Schu Ting: Poesiealbum 247

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Schu Ting: Poesiealbum 247

Ting/Ling-Poesiealbum 247

ZWÖLF GALAKTISCHE NÄCHTE

IV. Notizen
(erster Teil)
1969 – 1975

Er
Im Nordwesten

1. Hochland, flach. Nichts, das hier Schutz gewährt.
aaEinsam kämpft mit dem Sandsturm
aaaaaaaaaaaaaaaaaaein armseliges Bäumchen.
aaGierig schluckt der Boden
aaden Schweiß aus den Fußspuren.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAbends sinkt
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaakränklich die Sonne.

2. Als sich die Bauern erhoben, stieg
aaaus den Mündungen ihrer Gewehre
aader Morgenstern Hoffnung.
aaZu einer Sonne auszureifen, die ewig währt und niemals untergeht,
aagelang ihm nicht

aaDreißig Jahre Revolution.
aaNoch müht sich der Fuß, niederzutreten steinerne Löwen,
aahalb versunken im Grund.

3. So also: Vom „Kommunistischen Manifest“ an,
aabeginnen in Einsamkeit,
aabis zu der Ölleuchte müdem Geflimmer,
aadem Silberschimmer des Morgenlichts,
aaverfließt alles in eins.

4 Ein Teich im Frühling ist der Traum.
aaDein Antlitz, gleichteils gezeichnet von Trauer und Freude,
aazerspiegelt darin.
aaDraußen schrillt
aadie Pfeife zur Arbeit.

 

 

 

Zum erstenmal sah ich Schu Ting

im November 1986. Vor dem Hotel International in Shanghai. Kulturminister Wang Meng hatte zu einem Bankett geladen. Neben ihr stand ein hochgewachsener europäischer Sinologe. Mit einem Satz sprang Schu Ting die Stufen zum Hotel hinaus und rief mit verschmitzter Miene: „Sehen Sie, ich bin doch größer als Sie. So leicht ist das!“ So leicht war es für Schu Ting nicht, groß zu werden – weder als Mensch noch als Dichterin. Die Kulturrevolution hat ihr Jahre geraubt, dafür aber abgründige Erkenntnisse menschlicher Möglichkeiten als Ausgleich geboten – Möglichkeiten unterzugehen, oder, allem Unmenschlichen trotzend, sich als Mensch zu behaupten. Von Natur aus ist sie eine leichtfüßige Tänzerin. Das zeigt auch die Gelenkigkeit ihrer Versfüße. Auf ihrem Rücken aber lastet die unsäglich schwere Bürde ihrer Zeit. Darum auch ist sie trotz angeborener Leichtfüßigkeit durchaus nicht leichten Sinns. An allem Schweren, das unsere Zeit und insbesondere China zu tragen hat, trägt sie mit – leidenschaftlich –, auch dann noch, wenn sie scheinbar nur persönlichem Leben nachspürt. Vieles vom Besten klassischer chinesischer Dichtung lebt in ihr weiter und ist doch ganz ihr eigen geworden: Freude verschwimmend in Traurigkeit, Traurigkeit weinend vor Freude.

Ernst Schwarz, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1988

 

Shu Ting

Wer heute auf dem Festland nach bekannten Schriftstellern sucht, sieht sich oftmals enttäuscht. Viele sind ausgeflogen, sei es ins Ausland gegangen, sei es zum Geldverdienen in den Süden geeilt. Die Dichterin Shu Ting (geb. 1952) gehört zu den wenigen international bekanntgewordenen Autoren, die nach den Ereignissen des 4. Juni 1989 in China geblieben sind. Sie hat damals eine bewußte Entscheidung getroffen, die ihren Grund auch in ihrem Werk hat. Zwar ist Shu Ting keine offensichtlich politische Dichterin, gleichwohl ist sie alles andere als unpolitisch. Am Morgen des 5. Juni 1989 ist sie in ihrer Heimatstadt Xiamen (Amoy) mit einer Handvoll Gleichgesinnter auf die Straße gegangen. Seitdem bekommt sie, obwohl sie heute Vizevorsitzende des Schriftstellerverbandes der Provinz Fujian ist, am Vorabend des 4. Juni regelmäßig freundlichen Besuch.
Sie lebt aber nicht deshalb in der Erinnerung ihrer zahlreichen Verehrer, sondern vornehmlich als Stimme ihrer Generation. Ende der 70er Jahre hat sie eine Handvoll Gedichte geschrieben, die sie schlagartig im In- und Ausland berühmt gemacht haben. Sie hat mit kühnen Entwürfen weiblicher Befindlichkeit auch ein Bild ihrer eigenen Generation gezeichnet, einer Generation, die nach dem Abschied von der Kulturrevolution ihre schmerzvolle Vergangenheit und den politischen Irrweg der VR China aufzuarbeiten und so einen Weg zur Humanisierung zu finden hatte. Auf diesem Weg spielte auch ihre Dichtung eine wichtige Rolle, eine Dichtung, die zu ihrem wesentlichen Gegenstand den Heimatort der Dichterin und da besonders die Insel Gulangyu hat. Hier auf dieser Insel lebt Shu Ting mit ihrem Mann, einem Spezialisten für die chinesische Lyrik der Gegenwart, und ihrem Sohn, der wie alle Kinder dieser Welt durch das Internet surft. Gulangyu, einst Sitz christlicher Missionare, steht heute mit seinen alten Villen unter Denkmalschutz. Autos sind hier verboten. Sie kennt auf dem Eiland jeden Winkel, jede Pflanze, jeden Fels, und dennoch verfaßt sie keine Heimatdichtung. Das Konkrete vor Ort wandelt sich in ihren Texten zum allgemein Menschlichen bzw. zum Politisch-Historischen. So mag sie zwar über das Nachbarskind „Schwester Zhuo mit dem runden Gesicht und dem Beutel an der Seite“ ein Gedicht schreiben, aber es gerät ihr zur Parabel über die Kulturrevolution. Umgekehrt werden die allzu großen Dinge wie Vaterland in ihren Versen zu eindrucksvollen Bildern weiblicher und mütterlicher Existenz.
Die hohe Zeit der chinesischen Gegenwartsliteratur ist hierzulande vorbei. Dennoch findet die chinesische moderne Lyrik noch immer ihre Hörer und Leser. Shu Ting ist daher mehrfach zu Lesungen auch nach Deutschland und Österreich eingeladen gewesen.
Schreiben ist für sie noch aus einem anderen Grund die Umsetzung des Konkreten ins Allgemeine: ihre Muttersprache ist der Dialekt der Provinz Fujian, dieser läßt sich aber nicht schriftlich fassen. Also transponiert sie ihre Verse ins Hochchinesische, für sie eine fremde Sprache, die das Melodische verliert. Gedichte haben gesungen zu werden, und das geht am besten in einem Dialekt. So ist sie eine stumme Sängerin, der es jedoch immer wieder gelingt, Ohren für ihre verborgenen Melodien zu öffnen.

Wolfgang Kubin, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 1, Februar 1998

 

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Fakten und Vermutungen zum Autorin

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