Ulf Stolterfoht: Zu Dieter Roths Gedicht „Bei der Nacht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Dieter Roths Gedicht „Bei der Nacht“.

 

 

 

 

DIETER ROTH

Bei der Nacht

Manchmal faellt noch von der Hoehe
nachts dem Wind aus seinen Haenden
die Trompete runter,
auf den Wassern in der Tiefe
einen Marsch zu blasen.
Und die Menschen in den dunklen
Kammern machen Wummtata.

 

Im Merkur (Heft 600; 1999)

befasst sich Jörg Drews mit genau diesem Gedicht:

Wenn großes Pathos und geistreiche Pointen in der modernen Literatur eher peinlich wirken und sich selbst desavouiert haben – sind dann Kalauer (und Verwandtes) eine Art von Witzen im Zeitalter von Plastik? Gibt es ,schlechte Gedichte‘, die aber nicht einfach schlecht sind, sondern in ihrem Kalauerhaften, Schiefen der genaue Einspruch gegen falsches Gelingen, zwischen öder Glätte das Symptom des Widerspruchs gegen eine überholte Ästhetik des Gelingens sind? Die geradezu schmerzhaft schiefen und unauflöslichen Bildverschränkungen in Roths Gedicht, die Apokalyptisches und Täppisch-Obszönes ineinanderschiebende Gemengelage, die Grobheit, mit der dies alles wie von einer Bierzelt-Posaune rhythmisiert abläuft und einen mit verstörter Erheiterung zurückläßt – ist das ein Willkürakt, der Einzelfall Roth, oder wäre das triftig anzusiedeln in einer Ästhetik des Gedichts in diesem Jahrhundert?

Das ist tatsächlich die Frage, und sie ist es heute vielleicht noch mehr als vor 16 Jahren. Mir kommt es so vor, als lebten wir in einer Zeit des allgemeinen Gelingens auf relativ hohem Niveau, und das gilt wohlgemerkt für eher traditionell orientierte Gedichte genauso wie für Texte, die in einer experimentellen Tradition stehen. Die Gründe dafür liegen wahrscheinlich in einer immer stärkeren Akademisierung des lyrischen Betriebs – gar nicht so wenige jüngere Lyriker und Lyrikerinnen verfügen sowohl über eine klassische germanistische, sprach- oder literaturwissenschaftliche Ausbildung als auch über Abschlüsse in Literarischem Schreiben an den einschlägigen Instituten in Leipzig, Wien, Biel oder Hildesheim. Und nur um nicht falsch verstanden zu werden: ich halte diese Entwicklung für sehr gut und segensreich. Das heute viel weiter verbreitete Wissen um Theorie und Praxis des Schreibens, wie auch die permanente Forderung, das eigene Tun poetologisch zu reflektieren, hat dazu geführt, dass nur noch sehr wenige richtig schlechte Gedichte veröffentlicht werden – man kann das in den Bänden des Jahrbuchs der Lyrik von 1979 bis heute beispielhaft nachvollziehen –, dass aber in gleichem Maße die Bereitschaft stark abgenommen hat, ein höheres ästhetisches Risiko einzugehen, welches zu solchen ,anders schlechten‘ Gedichten von Ernst Jandl und Dieter Roth führen konnte und könnte. Es ist keine Frage, dass auch ich ein virtuoses Gedicht lieber lese als ein ambitioniert gescheitertes. Aber es erscheint mir nichtsdestotrotz immer zweifelhafter, ob die Kategorie des Gelingens, auch eines virtuosen Gelingens, geeignet ist, mehr über ein Gedicht auszusagen, als dass ein zuvor gefasster Plan, sei er formaler und/oder inhaltlicher Art, glückhaft erfüllt wurde. Und noch einmal – ich meine hier beides: Oulipohafte Regelerfüllung, beispielsweise beim Schreiben eines Anagramms oder Palindroms, genauso wie ein elegant gereimtes, metrisch korrektes Sonett, ein stimmungsvolles Herbstgedicht genauso wie eine radikale lyrische Aussageverweigerung. Plan- und Pflichterfüllung sind schlechte Euphorieproduzenten. Und hier wird es nun wirklich schwierig: Nichts liegt mir ferner, als die Kategorie des Gelingens durch eine des Authentischen zu ersetzen, und doch scheint es mir so, als käme ich nicht ganz drum herum. Ist denn schonungslose Selbstentblößung, so wie sie uns Ernst Jandl und Dieter Roth vorgeführt haben, überhaupt denkbar ohne biographische Deckung, und sei sie auch nur eine Übereinkunft, ein einvernehmliches So-tun-als-ob zwischen Autor und Leser? Es war Helmut Heißenbüttel, der für dieses Verfahren die Bezeichnung „quasi-autobiographisch“ einführte, eine contradictio in adiecto, für unsere Bedürfnisse gleichwohl vollkommen ausreichend.

Ulf Stolterfoht, aus Ulf Stolterfoht: Wurlitzer Jukebox Lyric FL – über Musik, Euphorie und schwierige Gedichte, Stiftung Lyrik Kabinett München, 2015

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