Ulrich Kaufmann: Zu Volker Brauns Gedicht „Abschied von Kochberg“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Volker Brauns Gedicht „Abschied von Kochberg“ aus Volker Braun: Tumulus. 

 

 

 

 

VOLKER BRAUN

Abschied von Kochberg

Die Bauern tanzen
Um den Galgen
An dem die Partei hängt, das Gesinde l
Ustig Plakate im Frühling in Prag
ER IST GEKOMMEN. WIR AUCH. DEUTSCHE BANK
Das liebe Zimmer der Utopien
Entläßt den Gast in den Unsinn
ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE stehenzulassen
IN DENEN DER MENSCH EIN GEKNECHTETES
Ich stand mit der Karre in Zeutsch
Ein Fuß auf der Bremse ein Fuß auf dem Gas
Die Äste krachten herunter und die Blätter
Wehten UND ELENDES WESEN IST

 

Doppelter „Abschied von Kochberg“

– Lyrisches Zwiegespräch mit Jakob Lenz. –

Es gibt immer Biographien, die divergieren wie die von Goethe und von Lenz. Es gibt besudelte Siege, und es gibt die reine Niederlage. Zusammen sind sie ein Gutteil der deutschen Literatur
(Braun, 1991)1

 

I.
In Volker Brauns Gedichtband Tumulus, welchen der Suhrkamp-Verlag zum 60. Geburtstag des Autors im Mai 1999 herausbrachte, findet sich das folgende einstrophige Gedicht: 

ABSCHIED VON KOCHBERG 

Die Bauern tanzen
Um den Galgen
An dem die Partei hängt, das Gesinde l
Ustig Plakate im Frühling in Prag
ER IST GEKOMMEN. WIR AUCH. DEUTSCHE BANK
Das liebe Zimmer der Utopien
Entläßt den Gast in den Unsinn
ES GILT ALLE VERHÄLTNISSE stehenzulassen
IN DENEN DER MENSCH EIN GEKNECHTETES
Ich stand mit der Karre in Zeutsch
Ein Fuß auf der Bremse ein Fuß auf dem Gas
Die Äste krachten herunter und die Blätter
Wehten UND ELENDES WESEN IST
2

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat den Text – eingebettet in einen Artikel zur Leipziger Buchmesse (1998) – vorabgedruckt, allerdings ohne Titel.3 Welcher Leser, namentlich in westlichen Gefilden, kennt schon (Groß-)Kochberg, den kleinen Ort in der Nähe des Thüringer Städtchens Rudolstadt? Gerade der Originaltitel weist indessen auf den Prätext und den Dichter Jakob Lenz zurück, der 224 Jahre vor Braun diesen idyllischen Ort für immer verlassen hat.
Am 30. Oktober 1776, dem letzten Tag, den Lenz auf dem Steinschen Sommersitz verbringen durfte, schrieb er der Hausherrin einen Abschiedstext. In die Literaturgeschichte ist das vierstrophige Gedicht unter dem Titel „Abschied von Kochberg“ eingegangen, obgleich weder die in Berlin noch die in Düsseldorf befindliche Manuskriptfassung einen Titel aufweist.4 Wurde Brauns Gedicht der authentische Titel genommen, so ist dem Lenzschen Text 1891 durch Karl Weinhold5 erst eine Überschrift gegeben worden.
Ein Exkurs soll die Frage klären helfen, wie Braun den Titel seines Gedichts gefunden haben könnte. Sigrid Damm hat ihre Lenz-Monographie Vögel, die verkünden Land (1985) der zunächst geplanten dreibändigen Werkedition (die zwei Jahre später erschien) vorgezogen. Lenzens Leben hat die Autorin derart gefesselt, daß beim Schreiben der Biographie philologische Details in den Hintergrund traten. Insofern steht dieses Buch für den Wandel Sigrid Damms von der Germanistin zur Schriftstellerin, die mit ihrem Buch Christiane und Goethe. Eine Recherche (1998) gewaltigen Erfolg hatte. Damm spricht in Vögel, die verkünden Land nicht nur ausgiebig über Lenzens Kochberger Zeit, sondern ihr Buch wurde zu Teilen an diesem Ort geschrieben. In Gänze zitiert Damm in ihrer Biographie Lenzens Kochberg-Text, allerdings als einstrophiges Gedicht mit dem nicht autorisierten Titel. Der Erzählton suggeriert, die Autorin habe die Fassung mit der Handschrift verglichen. Dies war – wie auch Lesefehler wie „weise Hand“ für „weiße Hand“ usw. zeigen – nicht der Fall.

Lenz setzt sich, nimmt einen Bogen, den Federkiel und schreibt mit seiner schönen klaren Schrift: „Abschied von Kochberg“. Es ist ein Gedicht. Über einhundertsiebzig Jahre wird es in der Familie von Stein aufbewahrt werden. 1953 taucht es in einer Autographen-Auktion auf. Zweieinhalb Blatt, fünfunddreißig Zeilen.6

Wahrscheinlich ist, daß Braun durch den Besuch der Ausstellung auf Schloß Kochberg, die ein Gedichtfaksimile zeigt, und die Lektüre des Dammschen Buches auf das Gedicht mit dem scheinbar von Lenz stammenden Titel stieß. Zu Brauns Titelgebung könnte auch beigetragen haben, daß der namhafte Berliner Komponist Paul-Heinz Dittrich im Jahre 1986 eine – übrigens Sigrid Damm gewidmete – hochartifizielle Vertonung des Gedichts für Singstimme und Klavier unter dem Titel „Abschied von Kochberg“ schuf. Die Braun verfügbare Lenz-Ausgabe von Titel/Haug (1966/67) enthielt das Gedicht nicht, während Helmut Richter in der Bibliothek Deutscher Klassiker (Berlin und Weimar 1972) den Text unter falschem Titel präsentierte.
Bei Brauns Abschiedstext handelt es sich – wie beim Lenzschen auch – um ein im Herbst geschriebenes Gedicht. Nur in einer Verszeile ist von dieser Jahreszeit (und überhaupt von der Natur) die Rede:

Die Äste krachten herunter und die Blätter
Wehten
[…]

Diese Sentenz wirkt so bedrohlich wie der übrige gallig-böse Gedichttext. In einer Anmerkung konkretisiert der Autor die Terminierung auf den Frühherbst. Der politische Charakter des Gedichts wird vor allem dadurch unterstrichen, daß Braun das den Text auslösende Moment preisgibt:

Im September 1990. Der Galgen mit der aufgehängten SED stand auf dem Tanzboden des Gasthofs Zum Goldenen Löwen.7

(Der Zufall will es, daß auf den Brettern derselben Gastwirtschaft die „Lenz-Bühne“ Dessau im Mai 1999 mit einem anderen Schauspiel aufwartete – mit Goethes Stück Die Mitschuldigen.)
In der Regel steht die Begegnung mit einem Text vor der Lektüre der Anmerkungen. Und so scheint sich durch das Eingangsbild der tanzenden Bauern, die an Breughel oder ein Erntefest denken lassen, eine eher fröhliche Stimmung zu entwickeln. Interessanterweise gehört der Tanz auch zum Kontext des Lenzschen Gedichts, den Braun natürlich kennt. Nachdem Lenz mit Charlotte von Stein Kochberg verlassen hatte, notiert Goethe am 31. Oktober 1776:

Nachts Tanz bis früh 3. Lenz fand ich.8

Typisch für Braun ist – und auch hier ist er dem Lyriker Lenz nahe –, daß er Kontraste herausarbeitet. Auf scheinbar Volkstümlich-Gefälliges folgt die Mitteilung, wo und warum die Bauern tanzen:

Um den Galgen
An dem die Partei hängt

Das den lyrischen Sprecher Zerreißende, zur Flucht, zu einer „körperlichen Reaktion“ Treibende9 ist, daß er den freudigen Protest der Bauern wohl versteht. Zugleich erschrickt ihn die Brutalität. Denn am Galgen hängt nicht eine anonyme SED, sondern es ist jene Partei, der der Autor als äußerst kritischer Mitstreiter über Jahrzehnte angehörte: Und zugleich war diese Partei – trotz dogmatischer Verkrustungen von Anfang an – einstmals angetreten, Marxens visionäre Vorstellungen (von denen im Gedicht gesprochen wird) Realität werden zu lassen. Der Riß, der wenige Tage vor der Wiedervereinigung durch die Gesellschaft ging, zersprengt bei Braun auch das Wort. Den Zeilensprung als künstlerisches Mittel seit Jahrzehnten nutzend, ist für den Dichter, soweit ich sehe, eine Konstruktion wie „das Gesinde l / Ustig“ (von Zeile 4 zu 5) neuartig. Diese verschiedene Sprechvarianten ermöglichende Wendung muß man auch im Schriftbild sehen. Das Hinzusetzen des Buchstabens „l“ verleiht dem Substantiv „Gesinde“ eine pejorative Bedeutung. Offen bleibt für den Leser bzw. Hörer, ob diese Bezeichnung nur den tanzenden Bauern gilt oder auch der Partei, die angestrebte Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung jämmerlich vergab. Wolfgang Fritz Haug, der Volker Braun für den „bedeutendsten lebenden Lyriker“ der Deutschen hält, weist daraufhin, daß diejenigen, die den „Prager Frühling“ niederschlugen, die tschechischen und slowakischen Reformer als „Gesindel“ bezeichnet hatten.10
Schon ein flüchtiger Blick auf das Gedicht läßt erkennen, daß Braun – wie oft in seiner Lyrik – durch Versalien hervorgehobene Zitate in den Text zieht, um sie dort arbeiten zu lassen. Dies geschieht hier zweimal, wenngleich mit ganz unterschiedlichem Material und entgegengesetzter Aussage. Zunächst werden wir mit einem paraphrasierten Werbeslogan der Nachwendezeit konfrontiert, der dem Dichter erstmals in Prag begegnete. Einem Naturgesetz gleich, kündigt sich eine Zeit an, die von vielen sehnsüchtig erwartet wird:

Der Frühling kommt. Wir auch. Deutsche Bank.

Für die Bank und in ganz anderer Weise für den Dichter ist der Frühling Metapher. Bei Braun aber enthält der Lenz, die schönste der Jahreszeiten, eine politische Dimension dadurch, daß er den „Prager Frühling“ assoziiert. Die Utopie der Linken von einem demokratischen Sozialismus – die von der eingangs durch die Bauern angeprangerten SED mit zerstört wurde – erinnert der Dichter und verweist zugleich auf eine Wirklichkeit, die zunehmend von Banken beherrscht wird.
Das zweite Zitat, das der Dichter durch eigenen Text unterbricht und mit dem er das Gedicht ohne Interpunktionszeichen ausklingen läßt (wie übrigens Lenz im Manuskript auch), hat Braun vom jungen Marx. In dessen berühmter Frühschrift Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung heißt es:

Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […]11

Diese Sentenz hat Braun im Gedichttext nicht nur verkürzt, sondern verfremdend in ihr Gegenteil verkehrt, indem er das Verb „umzuwerfen“ durch „stehenzulassen“ ersetzt. Auf diese Weise erinnert er die Marxsche Utopie zur Zeit ihres grausamen Scheiterns. Die „stehenzulassen[d]en“ Verhältnisse greifen auf den lyrischen Sprecher selbst über („ich stand“). Braun nimmt hier Motive auf, die bei ihm seit Jahren zu finden sind: in einer „stehenden Zeit“ leben, ein „gebremstes Leben“ führen, sich in einem Stau befinden usw.12 Seine Flucht aus Kochberg unterbrechend, landet das lyrische Ich in dem unwesentlichen Ort Zeutsch. Ein Blick auf die Landkarte verrät, daß Zeutsch an der B88 zwischen Rudolstadt und Jena liegt. Es ist ein Ort, der zur Entscheidung zwingt. Soll sich der Unentschlossene Richtung Norden bewegen, wo Leipzig und Berlin liegen, seine geistige Heimat bzw. sein Wohn- und Arbeitsort seit Jahrzehnten, oder aber nach Süden, d.h. in die „alte“ Bundesrepublik?13

 

II.
Was aber, möge sich mancher fragen, hat Brauns politischer Text mit dem sehr intimen Lenzschen Gelegenheitsgedicht zu tun, welches in den meisten der Auswahlausgaben fehlt? Neben dem Titel erweist sich das „liebe Zimmer“ unzweideutig als Lenz-Bezug, auch wenn der Dichter diese Leihnahme hier nicht durch Großschreibung hervorhebt. Lenzens Gedicht setzt bekanntlich mit der Verszeile ein:

So soll ich dich verlassen liebes Zimmer.

Zunächst sei der Kontext des Lenzschen Gedichts und anschließend das Braun als Material dienende Gedicht selbst betrachtet: Auf Einladung Charlotte von Steins verbrachte Jakob Lenz im Herbst 1776 reichlich sechs Wochen auf Schloß Kochberg. Es waren wohl die harmonischsten seiner Thüringer Zeit, auch wenn er in Weimar, vor allem aber in Berka, als Dichter wesentlich produktiver war. Seinem Straßburger Freund Salzmann teilte er am 23. Oktober mit:

Ich bin in Kochberg bei der liebenswürdigsten und geistreichsten Dame, die ich kenne […]14

Ein in Weimar befindliches Blatt zeigt den Dichter zugleich als Zeichner.15 Gelegentlich, beispielsweise auf Brief- und Manuskripträndern, zeichnete Lenz: Aus seiner Moskauer Zeit (1781–1792) gibt es eine Fülle kaum ausgewerteter Skizzen, die vor allem die vielfältigen Reformprojekte Lenzens betreffen.16
Eine Landschaftsskizze vom 18. Oktober 1776 bildet ein (noch heute unbebautes) Flurstück bei (Groß-)Kochberg ab, welches sich die oft kränkelnde Charlotte von Stein in jener Zeit als Begräbnisstätte auserwählt hatte. Lenzens Skizze sollte ab Mai 1999 in der neuen Ausstellung des Weimarer Goethe-Nationalmuseums zu sehen sein. Der Verfasser dieser Zeilen hat in einer im Katalog nachzulesenden Miszelle die kleine Arbeit von Lenz vorgestellt.17 In der Ausstellung hat er sie dann vergeblich gesucht. Für sich genommen, ist dies unerheblich. Wesentlicher ist, daß Lenz – auch wenn man die Erstdrucke des Hofmeister und der Schrift Verteidigung des Herrn W. gegen die Wolken von dem Verfasser der Wolken zeigt – in dieser Ausstellung wiederum kein Gesicht bekommt.18 Lenzens erstes Gedicht der Kochberger Zeit steht auf dem unteren Teil der Bleistiftzeichnung, die als Kopie in Kochberg zu sehen ist.

Ach soll so viele Trefflichkeit
So wenig Erde decken
In diesem dürren Moosekleid
Mit kümmerlichen Hecken?
Ist diese schlechte Kissen werth
Daß hier dein Haupt der Ruh begehrt?
19

Die Widmung auf der Rückseite ist pikanterweise Goethe zugedacht:

a place in Kochberg called
the Bruchau
the tomb of Lady St.:
from Lenz to his Friend
Goethe.

Die Tatsache, daß Lenz diesen Zusatz in der Fremdsprache schrieb, verweist auf seine Arbeit als Englischlehrer der Frau von Stein. Die Dokumente aus jenen Wochen sprechen davon, wie Lenzens Unterricht in Kochberg aussah. Beide lasen gemeinsam Shakespeare, wobei sie Ausgaben von Lewis Theobald und William Warburton benutzten. Der Dichter erhoffte sich für den Winter eine ähnliche Arbeit am Weimarer Hof.20

Mitte Oktober sprach Lenz von Goethe als seinem „Freund“. Dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Freundschaft in jenen Tagen brüchiger wurde. Obgleich sich Goethe (im Brief an Charlotte von Stein vom 10. September 1776) Nachrichten von ihr und ihrem Lehrer aus Kochberg entschieden verbat, schrieb ihm der glückliche Lenz wenige Tage später einen Brief, dessen Ränder er mit noch nicht identifizierten Porträtskizzen versah. Er bat um weitere Lektüre:

Schick doch auch sonst was mit für Frau v. Stein, etwa Jungs Autobiographie von der ich ihr erzählt habe.

Da Heinrich Stillings Jugend ohne Wissen des Autors erst 1777 durch Goethe zum Druck befördert wurde, kann Lenzens Schülerin den Text wohl nur im Manuskript gelesen haben. Zudem teilte Lenz dem „lieben Bruder“ mit, die „Frau von Stein findt meine Methode [des Englischunterrichts – U. K.] besser als die Deinige.“21 Auch wenn dies sachlich wohl zutraf – Lenz verfügte als Hofmeister über mehrjährige Lehrerfahrung –, war es undiplomatisch formuliert und mußte Goethe verletzen.
Keineswegs hat Lenz seine Lehrtätigkeit als Alibibeschäftigung aufgefaßt. Dem Freund in Weimar verrät der Hauslehrer sein methodisches Vorgehen.

Ich lasse sie nichts aufschreiben als die kleinen Bindewörter die oft wieder kommen; […] wie man eine Muttersprache lernt. Auch bin ich unerbittlich ihr kein Wort wiederzusagen was den Tag schon vorgekommen und was mich freut ist, daß sie es entweder ganz gewiß wiederfindt oder wenigstens auf keine falsche Bedeutung rät, sondern in dem Fall lieber sagt, daß sies nicht wisse, bis es ihr das drittemal doch wieder einfällt.22

So wird verständlich, daß Lenz rückschauend von Charlotte von Stein als seiner „begeisterten Schülerin“ spricht, die ihn wie keine sonst „angefeuert“23 habe.
Auch in dem kurzen Prosatext „Geschichte des Felsen Hygillus“ sowie in dem Drama Myrsa Polagi oder Die Irrgärten porträtiert Lenz auf verschiedene Weise die Freundin Goethes. Der innigste Text für Charlotte von Stein ist zweifelsfrei das zweite Gedicht, welches auf Schloß Kochberg entstand. Dieses vergleichsweise lange Gedicht, das Braun als Folie diente, kann hier nicht umfassend betrachtet werden. Einiges jedoch sei schlaglichtartig hervorgehoben: Da die Dammsche Ausgabe die Berliner Handschrift zugrundelegt, ist in ihr folgender Zusatz aus der Düsseldorfer Handschrift nicht zu finden:

den letzten Tag in Kochberg
indem Zimmer der Frau
v. Stein gemacht; niemand
als ihr selber vorzulesen
.
24

Dieser Vermerk spricht für die Intimität der zunehmend elegischer werdenden Verse. Lenzens Hinweis war für Goethe gedacht, der das Gedicht seiner Freundin zusandte, ihr es aber wohl nicht vorlas, wie Lenz es sich gewünscht hatte. Gekonnt beiläufig schreibt Goethe in ruhiger klarer Schrift der Freundin mit Bleistift auf das Lenzsche Gedichtmanuskript:

Aus meiner Hütte
Es ist ein so schöner Tag
Und habe Arbeit
Und bin still
Allen Seegen!
G
.
25

Lenzens Kochberger Abschiedstext ist zu großen Teilen ein Lobgesang auf die verehrte Gastgeberin. Wählt der Dichter in der Eingangsstrophe noch die zurückhaltende dritte Person Singular, so erscheint in der übernächsten das vertrauliche Du. Spannung erhält das Gedicht dadurch, daß Lenz alternierend von der Frau und von sich spricht.
Gleich zu Gedichtbeginn wird Shakespeares Name genannt. Anders als im oben zitierten Brief an Goethe, in dem der hofmeisternde Poet dem Freund seine Lehrmethode erläutert, spricht dieser im lyrischen Text davon, wie sich Nähe zu der verehrten Frau über die Lektüre Shakespearescher Texte herstellt.

Und ihr entzücktes Ohr der Sphären Wohllaut hörte.
Wenn sie mit Shakespeare ihren Geist umfing
Ha zitternd oft für Furcht und Freude
Der Engel Lust im süßen Unschuldskleide
In die Mysterien des hohen Schicksals ging
.26

Namentlich im letzten Gedichtpart ist von Lenzens eigener Krise, aber auch von den seelischen und gesundheitlichen Kümmernissen Charlotte von Steins die Rede. Von ihrer schwindenden Lebenslust, ihren „blassen Lippen“ erfahren wir. Die Schlußstrophe führt synthetisierend beider Schicksale zusammen. Deutlich betont der Dichter zugleich den Kontrast. Während der Frau, dem „Himmelskind! wieder einmal der Freuden / Unzählige“, die „Lust zum Leben“ wiedergeschenkt wird, ahnt Lenz, ohne es verhindern zu können, was ihm bevorsteht:

Ich aber werde dunkel seyn
Und gehe meinen Weg allein

Auch wenn der Name Goethes im Gedichttext nicht genannt wird, ist der Geliebte der verehrten Frau vor allem zu Beginn des Gedichts (welches man kaum anders als biographisch auslegen kann) anwesend. Lenz schreibt in der fünften Verszeile gleich doppelt von dem Freund, der letztlich auch Rivale ist:

Wenn sich ihr Herz nach ihm nach ihm empörte.

Gegen Ende der ersten Strophe sieht sich der lyrische Sprecher wiederum neben jemandem, dem weit mehr Glück beschieden ist:

Auch ich sah ihren Pfad, auch mir
War es vergönnt ein Röschen drauf zu streuen
Zur Priesterin des Gottes sie zu weyhen

Charakteristisch für Lenz seit seinen Sesenheimer Liedern ist daß er mit Blick auf Goethe aus der Defensive, gewissermaßen als der Mann im Schatten spricht.27 Und so wundert es auch hier nicht, wenn er sich in der dritten Strophe einen „Strauchelnden“ nennt, den er mit einem „Kranken“ vergleicht.

 

III.
Die Überlegungen zu beiden Gedichten zusammenführend, kann gesagt werden: Für Braun war Kochberg – ähnlich wie für Lenz – nicht lediglich Idylle, sondern Ort produktiver Arbeit. Auf dem Kochberger Sommersitz der Steins mit seinen zahlreichen Gästezimmern – von denen vormals auch Jakob Lenz in der zweiten oder dritten Etage eines bewohnte – schrieb Braun 1980 seine Schiller-Adaption Dmitri und acht Jahre später den Bodenlosen Satz, seinen vorweggenommenen Abschied von der DDR. Vor allem aber entstand hier 1982 sein bühnenwirksamstes Stück, die (auf Tschechows Drei Schwestern zurückgehende) Übergangsgesellschaft. Bei Peter Weiss anknüpfend, hatte Braun hier vor dem Ende der DDR die Utopie eines gesellschaftlichen Übergangs formuliert. Dieser Wandel sah in der Realität gänzlich anders aus. Davon spricht der Dichter, einen kontrastreichen Stabreim nutzend, in der Gedichtmitte:

Das liebe Zimmer der Utopien
Entläßt den Gast in den Unsinn

Wer Ohren hat zu hören, dem kann die Nähe zu Lenzens bereits zitierter Schlußvision, von der wir eine Zeile als Motto für die Jenaer Lenz-Ausstellung (1996) übernahmen, kaum entgehen:

Ich aber werde dunkel seyn
Und gehe meinen Weg allein

Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wollte man entwickeln, welche Bedeutung Leben und Werk des Jakob Michael Reinhold Lenz über die Reminiszenz im obigen Gedicht hinaus für Volker Braun besitzen. Aber angedeutet sei diese Fragestellung wenigstens. Es war sein Schriftstellerkollege Joachim Seyppel, der schon in den siebziger Jahren auf die Affinität der beiden Dichter verwies:

Daß Lenz und Braun sich recht gleichmäßig auf Poesie, Drama, Prosa verteilen, wäre nicht so wichtig, sähe man nicht, wie sehr ihnen daran liegt zu beweisen: keine Virtuosen auf allen Instrumenten zu sein, vielmehr Praktiker des Genres. Vielmehr sprachgewaltige Moralisten. Bei beiden die Unbestechlichkeit des kritischen Blicks. Hier wie dort die mehr als bloß pußlige Ehrlichkeit ohne Rücksicht auf mögliche Rückwirkungen. Die Radikalität im Entwerfen eines Modells der Besserung sozialer Zustände. Die Sprödigkeit der Diktion. Die Unliebenswürdigkeit, ja Gewaltsamkeit der Ausführung. Die Ungängigkeit der Mittel. Das lyrisch Harte. Das, von der Bühnenwirksamkeit her gesehen, eher Untheatralische […]. Die widerborstige Kompromißlosigkeit. Das Nichtzurückschrecken vor Pathetischem und Grausamem […]. Vor allem die ,Art‘ Entwürfe auszuführen, worin sie die ,edelsten Gesinnungen unserer Seele‘ oft mehr als ,in den Entwürfen selbst‘ zeigen. Beiden wirft man daher nicht ungern ,utopische Pläne‘ vor.28

Bei aller Gemeinsamkeit sei dennoch betont, daß Dichter wie Goethe, Hölderlin, Schiller, Büchner, aber auch Rimbaud Volker Braun näher stehen und von ihm weitaus intensiver rezipiert wurden als Jakob Lenz. Gezielt auf Lenz angesprochen, sagte Braun 1993:

Lenz ist ein vortrefflicher Dramatiker. Dieses anrührende Schicksal, seine Unfähigkeit, sich einer Herrschaft anzudienen, hat mich zeitlebens beschäftigt. Weil es eben die Alternative gibt zu einer Goethischen Biographie, eines sehr produktiven und glücklichen Umgangs mit gesellschaftlichen Bedingungen […]. Zwei Leute, die Freunde waren und nicht Freunde sein konnten. Und immer […] war es die Frage, welches Leben führt man? Diese von Goethe vorgezeichnete Beziehung oder daß man die Verhältnisse schneidet und sie höhnisch abweist, mit dem Preis, der dann zu zahlen ist. Natürlich, die Sympathie lag immer bei Lenz und Büchner. Das minderte aber nicht die Liebe zu Goethe als einer ganz begreiflichen ,irdischen‘ Figur.29

Interessant an dieser Äußerung ist, daß Braun zwar den „vortrefflichen Dramatiker“ Lenz lobt, ihn aber vor allem das Leben des Dichters berührt. Wirkungsspuren des Lenzschen Werks in den Texten Volker Brauns sind eher selten zu finden. Eine sei hier abschließend aufgezeigt. In seinem 1969 begonnenen und erst 1982 uraufgeführten Stück Schmitten erzählt Braun folgende Fabel: Jutta Schmitten, Meisterin in einem Betrieb, sperrt sich gegen weitere Qualifikation. Ihr Geliebter, der ehemalige Ingenieur und jetzige Betriebsdirektor Kolb, verweigert ein öffentliches Bekenntnis zu seiner Liebe. In einer in der Stückmitte angesiedelten Unwirklichen Szene büßt Jutta – ihrer Verweigerung wegen – durch Kolb ihren Kopf ein. Im Gegenzug macht die Schmitten Kolb zu einem modernen Hofmeister, indem sie dessen Geschlecht abtrennt. Diese groteske Szene, die das Auseinanderbrechen privaten und öffentlichen Lebens vorführt, endet in einer wilden Umarmung des verstümmelten Paares.30

Im übrigen hat Volker Braun, der Büchner-Preisträger des Jahres 2000, das Kochberger Schloß mit den geräumigen und einstmals für Schriftsteller bezahlbaren „lieben“ Zimmern seit 1990 nicht wieder betreten.

Ulrich Kaufmann, Vortrag aus dem Wuppertaler Lenz-Kolloquium, Juni 1999. In: Andreas Meier (Hrsg.): J.M.R. Lenz. Vom Sturm und Drang zur Moderne. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter, 2001

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