelkopf.

Der mindere leuchtende Punkt, ein trügerischer Halt, bald
schon geschwunden im Untergehn, Starre des Raums –
gedrängt? gedehnt? – wo die Distanzen hinfällig werden.

 

 

 

Nachwort des Übersetzers

Während vieler Jahrzehnte hat der 1930 in Tavannes (Berner Jura) geborene Lyriker und Essayist Pierre Chappuis als beamteter Lehrer seinen Lebensunterhalt verdient – die Entscheidung, das literarische Schaffen mit einem bürgerlichen Beruf abzusichern und es damit von ökonomischem Druck freizuhalten, teilte er nicht nur mit manchen andern Schweizer Autoren, sondern auch mit dem französischen „Dichterfürsten“ Stéphane Mallarmé, der zu seinen prägenden Vorbildern gehört.
Chappuis war knapp 40 Jahre alt, als er 1969 sein erstes Gedichtbuch vorlegte, und es brauchte noch einmal zwei Jahrzehnte, bis er in der Person von José Corti einen adäquaten Verleger fand: Cortis berühmte Pariser Librairie wurde zur verlässlichen Anlaufstelle für mehr als ein Dutzend Lyrik- und Prosabände, die bis in die jüngste Gegenwart mit staunenswerter Regelmässigkeit und in stets gleichbleibender – höchster – Qualität erschienen sind.
Biographisch gibt es von Pierre Chappuis kaum etwas Nennenswertes zu berichten. Weder hat er sich in der weiten Welt umgetan, noch sich am Literaturbetrieb oder an politischen Debatten beteiligt. Dass er den Grossteil seines Lebens im provinziellen Schuldienst verbracht hat, macht ihn aber keineswegs zu einem wirklichkeitsfernen Stubenhocker und Schöngeist. Die kleine karge Welt, die er in langen Wanderungen auf abseitigen Pfaden erschloss und mit allen Sinnen auslotete, war ihm gross genug, und sie vergrösserte sich noch dadurch, dass er sie mit immer wieder anderer Optik wahrnahm – im winzigsten Detail, im umgreifenden Panorama, in wechselnder Ausleuchtung und Perspektive. Dieser unscheinbare, von Steinen und Bäumen besetzte, von Insekten und Vögeln bevölkerte, von wechselnden Farben und Geräuschen durchwirkte Mikrokosmos bot ihm ausreichend Anlass für Abenteuer der sublimen Art – für die intensive „Lektüre“ der Natur ebenso wie für deren Übertragung in die Schrift.
Man könnte Chappuis’ Sprachkunst mit dem präzisen und dabei höchst erfindungsreichen Handwerk jurassischer Uhrmacher vergleichen. Jedes Rädchen und Schräubchen beziehungsweise jedes Wort, jede rhetorische Figur, jede Assonanz, jedes Interpunktionszeichen – alle Bau- und Funktionselemente des Dichtwerks sind sorgsam ausgearbeitet und variantenreich aufeinander bezogen. Grammatik, Syntax, Phonetik werden hier in gleichem Mass zum Gegenstand der Poesie wie die schlichte Dingwelt, die der Autor vorzugsweise exploriert – heimatliche Landschaften mit Auen, Hügeln, Bächen, Wäldern im Wandel der Tages- und Jahreszeiten.
Pierre Chappuis selbst hat sein dichterisches Tun in einem seiner späten poetologischen Notate mit der strengen Arbeit eines Malers „vor dem Motiv“ verglichen:

Die Natur entziffern, so wie man es von Cézanne hat sagen können: Ein Verfahren – die Mühe – schichtweiser Demontage und Rekonstruktion, in jedem Augenblick beherrscht von innerer Spannung. Von Fleck zu Fleck gewinnen wir Anteil am Dialog der Farbe, und nicht weniger auch durch die Leerstellen, welche die blosse Leinwand sehen lassen und jenseits der Vereinzelung ein unerfüllbares Ganzes heraufrufen.

Der Dichter, sprachmächtig und sprachskeptisch zugleich, hat sich eine negative Poetik zueigen gemacht, ausgehend davon, dass die Dingwelt und deren Wahrnehmung nicht adäquat zu benennen, schon gar nicht zu beschreiben seien; dass jeder diesbezügliche Versuch seinen Gegenstand verfehle, verfremde, ihn letztlich verrate; dass also menschliche Rede – die Rede des Dichters nicht ausgenommen – bestenfalls „ein Stenogramm sein könne, ausgerichtet mit ganzer Energie auf das, wodurch sie negiert wird“.
Das Ding negiert demnach das Wort, das ihm nie wirklich „entsprechen“, nie „gerecht“ werden kann; das Wort wiederum negiert das Ding, indem es sich an dessen Stelle setzt, es mithin repräsentiert, ohne es tatsächlich präsent zu machen. Der zu besprechende Gegenstand widersetzt sich demnach seiner wie immer gearteten Besprechung, das Ding bleibt dem Wort unerreichbar, einzig das Schweigen wird ihm gerecht und belässt es in seiner schlichten Realpräsenz. Man schreibe, so hat Chappuis einst notiert, „stets an der Schwelle zur Lüge oder zur Aufschneiderei, einzig am Leitfaden dieses arabischen Sprichworts (bei Mohammed Dib entliehen): Wenn dein Sang nicht schöner als das Schweigen ist, dann schweig!“
Einerseits also: Die Schönheit des sprachlichen Ausdrucks zur Kompensation sprachlichen Ungenügens; andererseits: Das Schweigen als wahrhaftige, wiewohl stumme Rede, die ihren Gegenstand überhaupt erst als solchen hervortreten lässt, unverstellt, unverfälscht. Pierre Chappuis hat dieses Paradox verschiedentlich als naturhafte Szenerie sinnbildlich festgehalten: Ein reissender – oder auch bloss ein plätschernder – Bach (die Sprache) umspült in immer wieder neuer Annäherung einen Fels (als aussersprachliches Objekt), ohne ihn erfassen, festhalten, beglaubigen zu können. Doch eben diese Uneinnehmbarkeit ist auch der Grund dafür, dass das Wasser in ständig sich ändernden Wirbeln, Strömungen und Katarakten den unbezwingbaren Fels – das zu benennende Ding – umspielt.
Das Gedicht erwächst also stets aus einem Mangel, und gleichzeitig bezeugt es diesen Mangel, nach Chappuis’ eigener Aussage, als „eine Leere, auf die es, ohne sie jemals ausfüllen zu können, unentwegt verweist“. – Das, was das Gedicht nicht zu leisten vermag, wäre demzufolge sein eigentlicher Gegenstand und, darüber hinaus, seine Rechtfertigung- es spricht (gleichsam) der defizitären Rede zum Trotz.
Die Dingwelt solcherart zu umspielen, sie im Medium der Dichtersprache zumindest andeutungsweise zu vergegenwärtigen, ist das Anliegen und ist auch der Anspruch von Chappuis’ Wortkunst. Diese bleibt im Wesentlichen auf das Naturgedicht beschränkt, doch das althergebrachte Genre wird hier auf vielfältige, unverwechselbare Weise instrumentiert. Dem Wittgenstein’sche Diktum, wonach über das, „was sich nicht sagen lässt“, zu schweigen sei, setzt der Dichter seinen Willen (und sein Können) entgegen, um eben dies – das Unsagbare – zur Sprache zu bringen. Dabei ist ihm klar, dass das Vorhaben nur ausnahmsweise und nie zur Gänze gelingen kann. Die subtile Sturheit, mit der sich einst Paul Cézanne seine Objekte – Felsen, Bäume, Gebäude – malerisch erschlossen hat, ist charakteristisch auch für Chappuis’ dichterisches Schaffen, das nach dessen eigenem Bekunden (in La rumeur de toute chose, 2007) primär am Ding und erst in zweiter Linie am Wort orientiert ist:

Die Dichtung („das Wohnen des Dichters“) oder nichts: Worte, an die aufrichtig zu glauben in der täuschenden Perspektive der Jugend durchaus möglich war, bis dann ihre allmähliche Abnutzung dazu führte, dass man sich mehr und mehr den Dingen zuwandte (so als hätte es dafür eine absolute Notwendigkeit gegeben?), um sich womöglich, in letztem Verzicht, allein mit Brot zufrieden zu geben.

So kann sich der „fruchtbare Mangel“ ergeben, von dem auch im neusten Band (Dans la lumière sourde de ce jardin, 2016) wieder die Rede ist.
Mit seinen schmalen Lyrikbüchern, die sich insgesamt als ein imposantes Lebenswerk präsentieren, hat Pierre Chappuis auf meisterliche Weise dazu beigetragen, das „unerfüllbare Ganze“ im Gedicht fassbar zu machen. Im deutschen Sprachraum ist sein Schaffen, das am ehesten mit dem Werk eines René Char oder Philippe Jaccottet zu vergleichen ist, bisher weitgehend unbeachtet geblieben. Nur wenige, verstreut publizierte Texte liegen in Übersetzung vor. Mit dem Band Soweit die Stimme reicht (A portée de la voix, 2002) liegt nun von Chappuis die erste deutschsprachige Buchausgabe vor.

Felix Philipp Ingold, Romainmôtier im Juni 2016, Nachwort

 

Pierre Chappuis

ist ein Dichter der Natur. Durch sein ausserordentliches Gespür und die Unverwechselbarkeit seiner Poesie bringt er sie so einfühlsam zur Sprache, als hätte sie selbst das „Wort“ ergriffen, um ihre Ödnis und Pracht, ihre Grausamkeit und Sanftmut, ihre Beharrlichkeit und ihren Wandel sprachlich zu offenbaren.
Die Natur hat bei Chappuis kein idyllisches und auch kein dramatisches oder exotisches Gepräge, sie erscheint zumeist in vordergründiger Unscheinbarkeit mit Feldern und Wäldern, Gewässern und Hügeln, Felsen und Pfaden, eine in sich ruhende, weitgehend unbeschädigte Welt, die freilich durch jäh klaffende Abgründe oder durch zivilisatorischen Lärm aus der Ferne – Autobahn, Eisenbahn, Fabrik – bisweilen auch bedrohliche Komponenten erkennen lässt.
So weit die Stimme reicht / À portée de la voix versammelt in sich all die Themen, Motive und Verfahren, die der Autor im Verlauf vieler Jahrzehnte immer wieder aufgegriffen und dabei laufend differenziert und fortentwickelt hat.

Limmat Verlag, Klappentext, 2017

 

Nichts widersteht der Zeit, es sei denn das Wort

– Gedichte seien schwierig zu lesen, heisst es. Ugo Petrini und Pierre Chappuis beweisen das Gegenteil. Beide Dichter lesen im Buch der Natur und bringen zauberhaft genaue Gedichte hervor. –

Eine der ersten rätoromanischen Wörtersammlungen sortiert die Wörter nicht nach dem Alphabet. Vielmehr folgen sie der Ordnung, so erzählt es der  Schriftsteller Leo Tuor,  wie sie der biblische Schöpfungsbericht vorgegeben hat. Das Wörterbuch beginnt mit Gott und zählt danach auf, was dieser geschaffen hat: Erde und Himmel, dann Sonne, Sterne, Luft und Wind. Nachdrücklich bekräftigt diese Ordnung der Wörter, dass die Sprache einen Anteil auch an der Ordnung der Welt hat.
Die alphabetische Systematik hingegen verwischt, dass zwischen den Worten und Dingen eine Beziehung besteht, die nicht der Zufall, vielmehr eine höhere Macht gestiftet hat. Oder anders gesagt und jenseits aller Metaphysik: Das Wort ist kein beliebiges, austauschbares Zeichen für die Dinge, die es bezeichnet. Es verkörpert im Laut- und Schriftbild, wofür es steht. Wir erkennen die Dinge erst oder neu, indem wir ihre Namen auszusprechen lernen.
Vielleicht kommt heutzutage das Gedicht jenem alten Wörterbuch am nächsten, wenn es sich ganz auf dieses urtümliche Geschäft einlässt: die Dinge bei ihren Namen zu nennen. Es hiesse nämlich zunächst und vor allem, dass sich das Gedicht zu den Dingen niederbeugt (ja: sich vor ihnen verneigt) und ihnen Gestalt gibt im Wort. Ein solches Gedicht übt sich in der Kunst der genauen Beschreibung. Es vollführt keinen Wortzauber, aber es zaubert im Wort die Dinge hervor. Um sie danach, wenn ein Wort das andere gibt, den wunderlichsten Metamorphosen zu unterziehen.
Beide Bewegungen lassen sich beispielhaft an zwei neuen Gedichtpublikationen studieren. Der Übersetzer Christoph Ferber hat eine Gedichtauswahl aus den Werken des 1950 in Montagnola geborenen Tessiners Ugo Petrini zusammengestellt und ins Deutsche übertragen. Der Schriftsteller und Übersetzer Felix Philipp Ingold wiederum präsentiert Gedichte und Aufzeichnungen des 1930 in Tavannes geborenen Westschweizer Lyrikers Pierre Chappuis, die im Original 2002 bzw. 2007 erschienen sind.
Chappuis wie Petrini suchen in ihren Gedichten die emphatische Nähe zu den Sachen, zu den unbelebten Dingen wie den belebten, indem sie im Buch der Natur mit der Hellhörigkeit von Eremiten lesen und die Gegenstände mit der abwägend nüchternen Zurückhaltung derer beschreiben, die um die brüchige Verbindung zwischen den Dingen und ihren Namen wissen. Stets wohnt ihren Versen etwas Tastendes inne. Sie sind „Seiltänzer der Leere“, wie es bei Petrini heisst. Das Glück des Gelingens kennen sie so sehr wie die Verzweiflung des Scheiterns.
Von beiden ist Chappuis der Sänger des Schweigens. Er findet das poetische Glück, wenn das Wort erstirbt und der Klang verhallt. In keinem Gedicht wird das deutlicher als in „Musikantischer Regen“, das genau auf der Schwelle zur Unhörbarkeit verharrt:

Stumme Harfe, dieses Windchen, das so sanft dem Ufer entlangstreift!

Stumm dem Regen zum Trotz, der mit seinen Fingerspitzen alle Saiten aufs Mal rührt.

Ganz nah bleibt hier der Dichter bei den Dingen, beim Wind, beim Ufer und beim Regen. Er bringt alles mit geringster Anstrengung vors Auge, um es sodann in unerhörte Musik zu verwandeln, die wiederum die Gegensätze in sich versammelt: Glaubt man nun nicht tatsächlich die Windharfe zu hören? Und doch dementiert ein zweimaliges „stumm“ an exponierter Stelle gerade diesen Eindruck.
Die Melancholie der Vergeblichkeit ist das eine, die unbändige Lust am schöpferischen Bild das andere, beide halten sich hier die Waage. Indessen müssen die „Fingerspitzen“ des Regens eine Eingebung der Götter gewesen sein: Mag die Harfe auch stumm bleiben, nie zuvor hat man den Regen genauer gesehen und durchdringender gehört. Chappuis zeigt mit solchen Bildern, wie die Poesie die Dinge nennt und mit Leben erfüllt. So vermehrt ein Gedicht unsere Kenntnis der Welt.
Lakonisch nüchtern schildert Chappuis die Nacht- und Tagseiten des Daseins und der Welt, „gleichermassen dem Schmerz und dem Vergnügen zugewandt“, wie es in einer der Aufzeichnungen heisst. Freilich grundiert auch eine stille Heiterkeit und Verspieltheit diese Verse, was in manchen kursiv gesetzten, sarkastisch selbstironischen Zwischenrufen zum Ausdruck kommt und nicht weniger in virtuosen Klangfiguren, die dem Übersetzer alle Kunst und Findigkeit abverlangen: Doch Felix Philipp Ingold bleibt dem Original in musikalischer Färbung und rhythmischer Präzision nichts schuldig.

Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 23.1.2018

Das abendliche Schimmern eines Schneefelds –

Gedichte von Pierre Chappuis

– Er gehört zu den Grossen unserer Zeit: Pierre Chappuis, in Twann geboren und heute in Neuenburg ansässig, sucht auch mit 86 Jahren weiter nach der dichterischen Wahrheit. Dabei wird er fündig. –

Auf der Backlist seines Pariser Hausverlags, José Corti Editeur, ist der welschschweizerische Dichter Pierre Chappuis mit mehr als einem Dutzend Einzeltiteln vertreten. Er steht dort in einer Reihe mit führenden internationalen Autoren wie John Ashbery, Paul Celan, René Char, Roberto Juarroz oder Andrea Zanzotto, die ihn an Bekanntheit und Anerkennung wohl übertreffen, denen er aber an künstlerischem Rang durchaus gleichkommt.
Dass und wie der heute 86-jährige Chappuis diesen Rang behauptet, belegt nun auch seine jüngste Veröffentlichung, eine bescheidene, ja unansehnliche Broschüre, die unter dem Titel Dans la lumière sourde de ce jardin (Im dumpfen Licht dieses Gartens) eine Handvoll neuer Gedichte und darüber hinaus viel weissen Leerraum enthält. Was sich so leicht darbietet, ist ein gewichtiges Alterswerk von staunenswerter Form- und Ausdruckskraft, streng strukturiert in seiner Gesamtheit (je drei Gedichte in vier Sektionen, dazu ein Auftakt und ein Finale in lyrischer Prosa), präzise ausgearbeitet in jedem Detail und auf allen Textebenen – von der Typografie über die hochkomplexe Syntax bis zur Metaphorik.
Chappuis gelingt es nach wie vor, mit höchster Konzentration und Luzidität Gedichte zu erwirken, denen bei aller Kunstfertigkeit nichts Gekünsteltes anhaftet, die vielmehr die Vorstellung aufkommen lassen, sie seien „einfach so“ entstanden, nicht eigens „gemacht“, eher naturhaft „gewachsen“ – bald wie vielfach verzweigtes Strauchwerk, bald wie kompakte Stalaktiten. Darin besteht das ausserordentliche Können dieses Autors und auch die Unverwechselbarkeit seiner poetischen Rhetorik – dass die Natur so einfühlsam zur Sprache gebracht wird, als hätte sie selbst das „Wort“ ergriffen, um ihre Ödnis und Pracht, ihre Grausamkeit und Sanftmut, ihre Beharrlichkeit und ihren Wandel sprachlich darzutun.
In der Dichtersprache gewinnt dieses Als-ob seinen eigenen Wirklichkeitsstatus: Geräusche und Düfte und Farben gehen wortwörtlich in ihr auf und mutieren zu dem, was sie bedeuten. In glücklichen Momenten des Lesens oder Vorlesens werden das Glucksen eines Rinnsals, das abendliche Schimmern eines Schneefelds, das Wandern eines Schattens tatsächlich wahrnehmbar. Die Wahrnehmung ist dannzumal, hier und jetzt, nicht weniger als die ganze – eben die „dichterische“ – Wahrheit.
Pierre Chappuis, sprachmächtig und sprachskeptisch zugleich, hat sich eine negative Poetik zu eigen gemacht, ausgehend davon, dass die Dingwelt und deren Wahrnehmung nicht adäquat zu benennen, schon gar nicht zu beschreiben seien; dass jeder diesbezügliche Versuch seinen Gegenstand verfehle, verfremde, ihn letztlich verrate; dass also menschliche Rede – die Rede des Dichters nicht ausgenommen – bestenfalls „ein Stenogramm sein könne, ausgerichtet mit ganzer Energie auf das, wodurch sie negiert wird“. Das Ding negiert demnach das Wort, das ihm nie wirklich „entsprechen“, nie „gerecht“ werden kann; das Wort wiederum negiert das Ding, indem es sich an dessen Stelle setzt, es mithin repräsentiert, ohne es tatsächlich präsent zu machen.
Der zu besprechende Gegenstand widersetzt sich demnach seiner wie immer gearteten Besprechung, das Ding bleibt dem Wort unerreichbar, einzig das Schweigen wird ihm gerecht und belässt es in seiner schlichten Realpräsenz. Man schreibe, so hat Chappuis einst notiert, „stets an der Schwelle zur Lüge oder zur Aufschneiderei, einzig am Leitfaden dieses arabischen Sprichworts (bei Mohammed Dib entliehen): Wenn dein Sang nicht schöner als das Schweigen ist, dann schweig!“
Einerseits also: die Schönheit des sprachlichen Ausdrucks zur Kompensation sprachlichen Ungenügens; anderseits: das Schweigen als wahrhaftige, wiewohl stumme Rede, die ihren Gegenstand überhaupt erst als solchen hervortreten lässt, unverstellt, unverfälscht. Pierre Chappuis hat dieses Paradox verschiedentlich als naturhafte Szenerie sinnbildlich festgehalten: Ein reissender – oder auch bloss ein plätschernder – Bach (die Sprache) umspült in immer wieder neuer Annäherung einen Fels (als aussersprachliches Objekt), ohne ihn erfassen, festhalten, beglaubigen zu können. Doch ebendiese Uneinnehmbarkeit ist auch der Grund dafür, dass das Wasser in ständig sich ändernden Wirbeln, Strömungen und Katarakten den unbezwingbaren Fels – das zu benennende Ding – umspielt.
Das Gedicht erwächst also stets aus einem Mangel, und gleichzeitig bezeugt es diesen Mangel, nach Chappuis’ eigener Aussage, als „eine Leere, auf die es, ohne sie jemals ausfüllen zu können, unentwegt verweist“. – Das, was das Gedicht nicht zu leisten vermag, wäre demzufolge sein eigentlicher Gegenstand und, darüber hinaus, seine Rechtfertigung – es spricht (gleichsam) der defizitären Rede zum Trotz.
Die Dingwelt solcherart zu umspielen, sie im Medium der Dichtersprache zumindest andeutungsweise zu vergegenwärtigen, ist das Anliegen und ist auch der Anspruch von Chappuis’ Wortkunst. Diese bleibt im Wesentlichen auf das Naturgedicht beschränkt, doch das althergebrachte Genre wird hier auf vielfältige, unverwechselbare Weise instrumentiert. Dem Wittgensteinschen Diktum, wonach über das, „was sich nicht sagen lässt“, zu schweigen sei, setzt der Dichter seinen Willen (und sein Können) entgegen, um ebendies – das Unsagbare – zur Sprache zu bringen.
Dabei ist ihm klar, dass das Vorhaben nur ausnahmsweise und nie zur Gänze gelingen kann. Die subtile Sturheit, mit der sich einst Cézanne seine Objekte – Felsen, Bäume, Gebäude – malerisch erschlossen hat, ist charakteristisch auch für Chappuis’ dichterisches Schaffen, das nach dessen eigenem Bekunden (in La rumeur de toute chose, 2007) primär am Ding und erst in zweiter Linie am Wort orientiert ist:

Die Dichtung („das Wohnen des Dichters“) oder nichts: Worte, an die aufrichtig zu glauben in der täuschenden Perspektive der Jugend durchaus möglich war, bis dann ihre allmähliche Abnutzung dazu führte, dass man sich mehr und mehr den Dingen zuwandte (so, als hätte es dafür eine absolute Notwendigkeit gegeben?), um sich womöglich, in letztem Verzicht, allein mit Brot zufriedenzugeben.

So kann sich der „fruchtbare Mangel“ ergeben, von dem auch im neusten Band wieder die Rede ist. Das schmale Buch bietet eine diskrete Synthetisierung all der Themen, Motive und Verfahren, die der Autor im Verlauf vieler Jahrzehnte immer wieder eingesetzt und dabei laufend differenziert und fortentwickelt hat. Die Natur hat bei Chappuis kein idyllisches und auch kein dramatisches oder exotisches Gepräge, sie bietet sich zumeist in vordergründiger Unscheinbarkeit dar, mit Feldern und Wäldern, Gewässern und Hügeln, Felsen und Pfaden, eine in sich ruhende, weitgehend unbeschädigte Welt, die freilich durch jäh klaffende Abgründe oder durch zivilisatorischen Lärm aus der Ferne – Autobahn, Eisenbahn, Fabrik – bisweilen auch bedrohliche Komponenten erkennen lässt.
Doch nicht dem Entweder-oder gilt das Interesse des Dichters, nicht dem Gegensatz zwischen Natur und Kultur, Erde und Himmel, Ufer und Strom, Tag und Nacht, vielmehr fasziniert ihn das Dazwischen – Zwischenräume, Zwischenzeiten, Zustände der Schmelze oder der Erstarrung, die abendliche oder morgendliche Dämmernis, der Wandel von Wolken und Schatten in ihrem Aufkommen und Vergehen, kurzum: das Sowohl-als-auch des Gegensätzlichen, wie es sich in Phasen der Übergänglichkeit vollendet, sei’s als stetiger, sei’s als sprunghafter Prozess.
Pierre Chappuis versucht solch naturhafte Übergänglichkeiten – Nieselregen, Dunst, Gegenlicht, schattenlose Trübnis („grisaille“), stockende Luft, das Rauschen von Wasser oder von wehendem Laub – so präzise wie möglich in Worte zu fassen, sie aber nicht bloss, wie realistisch auch immer, darzustellen, sondern sie in der Struktur der Verse und Strophen nachzuvollziehen: syntaktisch, rhythmisch, lautmalerisch. Es geht dabei weder um die Dinge noch um die Worte als solche, es geht vielmehr um die komplexen Wechselbeziehungen zwischen Dingen und Dingen, Worten und Dingen, Worten und Worten. Das Phänomen der Übergänglichkeit bringt Chappuis auf formaler Ebene unter anderm dadurch zur Geltung, dass er die meisten seiner Texte zwischen freien Versen und poetischer Prosa so diskret oszillieren lässt, dass ein Unterschied kaum noch auszumachen ist.
„Auf geheimnisvolle Weise verlangt die Dichtung danach, von einem innern Ohr in ihren feinsten Übergänglichkeiten wahrgenommen und gleichzeitig, im Bestreben, sich zu verkörpern, gesprochen zu werden“, heisst es an einer Stelle (in Le biais des mots, 1999): „In diesem Dazwischen entfaltet sie sich.“ – Dazu, als ein Beispiel für viele, ein minimalistisches Prosagedicht aus dem Band A portée de la voix (2002):

Morgen: geringstes Zündeln. – Der Tag (Zärtlichkeit vor jeglicher Wiederbelaubung), die Montgolfière des Tages, noch kaum ein Rosa, hält sich reglos in der Frische. – Ungebunden, an nichts sich haltend, schwebend (nicht mehr den Boden berührend, oder so, als ob), wie über unsern Köpfen die Triller unsichtbarer Vögel.

Das Gedicht evoziert nicht nur das wundersame Schweben von Formen, Farben, Klängen zum Tagesbeginn – es selbst bietet sich dar als ein reglos zwischen Laut und Bedeutung schwebendes Wortgebilde.

Pierre Chappuis, 1930 geboren im zweisprachigen Twann/Tavannes am Bielersee, hat während Jahrzehnten in Neuenburg (wo er noch heute ansässig ist) als Lehrer für französische Sprache und Literatur gewirkt. Als Dichter ist er erst ab 1969 in Erscheinung getreten, hat zunächst ohne merkliche Resonanz in verschiedenen westschweizerischen Kleinverlagen und Zeitschriften publiziert, bis er um 1990 bei José Corti in Paris zum Hausautor avancierte. Seither hat er dort in regelmässigem Wechsel seine schmalen Lyrik- und Essaybände vorgelegt, die inzwischen, weit über die Schweiz hinaus, zu den grossen Errungenschaften zeitgenössischer Poesie und Poetik zu zählen sind.

Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 8.10.2018

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Jürgen Brôcan: Stimmen, zum Elixier verdichtet
fixpoetry.com, 23.2.2018

 

 

1. Erlanger Literaturpreis für Poesie als Übersetzung 2005 an Felix Philipp Ingold.

 

Fakten und Vermutungen zum AutorKalliope
Nachruf auf Pierre Chappuis: PL

 

Zum 70. Geburtstag des Übersetzers:

Ulrich M. Schmidt: Das Leben als Werk
Neue Zürcher Zeitung, 25.7.2012

Zum 80. Geburtstag des Übersetzers:

Magnus Wieland: Der Autor, der die Autorschaft hinterfragt
Berner Zeitung, 25.7.2022

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + PreisKLG +
Kalliope + Viceversa + Forschungsplattform + slavistik-portal
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum + Keystone-SDA +
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