Rolf Schneider: Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Nelly Sachs’ Gedicht „Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen“ aus dem Gedichtband Nelly Sachs: Gedichte. –

 

 

 

 

NELLY SACHS

Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen

Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen,
Als ihr zum Sterben aufstehen mußtet?
Den Sand, den Israel heimholte,
Seinen Wandersand?
Brennenden Sinaisand,
Mit den Kehlen von Nachtigallen vermischt,
Mit den Flügeln des Schmetterlings vermischt,
Mit dem Sehnsuchtsstaub der Schlangen vermischt,
Mit allem was abfiel von der Weisheit Salomos vermischt,
Mit dem Bitteren aus des Wermuts Geheimnis vermischt −

O ihr Finger,
Die ihr den Sand aus Totenschuhen leertet,
Morgen schon werdet ihr Staub sein
In den Schuhen Kommender!

 

Aus Staub gemacht

Wer aufstehen muß zum Sterben, dessen Tod kommt nicht unverhofft. Wer angesichts des Sterbens seine Schuhe abstreift, hat den Tod unausweichlich vor Augen. Die in den ausgekachelten Giftkammern sich nackt unter Düsen drängten, aus denen statt Wasser Zyklon B fiel, mochten den zuvor gehörten Auskünften, sie würden bloß einer Desinfektionsbehandlung unterzogen, geglaubt haben oder nicht. Vielleicht hatten Gerüchte oder der schaurige Krematoriumsgeruch über den Lagern sie zuvor gewarnt. Wir wissen es nicht. Wir können sie nicht mehr fragen.
Die jüdisch-deutsche Schriftstellerin Nelly Sachs war für dieses Ende vorbestimmt; sie konnte ihm entkommen. In der gewiß äußersten Privilegierung, die jemals ein Verfertiger von schöner Literatur erfahren hat, durfte sie noch im Kriegsjahr 1940, da ihre berühmte schwedische Briefpartnerin Selma Lagerlöf ihretwegen interveniert hatte, nach Stockholm fahren und derart überleben.
Sie hat dieses Überleben als unbegreifliche Gnade empfunden und als unbegreifliche Schuld. Das Gefühl der Schuld hat ihr die Lippen geöffnet. Sie hat das von ihr nicht erlittene Sterben bezeugt, immer wieder; es ist dies das Thema ihrer Lyrik, wie es der Inhalt ihres Überlebens war.
Schuldbewußtsein erzeugt Deformationen. Seit ihrer Flucht, seit ihrer zweiten Buchveröffentlichung, die ein Vierteljahrhundert erfolgte nach ihrer ersten, ist Nelly Sachs ein Mensch außer Sinnen gewesen. Die – seltenen – Augenblicke des Glücksempfindens äußern sich bei ihr als Verzückung. Traurigkeit evoziert sie als einen Schmerz, für den die überkommene Sprache nirgends auszureichen scheint. Metaphern und Bilder brechen auseinander. Die Bruchstücke werden zu anderen Bildern zusammengefügt, die surreal sind und rätselhaft.
So werden Zeilen niedergeschrieben, die vom „Sehnsuchtsstaub der Schlangen“ erzählen: ein sonderbares Gleichnis, dessen Verbindungen zu den Wirklichkeiten der Natur wie verdorrt sind, dem sich einzig ablesen läßt, daß es Schmerz verbirgt. Es gibt Gedichte von Nelly Sachs, in denen eine unwirkliche Chiffre auf die andere folgt, suggestiv und dunkel. Wer dann viele Gedichte von ihr kennt, entdeckt ein paar immer wiederkehrende Symbole; eines davon ist der Schmetterling, den sie einmal „aller Wesen gute Nacht“ nennt, da in den Staub seiner Flügel das „schöne Jenseits“ gezeichnet sei: auch der Schmetterling liefert nur eine Umschreibung des Todes.
„Wer aber leerte den Sand aus euren Schuhen“ ist eine Paraphrase auf das Bibelwort, daß wir aus Staub gemacht sind und wieder zu Staub zerfallen. Es ist eine jüdische Paraphrase, in Erinnerung daran, daß die Bibel ein Buch der Judenheit ist; das Leben zwischen Staub und Staub ist die ständige Flucht, deren Archetypus der Zug der Kinder Israel durch den Sinai war, aufgehellt bloß von ein wenig Vogelgesang, von den gläubigen Einsichten des Predigers Salomo, der niemals vergaß, wenn er von Weisheit sprach, auch die Narren zu erwähnen.
Der Sand des Sinai wird bis nach Galizien getragen. Die Glut über der Wüste setzt sich fort in den Flammen der Todesöfen. Was zurückbleibt, sind die Schuhe. In Auschwitz leben sie noch heute, in kleinen Gebirgen, hinter Glas, die Schuhe der Opfer, die Schuhe der zu Staub Verbrannten, sie liegen neben anderen Vitrinen, in denen die künstlichen Gebirge der Koffer liegen, die abgelegten Krückstöcke, die künstlichen Gliedmaßen. In den Fersen der Nelly Sachs wird Auschwitz zu einem Menschheitsgleichnis und der Tod der Juden dort zu unser aller Schuld, zu unser aller Sterben.

Rolf Schneider aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002

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