Suleman Taufiq (Hrsg.): Neue arabische Lyrik

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Suleman Taufiq (Hrsg.): Neue arabische Lyrik

Taufiq (Hrsg.)-Neue arabische Lyrik

DIE SCHÄTZE

Die Sehnsucht ist ein offenes Segel
und die Vision einer Herrin des Windes.
Alle Wände stürzen ein
und dein Gesicht schifft sich ein
in meine Augen.

Der Traum fängt Feuer,
die Palmen von Jericho lächeln die Sonne an.
Das Herz des Toten Meeres bewegt sich,
das bittere, salzige Wasser wird süß.
Die Wellen schlagen, das Meer steigt,
seine Hände waschen in meiner Heimat
die Gesichtszüge der Trauer, der Angst und der Verzweiflung.
Die durstige Erde ergrünt.
Die Schätze des Wohlstands laufen über.

Fadwa Toukan

 

 

 

Nachwort

Poesie hat viel mit Musik gemeinsam. Sie vereint Melodie und Rhythmus und hängt eng mit jenen Ritualen und Zeremonien einer Gesellschaft zusammen, in denen Menschen sich miteinander verbinden.
Bei den Arabern wurde die Poesie in früheren Zeiten gesungen; das gesungene Gedicht ist die älteste Art der Dichtung. So ist der Gesang bei den Arabern ein Synonym für Lyrik geworden. Bis heute lesen die arabischen Poeten ihre Gedichte nicht einfach vor. Sie musizieren mit ihren Versen, sie rezitieren sie. Das ist eine der Besonderheiten der arabischen Dichtung. Die Dehnbarkeit der arabischen Sprache in Ton und Schrift eröffnet der Lyrik große Möglichkeiten, mit den Worten zu variieren und zu spielen.
Poesie heißt auf Arabisch Schiir. Das Substantiv stammt von dem sumerischen Wort „Schir“, was so viel heißt wie „Gesang, Rezitation“. Dieses Wort ist in allen semitischen Sprachen unverändert geblieben. „Schiir“ bedeutet gleichzeitig auch „Gefühl“. Aufgabe des Dichters war es, etwas anderes zu fühlen als die Menschen seiner Umgebung, etwas Außergewöhnliches.
Vor Jahrhunderten wurde die Lyrik nicht niedergeschrieben, sondern durch ständige Rezitation mündlich überliefert; eine Tradition, die auch noch im 21. Jahrhundert in manchen Regionen lebendig ist.
Lyriker genießen in der arabischen Gesellschaft großes Ansehen. Die Erwartungshaltung ihnen gegenüber ist groß: Sie sollen Wissende, Inspirierte sein.
Von allen literarischen Gattungen findet die Lyrik noch heute in der arabischen Welt die größte Beachtung. Jeder Schriftsteller schreibt dort zuerst Gedichte, und kaum ein Sprachraum bringt so viele Lyriker hervor wie der arabische. Dichter beeinflussen mit ihren Versen die Meinungsbildung. Noch immer erzählt man Geschichten in Gedichtform, und der Vortrag von Poesie ist ein beliebter Bestandteil von Festen. Die Menschen kennen ganz selbstverständlich viele Verse auswendig.
Die berühmtesten Lyriker treffen sich im Rahmen von Lyrik-Festivals, die oft eine lange Geschichte haben. Dort tauschen sie sich aus und veranstalten häufig einen Wettbewerb darum, wer das schönste Gedicht vortragen könne. Anders als in Deutschland treten Poeten meist vor einem großen Publikum auf. Lesungen arabischer Dichter ähneln von der Atmosphäre her Konzertveranstaltungen in Europa. Wie oft wurden Leseabende in Fußballstadien abgehalten, wenn der bekannteste syrische Dichter Nizar Kabani oder der palästinensische Poet Mahmud Darwisch auftraten!
Weil die Sprache in der Lyrik zur Musik, zur Harmonie wird, sind Hörbücher mit den Aufnahmen zeitgenössischer Dichter mindestens so populär wie Musikkassetten. Araber reagieren sehr emotional auf die Rezitation von Poesie. Rhythmische, klangreiche Texte versetzen Körper und Seele gleichermaßen in Schwingung und können zu einem tranceähnlichen Zustand führen, der die Lauschenden für eine Weile der zeitgebundenen Realität enthebt.
Keine andere literarische Form kann so erregen und beglücken wie die Lyrik. Musik und Gedichtvortrag werden sogar als Therapie eingesetzt. Rezitationsklänge besitzen eine geradezu magische Wirkung. Die Gedichte besingen zumeist einen Moment der Nostalgie, Zärtlichkeit und Liebesekstase. Durch die Poesie findet der Mensch zu innerer Harmonie und Einklang.

Gesang hält die Musik des gesamten Orients bei aller Unterschiedlichkeit zusammen. Die gefühlsbetonte Beziehung der arabischen Menschen zur Sprache kommt hier zum Ausdruck. Oft stundenlange, üppige Liedzyklen prägen dörfliche Feste, religiöse Feiern, Trauerprozessionen oder Hochzeiten sowie andere familiäre Anlässe. Lyrisch weit ausholende Texte werden verzierten Melodien nicht einfach zugeordnet, sondern fordern die Sänger mit opulenten Bildern geradezu heraus, Menschen in eine ekstatische, von ansteckender Emotionalität und Heiterkeit beflügelte Stimmung zu versetzen. Gelingt es dem Sänger oder Dichter, die festliche Spannung durch seinen Gesang zu lösen und bei den Gästen Begeisterung und Ausgelassenheit zu wecken, dann – und nur dann – erfüllt sich der eigentliche Sinn einer Feier. Das nennen die Araber „Tarab“. Der „Tarab“ beinhaltet eine starke körperliche Komponente. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Begeisterung im Tanz.

Der Ursprung der arabischen Poesie liegt in der vorislamischen Zeit, „Djahilia“ genannt. Damals fungierte ein Dichter als Sprachrohr seines Stammes. Er war frei, und es oblag ihm den Ruhm des Stammes zu besingen und damit die Gemeinschaft zu stärken.
Mit dem Erscheinen des Islam veränderte sich die Stellung des Dichters. Er musste nun nicht mehr die Werte der Sippe verteidigen, sondern die Werte der neuen Religion. Die Aufgabe der Dichtung veränderte sich entsprechend. Früher hatte die Dichtung die Funktion, die Geschichte der Araber zu bewahren, später übernahm die Prosa diese Aufgabe. Aber die soziale Aufgabe blieb die gleiche: die Feinde der Religion zu bekämpfen und die Werte der Religion zu loben. Bis dahin gab es keinen Platz für individuelle Gedanken oder individuelle Probleme. Es herrschte das Gesetz der Gruppe.
Das arabische Gedicht wurde traditionell nach einer festgelegten Form und Melodie geschrieben; es wurde „Quassida“ genannt. Das Versmaß war sehr komplex; es gab zwölf Metren. Das Hauptthema dieser Gedichte war das Lob der Religion, des Stammes, die Schmähung rivalisierender Stämme oder Lob für einen Gönner. Diese Form der Dichtung blieb bis Mitte des 19. Jahrhunderts weitgehend unverändert.
Erst nach dem Ende der Expedition Napoleons in Ägypten 1801, die die Araber mit der europäischen Welt in Kontakt brachte, begannen die Dichter, neue Formen der poetischen Aussage zu suchen.
Für die arabische Welt markiert dieses Datum eine der wichtigsten Zäsuren in ihrer modernen Geschichte. Die militärische Eroberung Ägyptens durch Napoleon ließ die Illusion von der Überlegenheit der islamischen Welt dem Westen gegenüber zusammenbrechen. Bonaparte brachte nicht nur die Moderne nach Ägypten, die Ideen der Französischen Revolution, sondern auch eine Schar von Wissenschaftlern und Forschern.
Die arabische Kultur war bis dahin eine religiös geprägte Kultur. Religiöse Gesetze und Normen dominierten die arabische Geistesgeschichte bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Die arabischen Intellektuellen waren gezwungen, in ihren Werken die Religion entsprechend zu berücksichtigen. Es mangelte an Freiheit und Unabhängigkeit sowohl auf intellektueller als auch auf philosophischer Ebene.
Unter den arabischen Intellektuellen bildete sich eine Strömung heraus, die sehr darum bemüht war, Neues zu entwickeln und mit der Vergangenheit zu brechen. Sie wollten die traditionellen Denkstrukturen zerstören. Auch die Dichter suchten neue Formen. Die verbrauchten poetischen Strukturen waren nicht mehr in der Lage, überzeugende Antworten auf die Themen ihrer Zeit zu geben.
In einer anderen Bewegung suchten Dichter in der klassischen arabischen Poesie nach Perioden, die sie als Vorbild für ihre eigene Zeit sahen, und untersuchten die verschiedenen Techniken, mit denen die Dichter jener Zeit ihr Anliegen ausgedrückt hatten. Man könnte die Dichter dieser Zeit Neoklassiker nennen. Zu ihnen gehörte eine Gruppe von Dichtern in Ägypten, die als „Renaissance-Bewegung“ am Ende des 19. Jahrhunderts bekannt wurde. Sie lehnte die Dichtung ihrer direkten literarischen Vorgänger ab und wandte sich stattdessen der klassischen Dichtung zu, wobei sie nach Gedichten suchte, die die Situationen verherrlichten, die ihrem eigenen Zeitalter fehlten. Emotional und intellektuell vom Glanz der Vergangenheit überwältigt, suchten die Dichter der Renaissance-Bewegung darin einen Weg, ihren eigenen, schlechten Zeiten zu entkommen. Sie fanden ihre Vorbilder in den großen Dichtern der vergangenen Jahrhunderte wie Abu Tammam, Al-Moutanabbi und Ibn Zaidoun. Nur durch die Rückbesinnung auf ein stabiles, klassisches Erbe glaubten sie die kulturelle Identität erhalten zu können, die sie durch den neuen und zunehmenden westlichen Einfluss gefährdet sahen. Ein wichtiges Element ihrer Dichtung war die Beibehaltung der klassischen Form, die sich vor allem an der Metrik und an streng festgelegten Reimschemen festmachte.
Einer weiteren Gruppe gelang es, die klassische arabische Tradition mit dem europäischen Modernismus zu verbinden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich eine Gruppe von Dichtern, die die „Mahdjar“, die Emigranten-Dichter, genannt wurden und aus den Gemeinschaften von Libanesen, Syrern und Palästinensern kamen, die sich m den USA und in Lateinamerika niedergelassen hatten. Das vorrangige Ziel ihrer Dichtung war es, ihre arabische Identität zu erhalten und den Kulturschock, unter dem sie in den neuen Ländern litten, zu bewältigen. Bei der Hinwendung zur klassischen Dichtung suchten sie vor allem nach Elementen der Spannung, die sich aus dem Zusammenprall verschiedener Wertvorstellungen ergab, wenn eine Gesellschaft sich stark veränderte. Sie stützten sich vor allem auf die abbasidischen1 Dichter Abu Nauwas, Ibn Al-Moutaz, Al-Ma’ari u.a. und auf die Dichter der andalusischen Mouwaschah.2 Bei dem Versuch, die arabische Dichtung zu modernisieren, entwickelten sich zwei poetische Bewegungen: die „Al-Rabita-Al-Kalamia“-Gruppe, die 1920 von Gibran Khalil Gibran in New York gegründet wurde, und die „Al-Ousba-Al-Andalousia“-Gruppe, die 1933 in Sao Paulo gegründet wurde.
Die erste Gruppe war sehr darum bemüht, etwas Neues zu entwickeln und mit der Vergangenheit zu brechen. Gibran sagte einmal dazu:

Ihr habt eure Sprache, und ich habe meine Sprache… Ich sage euch, das Holz des Sarges blüht nicht und trägt keine Früchte.

Die zweite Gruppe war eher gemäßigt und versuchte, die Erneuerung langsamer in Gang zu setzen.
Die Erneuerungsbewegung in der Dichtung, die im 19. Jahrhundert begann, bekam durch die Emigranten einen neuen Anstoß, und so gelangten neue Begriffe in die arabische Sprache, wie z.B. „Schir manthur“, das Prosagedicht, das von der Prosadichtung Walt Whitmans und der französischen Prosadichtung angeregt worden war. Die ersten Dichter, die Prosagedichte oder dichterische Prosa schrieben, waren Ar-Rihani und Gibran. Diese neue Form der Dichtung wurde ohne Metrik und ohne feste Reimform verfasst.
Andere arabische Lyriker waren der Meinung, die Metrik sei das wichtigste Merkmal eines Gedichts, und folgten dieser neuen Form der Lyrik nicht.
In dieser Zeit begann man auch zum ersten Mal die Einheit des Gedichtes zu betonen und nicht mehr die Einheit des Verses. Um 1928 begannen die Zeitschriften in Ägypten und im Libanon über den Symbolismus in der Literatur zu schreiben. Es waren vor allem in Ägypten ansässige syrisch-libanesische Dichter, die in der französischen Literatur gut bewandert waren und stark von der französischen symbolistischen Bewegung des „verse libre“ beeindruckt waren.
Gleichzeitig entwickelte sich eine zweite Gruppe, die von der angelsächsischen Literatur beeinflusst war und die Technik des freien Rhythmus verwendete. Diese Gruppe wurde von dem Dichter Ahmed Zaki Abu Schadi angeführt. Die erste Gruppe benutzte den freien Rhythmus für symbolistisch-philosophische Dichtung, die zweite für philosophische, epische oder dramatische Dichtung. Diese Gruppe war auch stark von den amerikanischen Dichtern des „free verse“ beeinflusst, wie z.B. von Ezra Pound und Amy Lowell.
Die Erneuerung in der Dichtung war jedoch immer gekennzeichnet durch den Einfluss von außen. Die Dichter waren auf der Suche nach einer neuen Form, die es ihnen ermöglichen sollte, ihre subjektive Gefühlswelt freier auszudrücken und mit neuen Gedanken zu füllen, die aus ihrer eigenen Erfahrung stammten und nicht mehr von einem Erbe übernommen wurden. Das europäische Beispiel in diesem Bereich gab ihnen die Möglichkeit, sich von der Bürde der strengen, klassischen, arabischen Dichtung zu befreien.
Die Wirkung dieser Strömungen machte sich erst nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich bemerkbar. 1947 schrieben Nazik Al-Malaeka und Badr Shakir As-Sayyab aus dem Irak erstmals Gedichte in einer neuen Form, die man „Schir Hor“, freier Rhythmus, nannte. Die Gedichte wurden in Beirut veröffentlicht und waren gekennzeichnet durch unregelmäßige Zeilen und ein loses Reimmuster. Dies war die Geburtsstunde der modernen arabischen Lyrik. Die beiden Lyriker waren englisch geschult und Absolventen des „Teachers’ Training College“ in Bagdad; deshalb fanden sie einen leichteren Zugang zu den poetischen Formen von Ar-Rihani. Al-Malaeka begründete den Übergang zu einer neuen poetischen Form damit, dass die geläufigen poetischen Formen erschöpft und nicht mehr in der Lage seien, die Erfahrungen auszudrücken, mit denen die arabische Welt sich nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert sah. Die neue Form erlaubte den Dichtern eine größere Bewegungsfreiheit und befreite sie von unnötiger Einengung durch formale Regularien. Viele Dichter, die sich dieser neuen Form bedienten, kamen aus den erstarkten linken Unabhängigkeitsbewegungen. Ihr politisches Engagement ließ sie besonders aufmerksam auf die politischen und sozialen Probleme ihres Landes reagieren. Sie betonten, dass ihre Dichtung die Bedürfnisse der einfachen Menschen widerspiegeln sollte. Ihr Anliegen war es, eine Sprache zu benutzen, die spontan und leicht verständlich war und keine Kompromisse mit den formalen Vorgaben der klassischen Dichtung einging.
Diese poetische Revolution setzte sich in den folgenden Jahren weiter fort.
Als Yusuf Al-Khal 1955 aus den USA in den Libanon zurückkehrte, stellte er fest, dass es keine Publikation gab, die sich speziell mit der modernen Lyrik befasste. 1956 traf er sich mit jungen Dichtern, deren Ziel es war, die arabische Lyrik zu revolutionieren. Daraufhin gründete er im Januar 1957 den Verlag Dar Magalet Schiir, der vierteljährlich die Zeitschrift Schiir herausbrachte. Zu dem Kreis um die Zeitschrift gehörten Yusuf Al-Khal, Adonis, Ounsi Al-Hadj, Fuad Rifka in der Redaktion und viele andere, die regelmäßig in der Zeitschrift veröffentlichten, u.a. Mouhamed Al-Maghout, Taufiq Sayegh, As-Sayyab, Khalil Hawi, Sargon Boulus, Saadi Yussuf, Al-Malaeka und Fadwa Toukan.
Die neuen Dichter um diese Zeitschrift waren alle Intellektuelle, die mindestens eine, oft auch mehrere europäische Sprachen beherrschten. Sie lasen die Weltliteratur und übersetzten viele Werke von international bedeutenden Schriftstellern. Ihr Anliegen war es, eine Dichtung zu schaffen, die der veränderten Zeit einen Spiegel vorhielt. Von der ersten Ausgabe an war das Motto der Zeitschrift der Ansatz von Aristoteles, dass die Dichtung ein Instrument des Wissens sein sollte. In jeder Nummer wurde ein Schriftsteller aus dem Westen ausführlich vorgestellt. Die Reihe der Portraits wurde mit Ezra Pound eröffnet, der eigens für diese Ausgabe einen Beitrag sandte und der Zeitschrift über Jahre hinweg freundschaftlich verbunden blieb. Viele junge Dichter in der arabischen Welt wurden durch Schiir bekannt. Die Zeitschrift veröffentlichte auch zahlreiche Beiträge, die sich mit den neuesten Strömungen in der Lyrik des In- und Auslands auseinandersetzten. Yusuf Al-Khal, der Gründer der Zeitschrift, sah in der Dichtung ein Mittel zur Veränderung. Er ging davon aus, dass die Geschichte nicht nur von revolutionären Bewegungen, sondern auch von Dichtern gestaltet wird; die Aufgabe des Dichters sei es, die traditionellen Denkstrukturen zu zerstören. Die Dichtung stellte für Al-Khal die Identität und das Bild einer Nation dar. Er wollte nicht nur eine Zeitschrift gründen, sondern eine Bewegung, die die Revolution der Moderne ankündigte und das Erbe der arabischen Kultur mit dem neuen Denken verband. Tatsächlich war die Zeitschrift eine Form der Kulturerneuerung, denn die Revolution der Moderne blieb nicht bei der Lyrik stehen, sondern erreichte die gesamte arabische Kultur.
„Die eigentliche Revolution ist nicht gegen den Kolonialismus, gegen Unterdrückung und Terror, gegen soziale und wirtschaftliche Umstände gerichtet, sondern gegen die Grundprinzipien, aus denen heraus diese Umstände entstanden sind, gegen einen vererbten, unbrauchbaren Glauben, gegen alles, was das Denken hindert, gegen unsere Betrachtungsweise des Menschen und des Daseins, gegen unsere oberflächliche Vorstellung von Gott – das ist die eigentliche Revolution. Erst dann können wir eine Literatur, eine Kunst und ein Denken entwickeln, das von Bedeutung ist“, erklärte Al-Khal. Keine Bewegung in der arabischen Welt hat eine vergleichbare Wirkung im Denken der Intellektuellen ausgelöst wie diese. Die Zeitschrift wurde vehement bekämpft. Einer der am häufigsten vorgetragenen Vorwürfe lautete, die Zeitschrift wolle das arabische kulturelle Erbe zerstören und betreibe eine Verwestlichung der arabischen Kultur. Heftige Kritik kam von Seiten der Linken (Marxisten und Nationalisten), die den Kulturbetrieb zur damaligen Zeit beherrschten. Sie warfen der Schiir vor, den notwendigen gesellschaftlichen Umbruch nicht voranzutreiben oder sogar zu verlangsamen, da bei der Zeitschrift der politische Ansatz nicht im Vordergrund stand und sie sich aufgrund ihres Ausgangspunktes, der eine Veränderung des Denkens und der Sprache zur Voraussetzung von gesellschaftlichen Veränderungen machte, wenig in die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen einmischte. Der Vorwurf der Verwestlichung traf die jungen Dichter kaum, denn viele von ihnen wandten sich bei ihrem Versuch, die Poesie zu erneuern, gerade der alten, klassischen arabischen Lyrik wieder zu, transportierten in ihrer Lyrik Elemente alter Mythologien und Religionen und verbanden sie mit ihrer neuen lyrischen Sprache, ohne jedoch auf ihre neuen poetischen Ansätze zu verzichten, die von den unterschiedlichsten Strömungen, wie z.B. vom Symbolismus, vom Dadaismus, vom Modernismus oder vom Surrealismus beeinflusst waren. Der Dichter Adonis, einer der Wortführer dieser literarischen Bewegung, formulierte das einmal so:

Wir haben die Sprache gesprengt. Das Sprengen der Sprache bedeutet das Erfinden neuer, ungewöhnlicher Beziehungen zwischen den Wörtern, das Erfinden neuer Beziehungen zwischen dem Wort und dem Ding. Es ist der Versuch, das aufzunehmen, was rational nicht möglich ist, weil die Lyrik eine Form sprachlicher Vergewaltigung darstellt; es ist der Versuch, die Sprache zu zwingen, das zu sagen, was in der üblichen Prosa nicht möglich ist.

Das Verdienst der Dichter der Zeitschrift Schiir ist es, zugleich mit einer Rückbesinnung auf die als wertvoll erachteten Ansätze ihres kulturellen Erbes eine Erneuerung der Dichtung in Gang gesetzt zu haben, die die überholten Formen der Lyrik sprengte, sie für die Moderne öffnete, ihren Blickwinkel erweiterte und grundlegend veränderte. Diese Erneuerung ging weit über die Lyrik hinaus; sie erfasste das gesamte Denken der arabischen Intellektuellen und gab so den Anstoß für zahlreiche Modernisierungsbewegungen im kulturellen Bereich.
Die Zeitschrift Schiir erschien von 1957 bis 1964, unterbrach ihre Tätigkeit dann für drei Jahre, erschien 1967 wieder und stellte ihr Erscheinen 1970 endgültig ein.
Diese Bewegung hätte keine solche Verbreitung finden können, wenn es nicht das Forum der Stadt Beirut gegeben hätte. Beirut hat eine sehr wichtige Rolle im kulturellen und politischen Leben der Araber gespielt. Dichter und Intellektuelle aus Syrien, Palästina, Ägypten, dem Irak und anderen arabischen Ländern suchten Zuflucht in Beirut, wo sie ohne Angst vor Zensur veröffentlichen konnten. Den Dichtern erschien Beirut als ein Symbol für die kulturelle arabische Einheit, obwohl es der Politik im Laufe der Jahre gelang, dieses arabische Zentrum der Meinungsfreiheit zu zerstören. Viele Autoren beklagen bis heute den Verlust dieser Insel. Es gibt keinen Ort mehr, wo die arabische Kultur als Ganzes zusammentrifft. Nizar Kabam formulierte stellvertretend für viele andere:

Keine Poesie ohne Beirut, kein Gedichtband erscheint, außer in Beirut, kein Dichter wird in die Welt gehen, wenn Beirut ihn nicht lässt.

Heute, über dreißig Jahre nach dem Ende der Zeitschrift Schiir beherrschen ihre Ideen noch immer die Diskussion der arabischen Lyrik. Es gibt kaum ein gutes arabisches Gedicht das sich nicht in irgendeiner Form auf die Anregungen dieser Zeitschrift bezieht. Viele der Dichter, die in Schiir veröffentlicht haben, erwähnen das in ihren Biographien als ein Zeugnis ihrer Modernität.
Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war die arabische Lyrik – mit wenigen Ausnahmen – eine Männerdomäne. Gedichte wurden in der Öffentlichkeit vorgetragen, und der Dichter des Stammes musste ein Mann sein. Es gab nur wenige Frauen, die Gedichte schrieben, und wenn sie es taten, standen die Gedichte unter der Herrschaft des Mannes. Die Aufgabe der Dichtung von Frauen war es meistens, den Tod des Bruders zu beweinen. Oder die Frauen sollten Lieder verfassen, um die Männer zu unterhalten. Diese Art von Dichtung wurde von der arabischen Literaturgeschichte nicht anerkannt. Heute hat sich die Lage der Frau weitgehend verändert. Die Anzahl der Schriftstellerinnen ist seit den fünfziger Jahren enorm gestiegen. Die meisten schreiben jedoch Prosa. Was die Lyrik betrifft, ist ihre Zahl immer noch vergleichsweise klein. In dieser Anthologie wird eine repräsentative Auswahl von Lyrikerinnen vorgestellt, die die bedeutendsten Namen innerhalb der modernen arabischen Lyrik enthält.
In diesem und dem letzten Jahrhundert war das Exil immer wieder das Schicksal vieler arabischer Schriftsteller. Früher gingen sie in den Libanon, denn dort bedeutete das Exil wenigstens keine kulturelle und sprachliche Entfremdung. Später suchten sie Zuflucht vor allem in Europa, wo sie ohne Angst vor Zensur und Verfolgung veröffentlichen konnten. Viele der heutigen Gedichte beschreiben diese Entfremdung und den Verlust eines Ortes, der den Dichtern zumindest eine Ersatzheimat bieten könnte.
Diese Sammlung soll ein Bild von der arabischen Lyrik der Gegenwart vermitteln. Die Texte sind beispielhaft für die arabische Lyrik, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden ist.
Die Dichter, die in dieser Anthologie versammelt sind kommen aus fast allen arabischen Ländern und gehören verschiedenen Generationen und Schulen an. Es sind bekannte und unbekannte Dichter darunter. Alle Gedichte sind Originalbeiträge und wurden von mir für diese Sammlung zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt.
Zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung: Für einen Schriftsteller, der auch Lyrik in beiden Sprachen schreibt, ist diese Arbeit eine große Freude gewesen. Ich verbinde mit der Übersetzung und Herausgabe dieser Sammlung die Hoffnung, dass sie dazu beitragen möge, der deutschsprachigen Literatur die Schönheit der arabischen Lyrik nahe zu bringen. 

Suleman Taufiq, März 2004, Nachwort

 

 

Die Lyrik besitzt

traditionell große Bedeutung in der arabischen Welt. Noch heute genießt sie dort von allen literarischen Formen das höchste Ansehen. Die arabischen Lyriker nehmen mit ihren Versen starken Einfluss auf die Meinungsbildung. Dazu trägt wohl auch die mündliche Tradition der Lyrik bei, die nach wie vor eine große Rolle spielt: Der lyrische Vortrag der Dichter findet oft vor einem großen Publikum statt (auch in gut gefüllten Fußballstadien!), genauso sind Gedichtvorträge beliebter Bestandteil von Familienfesten, im Radio und Fernsehen. Kassetten mit den Vorträgen zeitgenössischer Dichter sind ebenso populär wie Musikkassetten. Die in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts gegründete Lyrik-Zeitschrift Schiir löste eine literarische Revolution aus, die größere Wirkung hatte als viele politische Bewegungen dieser Zeit.
In der vorliegenden Anthologie sind 47 der bedeutendsten arabischen Dichterinnen und Dichter der Gegenwart versammelt. Sie kommen aus Ägypten, Algerien, den Arabischen Emiraten, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Oman, Palästina, Saudi-Arabien, Sudan, Syrien und Tunesien.

Deutscher Taschenbuch Verlag, Klappentext, 2004

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

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