Rudolf Bussmann: Zu Christian Lehnerts Gedicht „Vorfrühling“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Christian Lehnerts Gedicht „Vorfrühling“ aus dem Lyrikband Christian Lehnert: Aufkommender Atem. −

 

 

 

 

CHRISTIAN LEHNERT

Vorfrühling

Die Amsel zögert noch in einer Welt,
die innen stumm ist, außen kaum zu fühlen,
im Schnee. Als hätte sie sich vorgestellt,
zum Fliegen sei ein Ton herabzukühlen,

der Wind sei ein bestimmtes Intervall,
so klar wie Eis. Im Schwarm allein, das eine
gefiederte Erwachen, Widerhall −
wie Schatten gleiten Vögel über Steine

in gläsernes Gezweig, in hartes Moos.
Noch scheint die Sonne aus der Luft gegriffen,
noch wirkt die Scheune völlig schwerelos,
fossiler Zahn von Zeit und Traum verschliffen.

 

Wochengedicht #23: Christian Lehnert

„Vorfrühling“, das erste Gedicht im Band Aufkommender Atem (erschienen 2011) ist, wie die andern Gedichte des Bandes, nach traditioneller Art gereimt. Auch der Umgang mit Syntax und Orthografie entspricht den herkömmlichen Regeln: Durchgehend sind die Satzzeichen gesetzt, die Sätze in ihrer ganzen Länge ausgeschrieben. Man fühlt sich zurückversetzt in die Naturlyrik der fünfziger Jahre oder noch weiter in die ruhigen Rhythmen eines Erich Kästner. Die beschriebene Szene hat etwas Zeitloses. Anzeichen menschlicher Zivilisation kommen darin nicht vor, bis auf eine Scheune, die aber einer weit zurückliegenden Zeit anzugehören scheint. Sonst sind Vögel, Frost und Wind unter sich.

Aufkommender Tanz
In die menschenferne Welt sucht das Gedicht einzudringen, wobei eindringen das falsche Wort ist, denn es weckt die Assoziation von Kolonisierung und Gewalt. Solches ist ihm gänzlich fremd. Viel eher sucht es der beschriebenen Welt einfach nur nahe zu sein, ihrem Rhythmus zu lauschen, ihre Musik wiederzugeben. Es bewegt sich in den Bahnen einer durch Logik und Stringenz bestimmten Sprache, zugleich aber in einer Bildlichkeit, welche diese Gesetze sprengt. Die Bilder lassen offen, was „innen“ und „aussen“ bedeuten, sie nehmen den Wind nicht als etwas, das zu spüren ist, sondern als „ein bestimmtes Intervall“. Eine Spannung zwischen Wohlgeordnetem und Eigenwilligem zieht sich durch das Gedicht, wobei die Bilder das lebhafte Element ausmachen. In ihnen kündigt sich die Bewegtheit des Frühlings an, gleichzeitig sind sie fest in Reim, Rhythmus und Zeilenstrenge eingebunden, als dürften sie sich noch nicht so richtig entfalten. Winterstarre und Frühlingstanz gehen eine brüchige Symbiose ein.
Die drei Schlusszeilen geben eine Ahnung der Richtung, in die sich die noch unentschiedenen Verhältnisse entwickeln werden. Nachdem von Eis und Frost die Rede war, taucht die Sonne auf, wenn auch eher als Gerücht denn als Realität („aus der Luft gegriffen“). Auch die Scheune ist mehr zu ahnen als zu sehen, aber durch das Wort „schwerelos“ verwandelt sie sich unter der Hand in ein Luftschiff, das sich anschickt sich aus seinen Verankerungen zu lösen. Das Feste beginnt leicht zu werden. Wenn am Anfang die Amsel loszufliegen zögert, scheint am Schluss die Scheune über dem Boden zu schweben. In der Periode des Gefrorenseins kündigt sie die Zeit an, wo die Schwerkraft aufgehoben ist, wo die Säfte in allen Stämmen und Ästen zu steigen beginnen werden.

Rudolf Bussmann, TagesWoche, 10.9.2012

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