Ralph Dutli: Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Prophetisch ist der Atem meiner Verse…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Ossip Mandelstams Gedicht „Prophetisch ist der Atem meiner Verse…“ erschienen in Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg. –

 

 

 

 

OSSIP MANDELSTAM

Prophetisch ist der Atem meiner Verse
Der Geist in ihnen ist – belebend,
Und welche wohl berührst du von den Herzen –
Und welches Ohr erreichst du schwebend?

Oder bist leerer du als aller Klang
Der Muscheln, die im Sand dort singen,
Die nie dem Kreis umrissener Schönheit bang
Für alle Lebenden die Öffnung finden?

 

Gedichte aus Heidelberg

In den Heidelberger Gedichten erwacht das Selbstbewusstsein des jungen Dichters. Werden im Gedicht „Windstille meiner Gärten“ (S. 43) noch „scheue Eingebungen“ und „furchtsame Berührungen“ als Merkmal des „Wenigen“ seiner Poesie beschworen, so werden nun dem Atem seiner Gedichte eine „prophetische“ Qualität sowie ein „belebender Geist“ zugeschrieben. Das ist kein Manifest der Bescheidenheit. Dennoch wendet sich der Dichter hier bereits dem Empfänger seiner Dichtung zu, was auf seinen programmatischen Essay „Über den Gesprächspartner“ (1913) vorausweist:

Es gibt keine Lyrik ohne Dialog.1

Der „Atem“ ist von zentraler Bedeutung in Mandelstams Poesie, ein Prinzip, das in späterer Zeit durch die – physische wie politische – „Atemnot“ bedrängt wird. Im Gedicht „Man gab mir einen Körper“ (1909):

Das Glas der Ewigkeit – darauf
Steht meine Wärme und mein Atemhauch
.
2

Und im Gedicht „Auf leblosen Wimpern da: Isaak erfror“ (3. Juni 1935):

Der Atem, der Atem, Gesang will sich regen.3

Das Adjektiv „prophetisch“ erscheint auch in dem Gedicht „Ein Flittergold, das helle Brennen“ des Jahres 1908, das Mandelstam in mehrere seiner Sammlungen aufnahm (Der Stein 1916, 1923; Gedichte 1928), hier die zweite Strophe:

O meine Trauer, du Prophetin,
O stille Freiheit, du mein Ball.
Der Himmelsraum, der unbelebte
Ein immer lachender Kristall!
4

Die im Sand singenden Muscheln der 2. Strophe bilden einen Bezug zu dem wichtigen frühen Gedicht „Die Muschel“ von 1911, in dem das Ich mit der leeren Muschel verglichen wird.5 Hier nun zeigt sich der Anspruch des Dichters, nicht wie eine leere Muschel Laute hervorzubringen, sondern reichere Klänge zu schaffen und den „Kreis umrissener Schönheit“ zu öffnen, zu erweitern – „für die Lebenden“. Diese Bezeichnung der Adressaten hat eine Entsprechung noch in Mandelstams letzten Texten der Woronescher Verbannungszeit, wo der Dichter sich als „allen Lebenden lebenslang Freund“ bezeichnet (im Gedicht „Hab verirrt mich am Himmel“, 9.–19. März 1937).6 Bereits das frühe Gedicht bedeutet das Programm, zum Nutzen „der Lebenden“ ein Werk zu schaffen.

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Mandelstam, Heidelberg, Gedichte und Briefe 1909–1910, Wallstein Verlag, 2016

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