Walt Whitman: Grashalme

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Walt Whitman: Grashalme

Whitman-Grashalme

SCHLIESST EURE TÜREN NICHT

Schließt eure Türen nicht vor mir, ihr stolzen
aaaaaBibliotheken,
Denn was auf allen euern wohlgefüllten Brettern
aaaaafehlte und doch am meisten not tut, bringe ich;
Auftauchend aus Krieg, hab ich ein Buch gemacht –
Die Worte meines Buches nichts, sein Wesen alles,
Ein Buch für sich, den andern nicht verwandt, dem
aaaaaIntellekt nicht verschlossen, –
Du aber, unausgesprochenes Geheimnis, wirst jede Seite durchschauern.

 

 

 

Vorwort zur Erstausgabe der Grashalme 1855

Amerika lehnt die Vergangenheit nicht ab oder was sie in ihrer jeweiligen Sonderheit hervorgebracht hat, unter anderer Staatskunst oder der Auffassung einer Klassenherrschaft oder den alten Religionen – es nimmt die Lehren gelassen hin, ist nicht ungeduldig, weil es äußerlich noch an Ansichten, Sitten und einer Literatur festhält, während das Leben, seinen Bedürfnissen gehorchend, in die neuen Formen des neuen Lebens übergegangen ist – es spürt, daß der Leichnam langsam aus dem Eß- und Schlafzimmer des Hauses getragen wird, es spürt, daß er kurze Zeit an der Tür verweilt – daß er für seine Zeit der Tauglichste war – daß sein Wirken sich vererbt hat auf den starken, wohlgestalten Erben, der nun naht – und daß dieser der Tauglichste sein wird für seine Zeit.
Die Amerikaner haben unter allen Nationen aller Zeiten auf dieser Erde wahrscheinlich die vollkommenste poetische Natur. Die Vereinigten Staaten selbst sind im Grunde das größte Gedicht. In der bisherigen Geschichte der Erde erscheinen die weiträumigsten und tatenfreudigsten Staaten zahm und ruhig neben ihrem viel größeren Raum und Tatendrang. Hier endlich ist im Tun des Menschen etwas, was dem gewaltigen Wirken von Tag und Nacht entspricht. Hier, aller Fesseln ledig, ist Tatkraft, notwendigerweise blind für Besonderheiten und das einzelne, großartig in Massen sich bewegend. Hier waltet Gastlichkeit, die zu jeder Zeit Merkmal von Helden ist. Hier breiten die Vollendung allen Tuns, die das Gewöhnliche verachtet, unvergleichlich in der gewaltigen Kühnheit ihrer Menschenmengen, und der Antrieb ferner Zukunft sich in uneingeengter fließender Weise aus, ihren fruchtbaren herrlichen Überfluß verströmend. Man sieht, dieses Land hat wirklich des Sommers und des Winters Fülle, und es kann niemals zugrunde gehen, solange Korn aus dem Boden wächst, in Obstgärten Apfel von Bäumen fallen, in Buchten Fische schwimmen und Männer mit Frauen Kinder zeugen.
Andere Staaten treten durch ihre Bevollmächtigten in Erscheinung – aber der Genius der Vereinigten Staaten zeigt sich nicht am besten oder reinsten in ihren Exekutiv- oder Legislativkörperschaften, nicht in ihren Gesandten und Schriftstellern, ihren Universitäten, Kirchen oder Salons, auch nicht in ihren Zeitungen oder in ihren Erfindern – sondern immer am reinsten im gemeinen Volk aller Staaten des Südens, Nordens, Westens, Ostens, in seiner ganzen machtvollen Weite. Indessen, die Größe der Nation wäre ohne eine entsprechende Größe und Großmut des Geistes ihrer Bürger monströs. Weder dichtbevölkerte Staaten noch Straßen und Dampfschiffe, weder blühender Handel noch Farmen, Kapital und erworbenes Wissen können dem Ideal eines Menschen – auch dem Dichter nicht – genügen. Ebensowenig können Traditionen genügen.
Eine lebendige Nation kann allzeit ihr Gepräge geben und höchste Autorität auf einfachstem Wege erlangen – nämlich aus der eigenen Seele heraus. Das ist der höchste Grad einträglichen Nutzens von einzelnen wie von Staaten und von augenblicklicher Wirksamkeit und Großartigkeit und der Themen der Dichter. (Als ob es nötig wäre, den Weg zur Überlieferung des Ostens Generation um Generation zurückzutrotten! Als ob die Schönheit und Heiligkeit des Sichtbaren hinter der des Mythischen zurücktreten müsse! Als ob die Menschen sich nicht zu jeder Zeit ihr eigenes Gepräge geben könnten! Als ob die Erschließung des westlichen Kontinents durch Entdecker und das, was aus Nord- und Südamerika geworden ist, geringer wäre als das kleine Schauspiel der Antike oder das ziellose Schlafwandeln des Mittelalters!) Der Stolz der Vereinigten Staaten kehrt sich ab von der Wohlhabenheit und der Eleganz der Städte, von allem Gewinn aus Handel und Landwirtschaft, von aller geographischen Größe und dem Glanz äußerer Siege, um sich zu erfreuen am Anblick und der Vergegenwärtigung vollentfalteter Menschen oder eines vollentfalteten unbezwingbaren einfachen Menschen.
Amerikas Dichter sollen das Alte wie das Neue fassen, denn Amerikas Geschlecht wird von keinem übertroffen. Der Ausdruck des amerikanischen Dichters soll außergewöhnlich sein und neu. Er soll indirekt sein, nicht direkt oder beschreibend oder episch. Sein Wert wird dadurch nur höher. Laßt die Zeiten und Kriege anderer Nationen besungen, ihre Geschichtsepochen und ihr Wesen geschildert sein und ihr Gedicht beendet. Nicht so das Hohelied der Republik. Hier bleibt das Thema schöpferisch, hat Ausblick. Was auch immer zum Stillstand kommt unter dem Geheiß von Sitte, Abhängigkeit oder Gesetz, der große Dichter kennt keinen Stillstand. Abhängigkeit ist nicht sein Meister, er meistert sie. Hoch oben steht er, außer Reichweite, und läßt ein in einem Punkt zentriertes Licht kreisen – er dreht die Achse mit seinem Finger – er verwirrt die schnellsten Läufer, da er da steht; und leicht besiegt er sie und verhüllt sie. Der Zeit, die sich zur Treulosigkeit, Konfektion und Verhöhnung hin verirrt, gebietet er durch stete Treue Einhalt. Treue ist das Antiseptikum der Seele – sie durchdringt breit das einfache Volk und verleiht ihm Beständigkeit, und dieses gibt nie mehr Glaube, Hoffnung und Vertrauen auf. Da ist um einen unwissenden Menschen jene unbeschreibliche Frische und Unbewußtheit, die aller Macht des edelsten ausdrucksreichsten Genius spottet und sie demütig macht. Der Dichter erkennt mit Sicherheit, daß einer, der kein großer Künstler ist, ebenso begnadet und vollkommen sein kann wie der größte Künstler.
Zu vernichten oder umzugestalten, diese Macht wird von dem größten Künstler großzügig geübt, selten aber die des Angriffs. Was vergangen, ist vergangen. Schafft er nicht höhere Vorbilder und bewährt er sich nicht durch jeden Schritt, den er tut, ist er nicht das, was man erwartet. Das Wesen des großen Dichters, obsiegt – nicht Reden noch Kämpfen oder vorbereitete Anschläge. Schau ihm nach, nun ist er diesen Weg gegangen! Keine Spur von Verzweiflung oder Menschenhaß, weder List noch Unnahbarkeit, keine Schmach der Geburt oder Hautfarbe, weder das Blendwerk der Hölle noch die Armseligkeit der Hölle – und kein Mensch wird hinfort wegen Unwissenheit, Schwäche oder Sünde erniedrigt werden. Der größte Dichter kennt nichts Kleinliches, keine Nebensächlichkeit. Haucht er seinen Atem in etwas, was zuvor als klein galt, so weitet es sich in die Größe und Lebensfülle des Universums. Er ist ein Seher – er ist individuell – ist in sich selbst vollkommen – die anderen sind ebensogut wie er, nur, er sieht es und sie nicht. Er stimmt nicht ein in den Chor – er macht vor keiner Vorschrift halt – er ist es, der Vorschriften gibt. Was die Sehkraft für die anderen Sinne, das ist er für die anderen Menschen. Wer kennt das wunderbare Geheimnis der Sehkraft? Die anderen Sinne bestätigen einander, sie aber ist jedem Beweis entrückt, außer dem in sich selbst, und ist ein Vorläufer der Identitäten der geistigen Welt. Ein einziger Blick von ihr spottet aller Forschungen des Menschen, aller Instrumente und Bücher auf Erden und allen Verstandes. Was ist wunderbar? Was unwahrscheinlich, unmöglich, grundlos, unbestimmt – nachdem du einmal den Lidspalt, schmal wie eines Pfirsichs Narbe, geöffnet hast, und alle Nähe und Ferne, der Sonnenuntergang und alle Dinge in dich eingedrungen sind mit elektrischer Schnelle, sacht und in aller Ordnung, ohne Verwirrung, Stoßen und Drängen?
Land und Meer, die Tiere, Fische und Vögel, das Gewölb des Himmels und seine Gestirne, die Wälder, Gebirge und Flüsse sind keine geringen Themen – doch die Menschen erwarten vom Dichter mehr, nicht, daß er nur die Schönheit und Würde weist, die allen stummen greifbaren Dingen eignet – sie erwarten von ihm, daß er den Pfad aufzeige zwischen der Wirklichkeit und ihren Seelen. Männer und Frauen gewahren die Schönheit durchaus – wahrscheinlich ebensogut wie er. Die leidenschaftliche Ausdauer von Jägern, Holzfällern, Frühaufstehern, Garten-, Obst- und Ackerbauern, die Liebe gesunder Frauen zur männlichen Gestalt, zu Seefahrern und Rosselenkern, die Leidenschaft für Licht und Luft, all das sind seit je mannigfaltige Anzeichen des unfehlbaren Schönheitssinnes und der Poesie, die den Menschen innewohnt, die im Freien leben. Ihnen nutzt beim Wahrnehmen die Hilfe des Dichters nichts – einige würden sich ihrer bedienen, aber sie können es nicht. Der poetische Wert ist nicht durch Reim und Gleichmaß gegeben oder durch abstraktes Rühmen der Dinge, noch liegt er in melancholischen Klagen oder trefflichen Lehren, er ist das Leben dieser Dinge selbst und noch vieles mehr, er ruht in der Seele. Der Nutzen des Reims besteht darin, daß er Samen legt für einen noch wohllautenderen und volleren Reim, und der des Gleichmaßes, daß er sich den eigenen unsichtbaren Wurzeln überträgt. Reim und Gleichmaß vollkommener Gedichte weisen das freie Wachstum metrischer Gesetze auf und knospen aus ihnen ebenso untrüglich und zwanglos wie Flieder und Rosen am Busch und nehmen Gestalt an, die ebenso fest ist wie die von Kastanien, Orangen, Melonen und Birnen, und verströmen Duft, um ihm unspürbar Gestalt zu verleihen. Fluß und Schönheit der gelungensten Dichtwerke, der Musik, Rede oder Rezitation sind nicht selbständig, sondern abhängig. Alle Schönheit kommt aus schönem Blut und einem schönen Gehirn. Wenn alles, was groß ist, in einem Mann oder einer Frau zusammenfindet, so ist es genug – diese Tatsache wird durch das ganze Weltall hin Geltung haben; alles Einschränkende und der äußere Glanz von Jahrmillionen wird jedoch keine Geltung haben. Wer seiner Schönheit und seines Wortflusses wegen sich ängstigt, ist verloren. Was du tun sollst, ist dies: Liebe die Erde, die Sonne und die Tiere, verachte Reichtümer, gib jedem, der da bittet, tritt ein für die Unwissenden und Schwachsinnigen, widme dein Einkommen und deine Arbeit anderen, hasse Tyrannen, streite nicht wider Gott, habe Geduld und Nachsicht für deine Mitmenschen, zieh den Hut vor nichts Bekanntem oder Unbekanntem, vor keinem Menschen und vor keiner Menschenmenge – gehe frei mit starken einfachen Menschen um, mit jungen Leuten und Müttern der Familien – überprüfe alles, was du in Schule und Kirche oder aus irgendeinem Buch gelernt hast, und verwirf, was auch immer deine Seele beleidigt; und dein leibhaftiges Fleisch und Blut sollen ein großes Gedicht sein und reichsten Fluß haben, nicht in Worten nur, auch in den stummen Linien der Lippen und des Gesichts und zwischen dem Zucken deiner Lider und in jeder Bewegung, jedem Gelenk deines Körpers. Der Dichter soll seine Zeit nicht in unnützer Arbeit vertun. Er soll wissen, der Boden ist bereits gepflügt und gedüngt; andere mögen es nicht wissen, er aber soll es wissen. Er soll geradewegs an die Schöpfung herangehen. Sein Vertrauen soll das Vertrauen aller Dinge meistern, die er berührt – es soll alle Neigungen meistern.
Das ganze uns bekannte Universum hat einen wahrhaft Liebenden, und das ist der größte Dichter. Er verschwendet sich in ewiger Leidenschaft und ist unbekümmert darum, was ihm das Schicksal bringt, welch mögliche Zufälligkeiten an Glück oder Unheil, er erringt täglich und stündlich seinen köstlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht – ihm ist es Nahrung nur für das Feuer seines Verlangens nach Vereinigung und Liebeslust. Anderer Fähigkeit zur Freude schwindet zu nichts vor der seinen. Alles, was man vom Himmel oder vom Höchsten nur erwarten kann, bewegt ihn innig, beim Anblick der Morgendämmerung oder der Szenerie des Winterwaldes oder in der Gegenwart spielender Kinder oder wenn er den Arm um den Nacken eines Mannes oder eines Weibes legt. Seine Liebe hat mehr denn alle andere Liebe Muße und Raum – Raum über ihn selbst hinaus. Er ist kein zaghafter, kein argwöhnischer Liebhaber – er ist zuversichtlich, er verschmäht Distanz. Sein Erleben, seine Schauer und Erschütterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn abschrecken – Leiden nicht noch Finsternis – nicht Tod noch Furcht. Ihm sind Klage, Eifersucht und Neid Leichname, begraben und im Erdreich verfault – er sah sie in die Grube fahren. Die See ist ihres Ufers nicht gewisser oder das Ufer nicht der See als er des Genusses seiner Liebe und aller Vollkommenheit und Schönheit.
Der Genuß der Schönheit ist keine Sache von Glück oder Zufall −, er ist so unumgänglich wie das Leben – ist wirklich und gewichtig wie die Schwerkraft. Vom Augenlicht geht ein anderes Augenlicht aus und vom Hören ein anderes Hören und von der Stimme geht eine andere Stimme aus, ewig begierig auf die Harmonie zwischen dem Menschen und den Dingen. Diese verstehen das Gesetz der Vollendung in Menschenmengen und -fluten: daß es verschwenderisch ist und gerecht – daß es nicht eine Minute des Lichts oder des Dunkels gibt, nicht ein Geviert Erde oder Meer ohne es – nicht eine Richtung des Himmels noch irgendein Gewerbe oder eine Beschäftigung noch den Ablauf irgendeines Geschehens. Dies ist der Grund dafür, daß im eigentlichen Ausdruck der Schönheit Genauigkeit herrscht und Ausgewogenheit. Kein Teil braucht den anderen zu übertreffen. Nicht wer die zarteste und kraftvollste Stimme hat, ist der beste Sänger. Nicht durch den schönsten Klang und das schönste Maß haben wir Gefallen an Gedichten.
Ohne Anstrengung, ohne im geringsten darzulegen, wie es zustande kommt, bringt der größte Dichter den Geist jeder Begebenheit und Leidenschaft, von Bild und Mensch hervor, manchmal mehr, manchmal weniger stark, so beim Hören oder Lesen deine eigene Persönlichkeit formend. Dieses gut zu vollbringen, heißt sich messen mit den Gesetzen, die der Zeit entsprechen und ihr obliegen. Zweck und Ziel müssen auf jeden Fall erfüllt werden, und der Schlüssel dafür muß vorhanden sein – und der leiseste Hinweis ist der Hinweis auf das Beste und wird so der deutlichste Hinweis. Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt voneinander, sondern vereint. Der größte Dichter gestaltet, was sein wird, folgerichtig aus dem, was ist und war. Er zieht die Toten aus ihren Särgen und stellt sie wieder auf die Füße. Er sagt zur Vergangenheit: Stehe auf vor mir und wandle, auf daß ich dich erkenne! Er lernt von ihr – er stellt sich dorthin, wo die Zukunft Gegenwart wird. Der größte Dichter wirft nicht nur seine Strahlen über Charaktere, Szenen und Leidenschaften – er erklimmt zum Schluß größere Höhen und verleiht allem Vollendung – er läßt die höchsten Gipfel sehen, von denen niemand sagen kann, wozu sie da sind oder was jenseits von ihnen liegt – er leuchtet einen Augenblick auf am äußersten Rand. Am wunderbarsten ist er in einem halbverborgenen letzten Lächeln oder Runzeln der Stirn; durch diesen Blitz im Augenblick des Scheidens wird der, der ihn sieht, für viele Jahre später noch ermutigt oder erschreckt. Der größte Dichter moralisiert nie, er gibt keine Regeln für Moral – er kennt des Menschen Seele. Der Seele eignet der grenzenlose Stolz, niemals eine Lehre oder Erfahrung anzuerkennen als die eigene nur. Aber so groß wie ihr Stolz ist auch ihr Mitgefühl, eines gleicht das andere aus, und keines von beiden kann zu weit gehen, solange es sich mit dem anderen verbindet. Die innersten Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem Einssein. Der größte Dichter hat eng zwischen ihnen beiden gelegen, und sie leben ganz in seinen Gedanken, seinem Stil. Die Kunst der Künste, der Glanz der Darstellung und die leuchtende Sonnenhelle der Literatur ist Einfachheit. Nichts ist besser als Einfachheit – nichts kann Übertreibung oder Unbestimmtheit wiedergutmachen. Das Schwellen des Impulses weiterzutreiben, die geistigen Tiefen zu durchdringen und allen Gegenständen Ausdruck zu verleihen sind weder gewöhnliche noch sehr ungewöhnliche Fähigkeiten. In der Literatur aber mit der vollkommenen Richtigkeit und Unbekümmertheit der Bewegung von Tieren, mit der Unanfechtbarkeit empfindsamer Wesen von Bäumen im Wald und vom Gras am Wege zu sprechen, ist der makellose Triumph der Kunst. Hast du einen gesehen, dem das gelungen ist, so hast du einen der Meister unter den Künstlern aller Völker und Zeiten gesehen. Du sollst nicht den Flug der grauen Möwe über der Bucht, den feurigen Schritt des Vollbluts, die vom hochgewachsenen Stengel sich neigenden Sonnenblumen, die Erscheinung der Sonne bei ihrem Lauf am Himmel und die Erscheinung des Mondes danach mit größerem Wohlgefallen betrachten als ihn. Der große Dichter hat nicht so sehr einen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken und Dingen ohne Zugabe oder Abschwächung und der freie Kanal seiner selbst. Er gelobt seiner Kunst: Ich will mich nicht aufdrängen, ich will in meinen Arbeiten weder Eleganz noch Effekthascherei noch Originalität haben, die wie ein Vorhang zwischen mir und den anderen hängen. Nichts will ich zwischen uns haben, auch den prächtigsten Vorhang nicht. Was ich sage, bedeutet genau das, was es wirklich ist. Mag, wer will, begeistern, verblüffen, bezaubern oder schmeicheln, meine Ziele wollen die gleichen sein wie die von Gesundheit, Hitze oder Schnee, und wie sie will ich unbekümmert sein, was andere davon halten. Was ich erlebe oder darstelle, soll aus meiner Arbeit ohne eine Spur meiner Tätigkeit hervorgehen. Du sollst neben mir stehen und mit mir in den Spiegel schauen.
Das alte rote Blut und der makellose Adel großer Dichter wird durch ihr ungezwungenes Wesen bewiesen. Ein heldenhafter Mensch schreitet ruhig durch Gewohnheiten, Herkömmlichkeiten und Geltungen, die ihm nicht gemäß sind, hindurch. Kein Charakterzug der Gemeinschaft von bedeutenden Schriftstellern, Gelehrten, Musikern, Erfindern und Künstlern ist so vortrefflich wie der schweigende Trotz, der aus neuen freien Gestaltungen vorwärtsdrängt. Im Bedürfnis nach Dichtung, Philosophie, Politik, Technik, Wissenschaft, Arbeitsweise, Kunstfertigkeit, nach einer angemessenen großartigen ursprünglichen Oper, der Schiffsbaukunst oder jeglicher Handwerkskunst, ist für allezeit der Größte, der das größte neuartige praktische Beispiel liefert. Das ist der reinste Ausdruck, der keine geistige Sphäre seiner selbst würdig findet und sich selbst eine schafft.
Die Botschaft großer Dichtungen an alle Menschen lautet: Kommt als Gleichberechtigte zu uns, nur dann könnt ihr uns verstehen. Wir sind nicht besser als ihr; was in uns ist, das ist auch in euch, woran wir uns erfreuen, daran könnt ihr euch auch erfreuen. Meintet ihr, es könnte nur einen einzigen Höchsten geben? Wir versichern, daß es ungezählte Höchste geben kann und daß der eine den anderen ebensowenig aufwiegt wie ein Augenlicht das andere – und daß die Menschen nur durch das Bewußtsein ihrer eigenen Hoheit gut und groß sein können. Worin, glaubt ihr, liegt die Größe der Stürme und Verheerungen, der verlustreichsten Schlachten und Schiffbrüche, der wildesten Wut der Elemente und der Gewalt des Meeres und des Kreislaufs der Natur, der tiefen Schmerzen menschlichen Sehnens, der Würde, des Hasses und der Liebe? Es ist jenes Etwas in der Seele, das uns sagt: Wüte weiter, wirble fort und fort, ich wandle hier und überall als Herr – Herr über die Zuckungen des Himmels und des Meeres Zerschmettern, Herr über Natur und Leidenschaft und Tod, über alle Schrecknisse, alle Qual.
Die amerikanischen Sänger, sollen durch Großmut, Wohlwollen und durch die Ermutigung ihrer Gefährten gekennzeichnet sein. Sie sollen, ohne Ausschließlichkeit und Heimlichkeit, welthaltig sein; sie sollen glücklich sein, jedem alles zu übermitteln – Tag und Nacht dürstend nach Wesensgleichen. Sie sollen nicht nach Reichtum trachten und Privileg – sie sollen selber Reichtum und Vorrecht sein – sie sollen spüren, wer der überströmendste Mensch ist. Der Überströmendste ist, der allen Erscheinungen, die er wahrnimmt, entgegentritt, kraft des Gegenwertes seines ihm innewohnenden stärkeren Reichtums. Der amerikanische Sänger soll keine besondere Klasse beschreiben, weder eine Interessenschicht noch zwei, nicht vorrangig Liebe noch Wahrheit, nicht vorrangig die Seele noch den Leib – auch nicht die Oststaaten mehr als die Weststaaten oder die Nordstaaten mehr als die des Südens.
Exakte Wissenschaft und ihre praktische Tätigkeit ist für den größten Dichter nicht Hemmnis, sondern stets eine Ermutigung und Stütze. Dort sind Anfänge und Erinnern – dort die Arme, die ihn zuerst emporhoben und ihn am besten hielten – dorthin kehrt er nach all seinem Gehen und Kommen zurück. Der Seefahrer und Reisende, der Anatom, Chemiker, Astronom, Geologe, Phrenologe, Spiritualist, Mathematiker, Historiker und Lexikograph sind keine Dichter, aber sie sind die Gesetzgeber der Dichter, und ihre Erkenntnisse liegen dem Bau jedes vollendeten Gedichtes zugrunde. Gleichviel, was emporwächst oder Ausdruck findet, sie pflanzten den Samen zu der Konzeption – von ihnen kommen, bei ihnen stehen die sichtbaren Zeichen von Seelen. Wenn Liebe und Einverständnis sein soll zwischen dem Vater und dem Sohn, und wenn des Sohnes Größe die Ausstrahlung der Größe des Vaters ist, dann soll auch Liebe walten zwischen dem Dichter und dem Mann der beweisbaren Wissenschaft. Die Schönheit der Dichtung soll künftig Zierde und letzte rühmende Bestätigung der Wissenschaft sein.
Groß ist das Vertrauen in den Strom des Wissens und in die Erforschung der Tiefen von Eigenschaften und Dingen. Eindringen und Einkreisen läßt hier des Dichters Seele wachsen, doch immer ist er Herr seiner selbst. Die Tiefen sind unergründlich, also stumm. Unschuld und Nacktheit werden zurückgewonnen – sie sind weder züchtig noch unzüchtig. Die ganze Theorie vom Übernatürlichen und alles, was damit in Zusammenhang gebracht oder daraus abgeleitet wurde, schwindet wie ein Traum. Was je geschehen – was geschieht und immer auch geschehen mag oder wird, die Gesetze des Lebens schließen alles ein. Sie genügen jedem Fall und allen – keines soll beschleunigt oder verzögert werden −, jedes besondere Wunder einer Begebenheit oder eines Menschen ist unzulässig in diesem weiten offenen System, in dem jede Regung, jeder Grashalm, Gestalt und Geist von Männern und Frauen und alles, was sie betrifft, unsagbar vollkommene Wunder sind, alle aufeinander abgestimmt und ein jedes verschieden und an seinem Platz. Es ist auch unvereinbar mit der Wirklichkeit der Seele, anzunehmen, es gäbe im bekannten Universum etwas, was göttlicher sei als Männer und Frauen.
Männer und Frauen und die Erde und alles, was auf ihr ist, sollen genommen werden wie sie sind, und die Erforschung ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart und Zukunft soll ununterbrochen und mit vollkommener Unparteilichkeit geschehen. Auf dieser Grundlage stellt die Philosophie ihre Betrachtungen an, den Blick immer zum Dichter gewandt, immer das ewige Streben aller zum Glück im Blickfeld, immer in Übereinstimmung mit dem, was den Sinnen und der Seele klar ist. Denn das ewige Streben aller zum Glück macht allein den Kern einer geistig gesunden Philosophie aus. Alles ist belanglos, was weniger umfaßt als dies – was geringer ist als die Gesetze von Licht und astronomischer Bewegung −, als die Gesetze, die den Dieb, den Lügner, den Schlemmer und den Säufer in diesem Leben verfolgen wie zweifelsohne auch danach oder als die unermeßliche Erstreckung der Zeit, das langsame Herausbilden von Dichte oder das geduldige Wachsen geologischer Schichten. Ebenso belanglos ist, so man gegen ein Wesen oder eine Einwirkung kämpft, was Gott in eine Dichtung oder ein philosophisches System legen würde. Gesundheit und Ganzheit kennzeichnen den großen Meister ist ein einziger Bestandteil verdorben, ist alles verdorben. Der große Meister hat nichts mit Wundern gemein. Er sieht die Gesundheit für sich darin, einer der Menge zu sein – er sieht die Abspaltung in besonderem Vorrang. Zur vollkommenen Form gehört eine allgemeine Grundlage. Unter dem allgemeinen Gesetz zu stehen, ist etwas Großes, denn das heißt, mit ihm in Einklang stehen. Der Meister weiß, daß er unsagbar groß ist und daß alle unsagbar groß sind – daß zum Beispiel nichts größer ist, als Kinder zu empfangen und sie gut aufzuziehen – daß zu sein ebenso groß ist wie wahrzunehmen und zu erzählen.
Für das Werden großer Meister ist die Idee der politischen Freiheit unerläßlich. Freiheit findet Helden als Anhänger, wo immer Männer und Frauen leben – niemals aber findet sie treuere Anhängerschaft und heißeres Willkommen als bei den Dichtern. Sie sind die Stimme und die Verkörperung der Freiheit. Sie sind seit Menschengedenken dieser großen Idee würdig – ihnen ist sie anvertraut, und sie müssen sie hüten. Nichts hat Vorrang vor ihr, nichts kann sie beirren oder erniedrigen.
Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos in ihrem leibhaftigen Körper konzentriert sind und in ihrem Gefallen an den Dingen, haben sie den Vorzug der Echtheit vor aller Erfindung und Schwärmerei. Wenn sie sich verströmen, werden alle Dinge mit Licht übergossen – das Tageslicht ist aufgehellt mit flüchtigerer Helligkeit −, und die Tiefe zwischen Sonnenauf- und -untergang wird um vieles tiefer. Jeder bestimmte Gegenstand, jeder Zustand, jede Vereinigung, jeder Vorgang stellt eine besondere Schönheit dar – das Einmaleins die seine – das Alter die seine – das Zimmermannshandwerk die seine, die Große Oper die ihre – der scharfbugige Riesenrumpf des New-Yorker Schnellseglers auf See, unter Dampf oder vollen Segeln, leuchtet in unvergleichlicher Schönheit – die weiten, in Eintracht handelnden Kreise der Regierung Amerikas leuchten in gleicher Weise – und die gewöhnlichsten, klar umrissenen Vorhaben und Handlungen in gleicher Schönheit. Die Dichter des Kosmos schreiten durch alle Hindernisse, Barrieren, durch Aufruhr und Kriegslisten hindurch zu den höchsten Prinzipien. Sie sind nützlich – sie befreien die Armut von ihrer Not und die Reichen von ihrem Dünkel. Du mächtiger Besitzender, sagen sie, sollst nicht mehr zu Geld machen, nicht mehr erreichen als irgendein anderer. Eigentümer der Bibliothek ist nicht, wer einen Rechtsanspruch darauf hat, weil er sie gekauft und bezahlt hat. All und jeder ist Eigentümer der Bibliothek (in Wirklichkeit ist er oder sie allein Eigentümer), der sie in all den verschiedenen Sprachen, Themen und Stilarten zu lesen vermag, in den diese ohne Mühe eingehen und den sie gelehrig, stark, reich und weit machen. Diese Staaten Amerikas, stark, gesund und vollkommen, sollen kein Vergnügen an Entweihung der natürlichen Vorbilder haben und dürfen sie nicht zulassen. In Gemälden, Skulpturen oder Schnitzwerken aus Stein oder Holz, in Illustrationen, von Büchern und Zeitungen, in den Mustern von Geweben, in allem, was Räume, Möbel und Kleider schmücken oder auf Gesimsen und Denkmälern stehen soll oder auf dem Bug und Heck der Schiffe oder irgendwo vor dem Auge des Menschen im Haus oder draußen ist alles Unfug und Verrat, was die rechtschaffene Form verzerrt oder unirdische Wesen, Örtlichkeiten oder Ereignisse darstellt. Vor allem ist die Menschengestalt so erhaben, daß sie nie ins Lächerliche gezogen werden darf. Übertriebene Verzierungen eines Werkes können nicht zugelassen werden – nur solche, die den vollkommenen Erscheinungen, der freien Natur entsprechen und die unumgänglich aus der Natur des Werkes selbst hervorgehen und zu seiner Vollendung nötig sind. Die meisten Werke sind am schönsten ohne Aufschmuck. Übertreibungen rächen sich an der Physiologie des Menschen. Reine und starke Kinder werden nur in den Gemeinwesen hervorgebracht und empfangen, wo die Vorbilder natürlicher Formen jeden Tag vor aller Welt sichtbar stehen. Der große Genius und das Volk unserer Staaten darf nicht ins Schwärmerische erniedrigt werden. Wenn die Geschehnisse richtig erzählt werden, bedarf es keiner Schwärmerei.
Die großen Dichter sind zu erkennen am Fehlen jeglicher Unechtheit und an der Bestätigung ihrer vollkommenen persönlichen Lauterkeit. Wer von vollkommener Lauterkeit ist, dem sollen alle Fehler verziehen sein. Hinfort soll keiner von uns mehr lügen, denn wir haben erkannt, daß Aufrichtigkeit die innere wie die äußere Welt gewinnt, ohne eine einzige Ausnahme, und daß, seit unsere Erde sich zu einer Masse geballt hat, noch nie Betrug, Falschheit und Verschlagenheit auch nur das kleinste Körnchen von ihr oder den leisesten Hauch eines Schattens an sich gezogen haben – und daß auch durch Reichtum und Macht eines Staates oder der ganzen Staatenrepublik ein sich verbergender kriecherischer verschlagener Mensch entdeckt und der Verachtung ausgesetzt wird – und daß die Seele sich nie hat narren lassen und nicht genarrt werden kann – und daß Sparsamkeit ohne die liebende Zustimmung der Seele nur ein fauliger Brodem ist – und daß es nie ein Wesen gegeben hat, das von Natur die Wahrheit haßte, auf keinem Kontinent des Erdenrunds, auf keinem Planeten oder Satelliten, nicht im Mutterleib noch irgendwann im Wechsel des Lebens, in keiner Spanne der Ungewißheit oder des Wirkens der Lebenskraft noch in irgendeinem Prozeß des Wachsens oder der Umgestaltung irgendwo.
Äußerste Vorsicht oder Klugheit, prächtigste leibliche Gesundheit, starkes Vertrauen und ein sich Gleichsetzen, Liebe zu Frauen und Kindern, große nährende und zerstörende Gewalt und Ursprünglichkeit mit dem vollkommenen Sinn für die Einheit der Natur, den Besitz des nämlichen Geistes, der menschlichen Dingen eignet, werden aus dem Strömen des Weltgehirns aufgerufen, wesentlicher Teil des größten Dichters zu sein vom Geborenwerden aus seiner Mutter Schoß an und von ihrem Geborenwerden aus ihrer Mutter Schoß an. Vorsicht reicht selten weit genug. Man hatte gedacht, die wären bedachtsame Bürger, die ihr ganzes Selbst auf solide Gewinne richteten und für sich und ihre Familie wohl gesorgt und ein Leben nach dem Gesetz ohne Schuld und Verbrechen zu führen beschlossen hätten. Der größte Dichter sieht diesen Nutzen durchaus, er läßt ihn gelten, wie er auch den Nutzen von Ernährung und Schlaf sieht, aber er hat höhere Vorstellungen von Klugheit, als zu glauben, er gäbe schon viel, wenn er nur ein paar flüchtige Aufmerksamkeiten an der Türklinke erweist. Die Voraussetzungen zur Lebensklugheit bestehen nicht in des Lebens Gastlichkeit, nicht in seinem Reifen oder seiner Ernte. Über jene Unabhängigkeit hinaus, die eine kleine Summe auf die Seite gelegten Sterbegeldes, ein paar Schindeln ringsum, ein paar Ziegel über dem Kopf auf einem eigenen Fleckchen amerikanischer Erde und die für die alljährliche Kleidung und Nahrung zur Verfügung stehenden Dollars gewähren, über die traurige Lebensklugheit hinaus, daß sich ein so erhabenes Wesen wie der Mensch preisgibt dem Glücksspiel und der Leere jahrelangen Gelderwerbs mit all seinen dörrenden Tagen und eisigen Nächten, all seinen würgenden Enttäuschungen und heimlichen Winkelzügen, mit seinem endlosen KIeinkram in Salons und dem schamlosen Prassen, wenn andere verhungern, mit all der Einbuße an Blüte und Duft der Erde, der Blumen, der Luft und des Meeres, der wahren Freude an Frauen und Männern, denen du begegnest oder mit denen du zu tun hast in der Jugend und im besten Alter und mit der ausbrechenden Krankheit und dem verzweifelten Aufbegehren am Ende eines Lebens ohne Aufschwung und Unschuld (selbst wenn du es zu einer Rente von zehntausend Dollar im Jahr gebracht hast oder in den Kongreß oder die Regierung gewählt worden bist) und mit dem grausigen Geschwätz über einen Tod ohne Heiterkeit und Hoheit – gibt es den großen Betrug an der modernen Zivilisation und ihrer Vorsorge, der die Oberfläche und die zweifelsohne planvoll entwickelte Ordnung der Zivilisation entstellt und ihre unermeßlichen Züge, die sie mit so großer Schnelligkeit immer weiter ausbreitet, mit Tränen netzt, bevor die Küsse der Seele sie erreichen können.
Immer noch steht die wahre Auslegung der Klugheit aus. Die Klugheit bloßen Reichtums und Ansehens, die das höchst achtbare Leben genießt, scheint zu schwach, um überhaupt mit dem Auge wahrgenommen zu werden, wenn klein und groß in gleicher Weise in Gedanken über die Klugheit, die der Unsterblichkeit angemessen ist, friedlich nebeneinandergeraten. Was bedeutet eine Weisheit, die die Geringfügigkeit eines Jahres oder von siebzig oder achtzig Jahren ausfüllt – gegenüber der Weisheit, die über Jahrhunderte sich erstreckt und zu einer bestimmten Zeit sich wieder meldet mit angewachsener Kraft und reichen Geschenken und, so weit du blicken kannst, in jeder Richtung, den strahlenden Gesichtern von Hochzeitsgästen, die dir fröhlich entgegenlaufen? Nur die Seele ist aus sich selbst – alles andere lebt vom Bezug zu dem, was sich ergibt. Alles, was ein Mensch tut oder denkt, hat seine Konsequenz. Nie kann der Drang der Barmherzigkeit oder persönlicher Kraftentfaltung etwas anderes sein als der lauterste Beweggrund, ob er nun den Beweis liefert oder nicht. Eine genaue Aufstellung ist nicht vonnöten – ein Hinzurechnen, ein Subtrahieren oder Teilen ist unnütz. Ob wenig oder viel, gebildet oder ungebildet, weiß oder schwarz, gesetzlich oder ungesetzlich, krank oder wohlauf, vom ersten Atem, der durch die Luftröhre fließt, bis zum letzten Ausatmen ist alles, was ein Mann oder eine Frau tut, so es stark, mild herzig und sauber ist, ganz zweifellos für allezeit von Gewinn für ihn oder für sie in der unerschütterlichen Ordnung des Universums und in seinem ganzen Bereich. Die Klugheit der größten Dichter entspricht am Ende der grenzenlosen Sehnsucht und Fülle der Seele, sie vertagt nichts, gestattet kein Ablassen von der eigenen Sache noch von irgendeiner anderen, kennt keinen besonderen Sabbat noch ein eigenes Jüngstes Gericht, scheidet die Lebenden nicht von den Toten noch die Gerechten von den Ungerechten, gibt sich zufrieden mit der Gegenwart, bringt jeden Gedanken und jede Handlung mit ihren Auswirkungen in Einklang und kennt keine mögliche Vergebung oder übertragene Sühne.
Die unmittelbare Prüfung, wer der größte Dichter sein könnte, findet heute statt. Wenn er sich nicht selbst wie mit ungeheurer Meeresflut mit der heutigen Zeit überströmt – wenn er selbst nicht das umgewandelte Zeitalter wäre und ihm nicht die Ewigkeit aufgetan ist, dann laß ihn untertauchen im allgemeinen Gang der Dinge und seiner Entwicklung harren. Die Ewigkeit, die allen Epochen, Orten und Vorgängen, allen beseelten und unbeseelten Gebilden ihr Ebenbild verleiht, ist das Bindende der Zeit und hebt sich aus ihrer unbegreiflichen Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit heraus in die fließenden Formen des Heut und wird gehalten von den dehnbaren Ankern des Lebens und bildet den gegenwärtigen Durchgangspunkt für das, was war, zu dem, was sein wird, und anvertraut sich selbst dem Spiel dieser Woge einer Stunde, dieser einen unter den sechzig schönen Kindern der Woge. Die endgültige Prüfung von Dichtung, Wesensart und Werk stehen noch immer aus. Der ins Künftige schauende Dichter wirft sein Bild Jahrhunderte voraus und beurteilt Künstler und Darstellung nach dem Wandel der Zeit. Lebt es durch sie? Währt es noch, unerschöpft? Wird der nämliche Stil und die Wegrichtung des Genius auf ähnliche Ziele noch Befriedigung gewähren? Hat der Gang von zehn, Hunderten oder Tausenden von Jahren die Umwege nach rechts und nach links um seinetwillen gemacht? Wird der Dichter, nachdem er begraben ist, fort und fort geliebt würden? Denkt der Jüngling oft an ihn? Und denkt die junge Frau oft an ihn? Und die mittleren Alters und die Alten, denken sie an ihn?
Große Dichtung ist Jahrhunderte und Jahrhunderte gültig, für jeden Rang und jedes Temperament, für alle Lebensbezirke und Glaubensrichtungen, für die Frau ebenso wie für den Mann und für den Mann ebenso wie für die Frau. Ein großes Gedicht ist für Mann und Frau nicht Abschluß, sondern Beginn. Hat jemand sich vorgestellt, er könnte am Ende im Schutz einer angemessenen Macht sitzen und ausruhen, an Auslegungen Genüge finden und sie verwerten und Zufrieden sein und erfüllt? Der größte Dichter schafft einen solchen Endpunkt nicht – er führt weder zur Ruhe noch zu wohlbehüteter Sattheit und Bequemlichkeit. Seine Berührung wirkt wie die Natur in voller Tätigkeit. Die er mitführt, führt er festen sicheren Griffs in lebenerfüllte, einstmals unerreichbare Gebiete mit – von nun an ist keine Ruhe mehr – sie gewahren den Raum und den unbeschreiblichen Glanz, die alle alten Flecken und Lichter in ein totes Vakuum verwandeln. Nun soll dort ein Mensch sein, ganz Aufruhr und Chaos – der Ältere spricht dem Jüngeren Mut zu und weist ihm, was er tun muß – und beide sollen furchtlos zusammen fortschreiten, bis die neue Welt sich eine neue Planetenbahn geschaffen hat und ohne Wirrnis auf die unbedeutenden Bahnen der Sterne schaut und hinfliegt durch das unaufhörliche Kreisen und nie wieder zur Ruhe kommt.
Bald wird es keinen Priester mehr geben. Ihr Werk ist getan. Eine neue Ordnung soll erstehen, sie sollen Priester der Menschen sein, jeder Mensch soll sein eigener Priester sein. Sie sollen ihre Inspiration in den wirklichen Gegenständen des Tages finden, Zeichen der Vergangenheit und Zukunft. Sie sollen sich nicht herablassen, die Unsterblichkeit zu rechtfertigen oder Gott, die Vollkommenheit der Dinge, die Freiheit oder die erlesene Schönheit und Wahrheit der Seele. Sie sollen von Amerika ausgehen, und die übrige Welt soll ihnen entgegenkommen.
Die englische Sprache begünstigt das große amerikanische Ausdrucksvermögen – sie ist stark genug, geschmeidig und reich genug. Als zäher Stamm eines Menschengeschlechts, das durch alle Wechselfälle hindurch nie die Idee der politischen Freiheit aufgegeben hat, die der Geist jeglicher Freiheit ist, hat sie Begriffe aus Sprachen übernommen, die feiner heiterer gewandter und eleganter sind. Sie ist die machtvolle Sprache des Widerstandes – sie ist die Ausdrucksform des gesunden Menschenverstandes. Sie ist die Sprache des stolzen und schwermütigen Geschlechts und aller, die emporstreben. Sie wird bevorzugt, um Wachstum, Treue, Selbstachtung, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Wohlwollen, Großmütigkeit, Klugheit, Entschlossenheit und Mut auszudrücken. Sie ist das Medium, das fast das Unaussprechliche verkünden soll.
Keine große Literatur, keine ähnliche Lebensart oder Redekunst, kein gesellschaftlicher Umgang, keine Haushaltführung oder öffentliche Einrichtung oder die Art, wie Vorgesetzte ihre Angestellten behandeln, keine Durchführungsbestimmung, keine Richtlinie der Armee und der Marine, weder der Geist der Gesetzgebung und der Gerichtshöfe, weder die Polizei, das Erziehungswesen oder die Architektur, weder Gesänge noch Vergnügen können sich auf die Dauer der eifernden leidenschaftlichen Natur der amerikanischen Maßstäbe entziehen.
Ob die Münder der Menschen es aussprechen oder nicht, es pocht eine lebendige Frage im Herzen jedes freien Mannes, jeder freien Frau nach dem, was vergeht, und dem, was aufgebaut wird, um zu dauern. Ist es meinem Land gemäß? Bergen die Anordnungen keine schändlichen Sonderbestimmungen? Steht es für die stetig wachsende Gemeinschaft von Brüdern und Liebenden, weit, wohlverbunden, stolz, über den alten Vorbildern, kühn über allen Vorbildern? Ist das, was vergeht und aufgebaut wird, als wäre es frisch aus den Feldern aufgeschossen oder aus dem Meer gezogen, damit ich heute und hier es nutzen kann? Ich kenne den, der an meiner Statt Antwort gibt: ein Amerikaner in Texas, Ohio oder Kanada muß für jeden einzelnen, jede Nation Antwort geben, die mir Bestandteil meines Stoffes ist. Gibt dies Antwort? Nährt es die Jugend der Republik? Löst es sich gut und schnell in der süßen Milch der Brust der Mutter vieler Geschöpfe?
Amerika bereitet sich mit Gelassenheit und Wohlwollen auf seine Besucher, die sich angemeldet haben, vor. Nicht der Verstand soll ihnen Gewähr und Willkommen sein. Der Begabte, der Künstler, der Intellektuelle, der Verleger, der Staatsmann, der Gelehrte, alle sind geachtet – sie sind recht an ihrem Platz und erfüllen ihre Aufgabe. Aber auch die Seele der Nation erfüllt ihre Aufgabe. Sie weist keinen zurück, sie läßt alle zu. Nur wer ihr gemäß, dem wird sie halbwegs entgegengehen. Ein einzelner ist ebenso herrlich wie eine Nation, wenn er die Eigenschaften aufweist, die eine herrliche Nation ausmachen. Die Seele der größten reichsten und stolzesten Nation kann wohl der ihrer Dichter halbwegs entgegengehen, um sich der ihren zu verbinden.

Walt Whitman, Vorwort

 

Vorbemerkung

Die Gestalt, in der uns Walt Whitman die Grashalme, sein dichterisches Lebenswerk, hinterlassen hat, ist die der 9. Auflage (1891, Philadelphia, bei McKay. – Die 10. Auflage ist, nach Whitmans Tod, bei Small, Maynard & Comp., Boston 1897, erschienen).
Die Grashalme wuchsen sich im Laufe von Whitmans Leben von dem schmalen Bändchen der Erstausgabe allmählich zu dem starken Band der Ausgabe letzter Hand aus. Einzelne Gedichtkomplexe wurden zunächst in Einzelbroschüren unter besonderen Titeln, zum Teil mit Prosaaufsätzen vermischt, veröffentlicht und späterhin in die Grashalme eingegliedert, wobei für W. chronologische Gesichtspunkte nicht immer maßgebend waren, da Plan und Geist seiner Dichtung von Anfang an der gleiche blieben und spätere Gedichte nur in die weiten Maschen dieses Planes eingewirkt wurden, so daß zum Beispiel Gesänge, die in der letzten Ausgabe mit vollem innerem Recht am Schluß stehen, wie etwa das „Lebwohl“, bereits aus seiner ersten Zeit, aus seinen vierziger Jahren stammen. Man kann übrigens nicht sagen, daß Whitman bei dieser Art von Einordnung immer eine glückliche Hand gehabt habe.
Die Erstausgabe erschien 1855 im Selbstverlag, Brooklyn, New York, 95 Seiten stark. Die zweite ebenfalls im Selbstverlag, New York 1856. 1860 folgte die 3. Auflage, die zum erstenmal einen Verleger fand, Thayer & Eldridge, Boston.
Während der Jahre des Sezessionskrieges, 1862–1864, schrieb Whitman die Drum-Taps („Trommelschläge“), die er 1865 als Sonderdruck im Selbstverlag, New York, und 1867 zusammen mit der 4. Auflage der Grashalme (New York, Selbstverlag) veröffentlichte.
1871 gab er den Gesang Passage to India („Durchfahrt nach Indien“) im Selbstverlag in Washington als Sonderdruck heraus, den er noch in demselben Jahre in die 5. Auflage der Grashalme (Washington, Selbstverlag) aufnahm.
1872 folgte ein Bändchen Gedichte unter dem Titel As a Strong Bird on Pinions free („Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei“) ebenfalls im Selbstverlag, Washington. 1876 erschien die sechste Auflage der Grashalme und ein aus Gedichten und Prosa gemischtes Bändchen Two Rivulets („Zwei Bächlein“) in Camden, Selbstverlag.
1881 wurde unter seiner Aufsicht die 7. Auflage in Boston bei J.R. Osgood & Co. gedruckt. Infolge des Einspruchs der Staatsanwaltschaft des Staates Massachusetts verweigerte jedoch der Verleger die Herausgabe, und Whitman nahm die Platten und Abzüge an sich und veröffentlichte nach denselben Platten die 8. Auflage 1882 in Philadelphia bei Rees, Welsh & Co., später McKay.
1888 erschien das aus Gedichten und Prosa gemischte Bändchen November-Boughs („Novemberzweige“; ebenda) und eine einbändige Gesamtausgabe Complete Poems and Prose, von Whitman selbst verlegt und vertrieben.
1889 folgte eine Taschenausgabe der Grashalme in beschränkter Auflage als Geburtstagsgabe mit dem Anhang Sands at Seventy (etwa „Augenblicke aus dem Leben eines Siebzig jährigen“).
1891, im Dezember, im Winter vor seinem Todesjahr, erschien als Sonderdruck Good-bye my Fancy (,,Ade, Phantasie“), aus Gedichten und Prosa gemischt, das noch im gleichen Jahr als zweites Anhängsel in die 9. Auflage der „Grashalme“ aufgenommen wurde (McKay, Philadelphia).
Nach Whitmans Tod erschien im Jahre 1897 im Verlag Small, Maynard & Co. die vorerwähnte 10. Auflage, die als drittes und letztes Anhängsel die postume kleine Sammlung „Old Age Edioes“ („Nachhall aus dem Alter“) enthielt.
Die vorliegende Ausgabe folgt in der Anordnung der Gesänge der Ausgabe letzter Hand.

Walt Whitman

Die Gestalt des Dichters Walt Whitman und alles, was er geschrieben hat, mutet an, als ob Amerika, die Vereinigten Staaten, auf die Goetheworte: „Amerika, du hast es besser, Als unser alter Kontinent, der alte; Hast keine verfallenen Schlösser, Und keine Basalte!“ ein lautes: Ja, ja, ja, so ist es! hätten über die See herüberrufen wollen. Hat doch Whitman selbst oft genug von sämtlichen Dichtern der Veruneinigten Staaten Europas, übrigens in Worten größten Respektes, gesagt, daß sie der Vergangenheit und dem Zeitalter des Feudalismus angehören, mit Ausnahme des einen Goethe, der seine besondere Stellung dadurch hat, daß er ein König ohne Land, ein Dichter ohne Nation ist. Amerika ist für Walt Whitman das Reich der Zukunft, der noch nicht fertigen, sondern erst zusammenwachsenden, anschießenden Volksgemeinschaft.
Es wäre nüchterne Kleinlichkeit, vielleicht auch so etwas wie politische Eifersucht, wollte man dem Dichter einwenden, solcher Standpunkt zeuge doch von gefährlichem, übertriebenem Hochmut. Denn um Whitmans Selbstgefühl, das er von sich und seinem Volke hat, zu verstehen, muß man die Art Politik beiseite lassen, die wohnt etliche Stockwerke tiefer als solche Kulturbetrachtung aus der Höhe der wollenden Dichterphantasie. Whitman hat – wiewohl er es nicht gerade so ausdrückt – von seinem Volke das Gefühl, daß es ein neuer Beginn ist, frische, aus Völkermischung entstandene Barbaren, die einen Abschnitt in die Geschichte bringen. Man denke daran, wie die Germanen, schon zu den Zeiten des Arminius, der sogar seinen Namen von der römischen gens Arminia genommen hat – wie hieß er in Wahrheit? gewiß nicht Hermann, aber vielleicht Sigfrid? –, wie diese Germanen vielfach vertraut waren mit der großen griechisch-römischen Kultur, und wie sie doch, zumal als der neue Mythos, das Christentum, über sie gekommen war, mit einer ganz neuen, primitiver scheinenden Kultur anheben mußten. So sind für Whitman, der in sich selbst die große, wilde, durch keinerlei Konvention gebrochene Natur fühlt, die Amerikaner ein eben erst werdendes neues Volk, Barbaren und Beginnende: und den neuen, großen Glauben, die neue Kunst, die allem großen Volke vorleuchten muß, will er selbst ihnen schaffen helfen. Sein Selbstgefühl ist vielmehr ein Gefühl seines Volks als seiner selbst, man darf sich durch das mystische „Myself“ (Ich) seiner Verse nicht irre machen lassen; er hat es ganz klar empfunden und gesagt, daß er nur ein erster, kleiner Beginn ist, ein früher Vorläufer eines amerikanisch-perikleischen Zeitalters. Und er hat überdies immer gemeint, daß Amerika nur den besonderen Beruf hat, ein paar Schritte voraus zu sein, daß aber alle Völker der Erde den nämlichen Weg gehen werden.
Welchen Weg? Er sagte ihn uns in seinen „Trommelschlagen“, die er während des Krieges ertönen ließ:

Seid nicht verzagt, Empfindung wird den Weg zur Freiheit bahnen jetzt;
Die sich lieben unter einander, sollen die Unbesieglichen werden.
… Dachtet ihr, Advokaten schüfen euch den Zusammenhalt?
Oder Verträge auf einem Papier? oder die Waffen?
Nein fürwahr, so ist weder die Welt, noch irgendein lebendes Ding zusammengewachsen.

Seine „Demokratie“ ist ein freies Volk tätiger Menschen, die alle Hemmnisse des Kastengeistes hinter sich gelassen, alle Gespinste überjährter Vergangenheit durchbrochen haben, jeder auf seiner Scholle oder in seinem Handwerk, an seiner Maschine, ein Mann für sich selbst. Whitman vereint gleich Proudhon, mit dem er in vielem geistig verbunden ist, konservativen und revolutionären Geist, Individualismus und Sozialismus. Die Liebe aber zwischen den Menschen, die noch notwendig dazu kommen muß, ist nach seiner Lehre, für sein Künstlergefühl, keine vage, im Allgemeinen verschwimmende Menschenliebe, sie soll vielmehr, wie die Liebe, die die Familie gegründet hat, vom Geiste der Ausschließlichkeit beseelt sein, sie soll bestimmte Menschen, Männer mit Männern, Frauen mit Frauen und natürlich auch Männer mit Frauen zu neuen sozialen Gruppen zusammenschließen. Das ist der Zusammenhang, in dem die Kameradschaft, der Whitmans schönste und innigste Gedichte gelten, mit all seinen Träumen von neuen Lebens- und Volksgestalten steht. Es ist vergebliches Bemühen modischer Pseudowissenschaft, in diesen Kameradschaftsgefühlen irgend etwas Perverses oder Pathologisches oder gar Degeneriertes finden zu wollen. Wir müssen wieder lernen, daß starke Männer und starke Zeiten sentimental sind, und daß schwächliche Zeiten und Generationen es sind, die sich scheuen, sich rückhaltlos und inbrünstig ihren Gefühlen, für das geliebte Weib, oder den innig geliebten Freund, oder das Meer und die Landschaft und das Weltall hinzugeben. Whitman war diese kosmische Liebe und dieser Überschwang des Gefühls zu eigen, und nur aus diesem Chaos und Abgrund der Innigkeit kann, so ist sein Glaube, sein neues Volk erstehen. Auch hier, ohne daß er je auf Parallelen aus ist oder nur an sie denkt, deutliche Anklänge an die Geisteswelt des Künstlervolkes, der Griechen, und an ihre gesellschaftlichen Einrichtungen und Gewöhnungen. Eine besondere Richtung des Empfindens hat Whitman gehabt, daraus auf eine besondere Veranlagung seiner Natur zu schließen, sei solchen überlassen, die sich auf einer Zwischenstufe der Wissenschaft befinden.
Der besonderen Natur jeder gestaltenden Phantasie entspricht es, daß in allem Gefühl und in allem Geformten die Erotik lebt. Hätte Whitman so wie Faust das Evangelium Johannis zu übersetzen unternommen, sein erster Satz hätte wohl lauten müssen:

Im Anfang war das Gefühl.

Er betont das Gefühl und damit die Poesie als den Anfang alles Lebens und alles Volkes aber auch ganz bewußt, weil er weiß, von welcher Seite her den Amerikanern die Gefahr droht: „Was der amerikanischen Bevölkerung am gefährlichsten ist“, sagt er, „das ist ein Übermaß von Wohlstand, Geschäft-, Weltlichkeit, Materialismus, was am meisten fehlt… das ist ein warmes und glühendes Volksgefühl, das alle Teile zu einem Ganzen vereinigen würde. Wer anders als eine Schar erhabenster Dichter kann jene Gefahr in Zukunft abwehren, diesen Mangel ausfüllen?“ Nur ein großes Volk, meint er, kann große Dichter haben, aber vorher muß die Poesie es sein, die das große Volk gestaltet, „künstlerischen Charakter, Geistigkeit und Würde“ ihm verleiht.
Der Dichter also, der Walt Whitman in seinem Gefühl von sich selbst und seiner Aufgabe sein will, ist Priester, Prophet, Schöpfer. Daß er außerordentliche Gewalt auf sein Volk und die geistige Macht seines Volkes – und derer, die in fremden Völkern als einzelne zu seinem Volke gehören – ausgeübt hat und weiter übt, ist sicher. Wie die Geschichte weiter geht, ob sein kühnstes Verkünden so Wirklichkeit wird, wie Phantasie und Wollen sich irgend erfüllen können, indem sie eine Wirklichkeit, die nicht genau gerade so aussieht, räumlich schaffen helfen, das kann keiner heute sagen. Aber das ist gewiß, daß er Amerikas größter Dichter und ein innig starker Lyriker für uns alle ist; und daß er der Lyrik eine neue Form und ein ungeheures neues Stoffgebiet – alle Tatsächlichkeiten der körperlichen und geistigen Welt – gegeben hat.

Ich glaube, ein Grashalm ist nichts Geringeres, als das Tagwerk der Sterne.

In diesem Sinne hat er sein erstes Gedichtbuch (1855) Grashalme genannt und hat dann im Lauf von mehr als dreißig Jahren sein ganzes dichterisches Werk in immer neuen Auflagen in dieses Buch, sein Buch, das er selbst ist, eingefügt.
Whitman, geboren am 31. Mai 1819 als Sohn eines Zimmermanns und Hausbauers im Staate New York, hat einen typisch amerikanischen Lebenslauf gehabt, bis recht spät der Dichter aus ihm herausbrach: er besuchte die Volksschule, war eine Art Laufbursche erst bei einem Rechtsanwalt, dann einem Arzt, wurde Setzerlehrling und, im Alter von neunzehn Jahren, Dorfschullehrer. Dann gründet er ein Wochenblatt, reist als Setzer und Journalist vielfach im Lande hin und her und wird schließlich Zimmermann wie sein Vater in Brooklyn. Vorher hatte er vielerlei Aufsätze, auch kleine und größere Novellen veröffentlicht. Während er Zimmermann war – aber nicht gerade durch die körperliche Arbeit, sondern durch die Muße, man beklagte sich wohl in der Familie über sein vieles Spazierengehen und Herumliegen – kam das Neue über ihn: auf einmal und zugleich der neue Geist, die neue Form, und mit dem Unendlichkeitsgefühl auch der Unendlichkeitsstoff. Später, während des Krieges, ist er drei Jahre lang freiwilliger Krankenpfleger, wobei er den Kranken durch sein Geplauder und durch sein teilnahmsvolles schweigendes Bei-ihnen-Sitzen, durch seine Liebe und die suggestive Kraft seiner Person – alle seine Bilder zeigen, daß die Innigkeit, die Versunkenheit und die Mitteilsamkeit seines Wesens sich auch in seiner Leiblichkeit gestaltet hatte – am meisten Gutes tat. Eine Zeitlang bekleidete er dann einen untergeordneten Posten in einem Ministerium, wobei er der Maßregelung um seiner Gedichte willen nicht entging, 1873 erlitt er den ersten Schlaganfall, war aber noch lange in starker geistiger Kraft tätig, lebte von den Erträgnissen seiner Schriften und Unterstützungen des Kreises, der sich mehr und mehr an ihn schloß; in Camden, New Jersey, ist er am 26. März 1892 gestorben.
Im Alter von über dreißig Jahren also ist Whitman zu seiner Dichterkraft gekommen, was er vorher geschrieben, hat kaum eine Beziehung zu dem Wesen, das nun herauskam. Einer, der langsam reift und über den es dann noch mit vehementer Plötzlichkeit kommt, ist er. Das Vorwort, das er 1855 seinem Buche mitgab, vereinigte die Reife des Mannes, der wie eingewachsen auf seinem Platze steht, mit der blutjungen Hingerissenheit des Beginnenden.

Der reichste Mann ist der, der aller Pracht, die er sieht, Gleichartiges aus dem größeren Vorrat seines eigenen Selbst entgegenstellt.

Das ist seine erste Entdeckung, zu der erst später Einflüsse von Fichte und Hegel gekommen sind, während, wie Bertz in einem übrigens ungenießbaren Buch richtig zeigt, Emerson1 schon damals eingewirkt hat: daß der Mensch in seinem Ich, in seiner Geistigkeit die ganze Welt trägt, daß die Welt nur eine unendliche Fülle von Mikrokosmen ist, eine Pluralität und Unzähligkeit von „Identitäten“, von selbstbewußten Kreuzungspunkten der Weltenströme. Was er also den Amerikanern als Religion des Geist- und Universalgefühls bringt, ist eine neue Form der ewigen Lehre der Philosophen und Mystiker von Indien über die christliche Mystik zu den Magiern der Renaissancezeit und weiter über Berkeley und Fichte bis in unsere Tage: der heute sogenannte Monismus dagegen hat nur schwache Ähnlichkeit mit dieser Erkenntnis. Am meisten Verwandtschaft hat Whitmans Lehre noch mit dem nicht entsagungsvollen, sondern freudig dem vollen Leben zugewandten magischen Pantheismus, wie er sich in der Renaissance von Nicolaus Cusanus her bei Paracelsus, Agrippa von Nettesheim und ähnlichen Geistern gebildet hatte. Der viele Aberglaube bei diesen darf unsere Vergleichung nicht stören; das war ihre gerade erst von ihnen geschaffene Natur„wissenschaft“, wie Whitman in unserer Natur„wissenschaft“ und Technik schwelgt. Ja, sogar in der Form findet man bei jenen Magieren der Renaissance – die Whitman kaum gekannt haben wird – Verwandtes; so hat Agrippa von Nettesheim ein gewaltiges Motto zu seinem Buch Von der Eitelkeit der Wissenschaften, das nach Geist und Form völlig whitmanisch ist. Ich führe es hier an:

Unter Göttern bleibt keiner ungezaust von Momus.
Unter Heroen jagt nach jedweden Ungeheuern Herkules.
Unter Dämonen wütet der König der Unterwelt Pluton gegen alle Schatten.
Unter Philosophen lacht über alles Demokritus.
Dagegen weint über das Ganze Heraklitus.
Nichts weiß von gar nichts Pyrrhon.
Und alles zu wissen dünkt sich Aristoteles.
Verächter des Ganzen ist Diogenes.
Von all dem nichts fehlt hier Agrippa.
(Whitmans Myself, Ich)
Verachtet, weiß, weiß nicht, weint, lacht, wütet, jagt, zaust alles.
Selbst Philosoph, Dämon, Heros, Gott und die ganze Welt.

Aber auch mit uralten indischen Gedichten berührt sich Whitman aufs engste, die ja durchaus nicht alle mit dem Gefühl, daß das Ich eine Weltidentität sei, den Pessimismus oder die Wehflucht verbanden, wie man denn in Amerika gleich sagte, diese Gedichte Whitmans seien wie ein Konglomerat aus der „Bhagavad-Gita“ und dem „New York Herald“. Das war sehr witzig, aber sehr falsch, denn die „Bhagavad-Gira“ enthält das, was man da den „New York Herald“ nennt, nämlich die kataloghafte Aufzählung der konkreten Tatsächlichkeiten der ganzen Welt, schon völlig selbst in sich, und die Dinge, die das indische Gedicht aufzählt, um ein Bild von der unendlichen Mannigfaltigkeit zu geben, waren einmal ebenso modern, wie die Welt der Technik, der Natur und Kultur, die Whitman in seine Gedichte aufnimmt.
Nichts drängt sich beim Lesen dieser Gedichte so auf, wie das Gefühl der Unmittelbarkeit, der gänzlichen Abwesenheit der literarischen Reminiszenz oder irgendwelchen Alexandrinismus. Obwohl Whitman viel gelesen hat, war er doch gar kein Leser und Zusammenleser, nahm nur das in sich auf, was schon vorher in ihm war. Darum ist es so überaus wahr, was er in seinen Grashalmen dem Leser als Abschiedswort sagt:

Camerado, dies ist kein Buch,
Wer dies berührt, berührt einen Menschen…

Wie jeder echte Künstler hat auch Whitman die volle Bewußtheit seines Schaffens, und das Beste, was ästhetisch-kritisch über ihn zu sagen ist, sagt er uns selbst. Das Bezeichnende an seiner Poesie ist ihre „suggestiveness“; ihre Suggestivkraft, in der er, wie ein Dirigent eines Orchesters nicht fürs Ohr, sondern fürs Auge, immer neues Gestaltengewoge vor uns hinschweben läßt, uns die „Atmosphäre des Themas oder Gedankens“ gibt, in der dann unser eigenes Erleben weiter dahinfliegt. Er ist ein Dichter von ganz ungemeiner Sinnlichkeit und Gegenständlichkeit, er scheint nur mit den Sinnen gedacht zu haben, auch seine ganz im inneren Erlebnis versunkenen Abstraktionen bewahren diesen konkreten Charakter. Auch wenn er das Unsagbare sagen will, und wenn er sagen, fast stammeln will, daß es unsäglich ist, schreit er wie aus tiefster Besinnung zum Beginn des Gedichts etwa auf:

Das da ist in mir – ich weiß nicht, was es ist – doch ich weiß, es ist in mir

und schafft uns dadurch sofort die Stimmung des leibhaftigen Erlebens.
Daß übrigens die konkrete Aufzählung einzelner Wirklichkeiten, die zu einem Ganzen gehören, selbst ohne Ausdruck der Empfindung des Miterlebenden, wenn die angeführten Tatsächlichkeiten nur von starker Sinnfälligkeit erfüllt sind, wie ein Gedicht wirken kann, möchte ich an einem Beispiel zeigen, mit dem ich schon ab und zu Freunde hineingelegt habe. Wie mancher möchte das folgende für ein Gedicht Whitmans halten, das etwa den Titel „Nacht im Feldlager“ führen könnte:

Werda! der Schildwache vorm Zelt.
Werda! der lnfanterieposten.
Werda! wenn die Runde kam.
Hin- und Wiedergehen der Schildwache.
Geklapper des Säbels auf dem Sporn.
Bellen der Hunde fern.
Knurren der Hunde nahe.
Krähen der Hähne.
Scharren der Pferde.
Schnauben der Pferde.
Häckerlingschneiden.
Singen, Diskurrieren und Zanken der Leute.
Kanonendonner.
Brüllen des Rindviehs.
Schreien der Maulesel.

So, in scheinbare Verse abgeteilt findet sich das bei Goethe. Sind aber keine Verse, sondern ein Versuch, bei Gelegenheit der Belagerung von Mainz „die mannigfaltigen fern und nah erregten Töne“ „genau zu unterscheiden“ und aufzuzeichnen. Ich kenne manches „impressionistische“ „Gedicht“ manches Modernen, das schlechter ist als dieser Tönekatalog Goethes.
Daher, daß sein poetisches Empfinden, sein rhythmisches Verklären und sein Wahrnehmen immer bei einander sind, daher kommt es, daß es nichts in der Welt gibt, was sich unter Whitmans Hand nicht zu Dichterischem wandelt, daß er auch ganz und gar nicht auf die literarisch überlieferte Mustertafel der Gleichnisse angewiesen ist, sondern ihm in einer wahrhaft homerischen Fülle Neues und Ungewohntes zum Bilde wird. Ist aber dieses Beisammenwohnen des Sehens und des Empfindens, des Denkens mit allen Gegenständen der Welt nicht dasselbe, was er aus den Menschen herausholen will: Liebe? Denn wer hundert Meter ohne Liebe wandelt, der wandelt in seinem Totenhemd mit seinem eigenen Begräbnis.
Die Form Whitmans, die so wenig improvisierte Begeisterungsrede ist, wie ein impressionistisches Bild, das den Eindruck der Augenblicklichkeit schafft, mit ein paar Pinselhieben hingeworfen wird, ist ein streng rhythmisches Gefüge, das aber nur das Gesetz des Tempos anerkennt, im übrigen sich durch keine Traditionen der Poetik binden läßt. Das Chaotische und Massenhafte, das nicht objektiv gebändigt dargestellt werden sollte, sondern in aller Gegenständlichkeit immer ein Erleben der Empfindung, ein Ausfluß der Subjektivität ist, hat zu dieser Form geführt, die wie ein gewaltig fortreißendes Heraussprechen und Herausbrechen aus einem Erleben wirkt, das mehr als ein schmales, isoliertes Menschen-Ich ist, das vielmehr alles, was draußen vorgefunden wird, aus der eigenen Universalität herausgeholt zu haben scheint.
Eines Tages, in der Zeit, als er die Kriegsverwundeten pflegte, schrieb Whitman in sein Tagebuch:

Es ist seltsam: solange ich bei den entsetzlichsten Szenen zugegen bin, Sterben, Operationen, ekelhafte Wunden (vielleicht voller Maden), bleibe ich ruhig und fest und energisch, wenn auch mein Mitgefühl sehr erregt ist; aber oft, stundenlang nachher, vielleicht wenn ich zu Hause bin oder allein spazieren gehe, wird es mir schlecht und ich zittere tatsächlich, wenn ich mich an den bestimmten Fall wieder erinnere.

Das hat er nur so aufgeschrieben, um die Tatsache zu verzeichnen, es ist ihm nichts dabei eingefallen, was die Tatsache zum Sinnbild gemacht hätte. Aber es kann einem dabei seine ganze Natur und die ganze und besondere Größe seines Dichtertums aufgehen: Denn daß die Erlebnisse, wenn sie schon vorbei sind, auf einmal mit verstärkter Wucht wiederkehren, daß die Erinnerungen mit der vollen Kraft des Erlebens auf ihn einstürmen, das ist ein Zeichen seiner manchmal bis ins Visionäre gesteigerten Phantasie, ebenso wie sein Verhalten in der Mitte des Geschehnisses von seiner unverbrüchlichen Sachlichkeit, seiner geborenen Tapferkeit, seiner beherrschten Menschenliebe Kunde gibt.

Gustav Landauer, 1907, Nachwort

 

Iggy Pop / Tarwater / Alva Noto – Leaves of Grass

 

Kraft und Leben der Nachromantik –

und ein Stück des amerikanischen Wesens

Whitmans Grashalme sind eine immer wieder erweiterte Sammlung seines poetischen Werkes. Schon zu Lebzeiten ergänzte und editierte er über Jahrzehnte seine Gedichte. Der Diogenes-Band repräsentiert einen der letzten „Stände“ und offenbart ein „Monument“ der nachromantischen Dichtung nicht nur für Amerika/Vereinigten Staaten.
Whitmans Poesie strömt eine seltene Kraft aus, die die Schönheit der Natur UND des Menschen in einen Lebensoptimismus eingebettet, wie man es so nur selten findet und das trotz oder gerade wegen seiner Kriegserfahrungen.
An weiteren, sehr guten Ausführungen und auch Lyrikbeispielen fehlt es in den Rezensionen zu diesem Buch nicht – ich möchte mich nicht wiederholen und auch nicht auf die negativen Rezensionen eingehen (die allem Anschein nach zu Reclam-Ausgaben gehören, die hier nicht passen).
Ich möchte jedoch hier noch einen Aspekte ansprechen: Sollte man statt dieser hervorragenden deutschen Ausgabe nicht doch lieber das US-amerikanische Original lesen? Diese Fragestellung hat mich im Studium begleitet und bezog sich vor allem auf das schriftstellerische und besonders das lyrische Werk fremdsprachiger Autoren.
Es gab da die „hardcore“-Partei, die mit dem Argument zu überzeugen versuchte, dass das Wesen von Literatur in der Sprache des Verfassers bzw. des Landes läge und jede Übersetzung zu einem klaren Verlust des poetischen Kerns führe. Eine Beurteilung des dichterischen Werkes durch die Rezeption einer „Übersetzung“ oder „Übertragung“ in eine andere Sprache sei daher nicht wirklich möglich, ja geradezu unmöglich, weil so Verfälschungen, Fehl- oder Überinterpretationen Tür und Tor geöffnet seien. Und je ferner, also weniger verwandt die Sprache und damit die ihr inkorporierte Kultur sei, desto weniger könne man das Original daraus erkennen, genießen oder gar bewerten.
Die zweite pragmatische Position ließ diese Meinung zwar ein Stück weit oder im Kern bestehen, gab aber zu bedenken, dass man sich so des Genusses und der Bewertung eines Großteils aller Literatur enthalten müsse, was ja nicht im Sinne der Schriftsteller sei und zudem eine Überbetonung der Bedeutung von Sprache darstellte. Eine dritte Fraktion lehnte diese Auffassungen rundweg ab und war der Ansicht, dass eben nicht nur die Sprache, in der sich freilich auch das Wesen einer Kultur widerspiegeln KANN, sondern auch ein historischer Aspekt eine Rolle spielte, der letztlich alles auf den Kopf stellen würde. Beispiel: Wie könne man eine griechische Tragöde oder meinetwegen Caesars bellum gallicum heute noch lesen, gar verstehen und bewerten (selbst bei Beherrschung von Altgriechisch oder Latein)? Es gibt keine aktiven Sprecher mehr, keine „Kulturanbindung“ an Staaten und Gesellschaften, die nicht mehr existierten – so könne man die „Seele“ der Literatur also gar nicht mehr verstehen?! Oder das Beispiel Shakespeare: Auch ein gebürtiger Londoner, der heute sein ganzes Leben auf den Britischen Inseln verbracht habe, spräche nicht mehr 1. das Englisch im Übergang von Renaissance zu Barock und kann mit vielen sprachlichen Anspielungen und Nuancen nichts mehr anfangen. Zudem sei er 2. natürlich nicht Teil des historischen Kontextes der Shakespeare-Ära. Und zudem: Müsse man nicht auch generell noch ein Teil der jeweiligen gesellschaftlichen Schicht sein, der der Autor selbst entweder angehörte oder für die er schrieb, um letztlich alles „richtig“ zu verstehen?
Alles in allem haben alle Fraktionen damals ein Stück weit recht behalten. Dennoch: Menschen, Zeiten, Sprachen und Kulturen sind dauerhaften Änderungsprozessen unterworfen. Zum Glück. Und wenn es nicht um Wissenschaft geht, mag jeder für sich entscheiden, was er versteht und ob er Übersetzungen oder Originale lesen und besprechen möchte, ob er sie klasse, ganz gut oder für dumm hält.
Für mich kann ich sagen: Mein erster Kontakt mit Whitman im Original war nicht sehr fruchtbar. Direkt nach der Schulzeit war ich an Shakespeare und American Novel „geschult“. Im Original war mir daher Whitman fremd. Einige Jahre später haben mir die Grashalme in der Übersetzung (auch hier inspiriert vom Club der toten Dichter) großen Spaß gemacht und ich war beeindruckt – habe jedoch wegen meines jungen Alters vieles nicht verstanden! Aktuell muss ich sagen: ich verstehe mehr! Und mein Englisch lässt es nun zu, auch einiges, bei weitem nicht alles, von der Wortgewalt und poetischen Finesse des Autors zu spüren.
Ich kann das Buch sehr empfehlen. besonders für Poetik-Freundinnen und -Freunde, die unter Natur- und „Lebens“-Lyrik die „Nase voll haben“ von deutscher Romantik und ihrer zum Teil wirklich nicht immer ertragbaren und inhaltlich erträglichen „Wald- & Wiesen“-Lyrik. Womit ich, bitte sehr!, nichts gegen die Romantik gesagt haben will.

Michael Koch, amazon.de, 18.6.2014

Es spricht der Dichter als Mensch

Einen Reigen voller Gedichte. Schön, ernst, getragen von Liebe zu den Menschen, zu den Dingen des Lebens in unserer Welt.
Walt Whitman, ein amerikanischer Dichter, der es nicht lassen konnte, seine Gedichte immer wieder zu bearbeiten, zu verlängern, das heißt immer wieder neue hinzuzufügen und sie an die Leser zu bringen.
Gemacht, selbst verlegt, den Leuten zugebracht und sie vorgelesen. Dabei in verschiedenen Berufen gearbeitet. Gut, wir sagen heute, in Amerika ist das alles möglich, damals in New York sowieso. Aber halt, es war damals genauso schwierig wie heute und die Leute waren zumindest in seiner engen Umgebung garnicht immer einverstanden mit dem, was sie da lasen.
Poeten, die ihren Beruf sehr ernst nahmen und schon etabliert waren (Poeten nehmen sich meist ernst!), fühlten sich von dieser neuen Art, einer Art Naturdichtung, die später zum Expressionismus führen sollte, abgestoßen. Teils aus Nichtverstehen, teils aus Neid, man kennt das, wurde Walt Whitman immer mal wieder garnicht erst erwähnt.
So ist es nicht verwunderlich, dass er sich immer wieder selbst auf den Weg machte und man ist heute dankbar, dass es ihn gab und gibt. Über Ezra Pound und T.S. Eliot, um nur einige zu nennen bis hin zu Werfel und Loerke reicht sein Wirken bis heute. Heute noch spricht er Jung und Alt an, denn er verbreitet Glaube und Skepsis, fordert den Weltgeist heraus, die Versöhnung zwischen allem.
Das Maß strebt er an in seinen Cantos, nicht das Unmäßige, das zuweilen anbetet wurde und immer noch wird zum Verderben der Natur, der Kultur und der Menschheit schlechthin. Walt Whitman ist ein Mahner wie Tolstoi, wie Turgenjew, der das schöne Leben durchwanderte und die herrliche Natur liebte.

Klaus Grunenberg, amazon.de, 12.1.2010

„Himmel und Erde werden vergehen;

aber meine Worte vergehen nicht.“ (Lukas 21,33)

Ein schönes Werk von innen heraus zu bilden, es zu sättigen mit unseren eigensten Kräften,
dazu bedarf’s vor allem Ruhe und einer Existenz, die uns erlaubt, die Stimmung abzuwarten.
(Eduard Mörike; 1804–1875)

Für Walt Whitman (1819–1892) ist sein Amerika das Reich der Zukunft, der nicht fertigen, aber zusammenwachsenden Volksgemeinschaft. Als wenn er vom Goethe-Wort bestärkt werde, „Amerika, Du hast es besser“ ist es dennoch der Blick auf Zukunft nicht allein, denn auch Whitman setzt auf Traditionen. Und zwar auf die ureigenen des Menschen: die Natur und das Selbst. So wie Blaise Pascal die Ungereimtheit des Menschen als ernsten Anlass zur Demütigung sah, so bekannte er doch, dass eben das Verhältnis des Menschen zur Natur wichtig sei und noch wichtiger sei zu erkennen, in welchem Verhältnis der Mensch zur Natur stehe (vgl. Pensées, 313). Whitman, inspiriert von den Schriften Ralph W. Emerson (1803–1882), bekennt sich zu diesen zwei großen Festen: das Ich und das Selbst in der Natur. „Ich singe das Selbst, den Einzelmenschen“, so der erste Vers dieser zerbrechlichen Grashalme, dem folgend „Das Leben, unermesslich in Leidenschaft, Puls und Kraft, […] Ich singe den modernen Menschen.“ Whitman steht für Aufbruch, steht für Gemeinsamkeit („Ich höre Amerika singen, die vielerlei Lieder höre ich“) aller Völker in einem Schmelztiegel, aller Berufe in einem Land, aller gebunden zu einem „kraftvollen Rundgesang“. Auf die Zukunft hin gerichtet, „Nicht das Heute kann zeugen für mich, noch Antwort geben, wozu ich da bin, […] Ihr aber, […] Erhebt euch! Denn ihr müsst zeugen für mich.“ Und diesen Lesern, Hörern widmet er all seine Gesänge. Und doch ist es ein Gesang von ihm selbst (Gesang von mir selbst). „Ich feiere mich selbst und singe mich selbst“ aber er ist nur Vorbild für einen kraftvollen Individualismus, wie ihn Amerika seitdem predigt. „Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen, […] Natur ohne Zwang mit ursprünglicher Kraft“. „Niemals war mehr Anfang als jetzt, Nie mehr Jugend und Alter als jetzt, […] Immer der zeugende Drang der Welt. […] Immer ein weben von Identität, ein Sich-Sondern.“
Wenn, wie Harold Bloom den Grund fürs Lesen ausmachte, das Lesen der Stärkung des Selbst dient, dann ist Whitman ein unverzichtbarer Dichter. Er verkörpert neben Emerson und Emily Dickinson die amerikanische Religion des uneingeschränkten Selbstvertrauen. Emersons Leitsatz: „Suche Dich nicht außerhalb Deiner selbst“, heißt nicht mehr, als sich selbst zu trauen. Whitmans „Gesang von mir selbst“ ist die perfekte Traute, das eigene Ich in die Welt zu setzen. Whitmans Gesänge sind somit zum Mit-Hören und Mit-Wissen, sie sind um zu erkennen, wie das Ich wirkt in dieser Welt. Die englische Sprache gebiert es dreifach: Me, myself and I und bei Whitman spürt man das „wirkliche Ich“, „Ich selbst“ und die Seele.

Ich glaube an dich, meine Seele; mein anderes Teil soll sich nicht erniedern vor dir, Noch du dich vor ihm.

Ein italienischer Philosoph des späten 17. Jh., Giambattista Vico, konstatierte, wir können nur erkennen, was wir selbst gemacht haben. Whitman redet gern vom Selbst und vom Ich, da scheint er sich auszukennen; seine Seele scheint noch ein Rätsel, wie es auch die amerikanische Seele an sich ist, die vielleicht sich nur dort entfaltet, wo der Mensch allein ist. Und dort wird auch Whitman stark, der seine Seele als Element der Natur besingt:

Könnt ich nicht jetzt und immerdar aus mir selber den Sonnenaufgang entsenden, […] Wir fanden uns selber, o meine Seele, in der Stille und Kühle der Morgendämmerung.

Hier bewegt Whitman sein Innerstes, sein Ich und Selbst vereint mit der Seele im Wir.
„Was ist Gras?“ fragt ein Kind und Whitman findet keine Antwort, er weiß nicht mehr als ein Kind. Aus dieser Frage entstehen wunderbare Assoziationsreihen, die das Gras als frisches Grün zum „hoffnungsgrünen Stoff“ machen und Whitman sich anlehnt an die Emersonsche Neuheit, den transzendentalen Zustrom von frischer spiritueller Energie, für Whitman all dieses im Wir, in der symbolischen Umarmung des vermuteten Selbst in mir mit der unbekannten Seele. Grashalme, ein Tagwerk der Sterne, zu deuten als die Kürze eines individuellen Lebens, mit dem Bild aus Jesaja (Js 40,1–10) und Petrus (1Petr 1,24–25), dass alles Fleisch wie Gras ist, verletzend kurz in seinem Bestand. Diese Worte jedoch sind ewig, ist die a priori Unterstellung von Whitman gegenüber seinem Werk in biblischer Analogie (LK 21,33).
Eine Welt, die immer amerikanischer wird, muss auch Whitman lesen, nicht um Amerika, sondern um Veränderung zu verstehen. Wenn Whitman noch auf die ungelösten Rätsel des amerikanischen Bewusstseins hinweist, dann muss man seinen Ausgangspunkt nochmals finden, so wie Obama sich an den Ausgangspunkt begab in seiner Antrittsrede, den Anfangspunkt der Gründungsväter Amerikas und insbesondere sich an  Thomas Paines Common Sence  erinnerte. Schopenhauer begründet so:

Der philosophische Schriftsteller ist der Führer und sein Leser der Wanderer. Sollen sie zusammen ankommen, so müssen sie […] zusammen ausgehen: von einem Standpunkt, […] der des uns Allen gemeinsamen, empirischen Bewußtseyns; in:  P&P II, Kap I, §5.

Hesse schrieb im Jahre 1904: Der Verfasser der Grashalme ist nicht der literarisch begabteste, aber der menschlich größte von allen amerikanischen Dichtern. Und er hing nicht am europäischen Trödel (vgl Goethe) sondern mit allen Wurzeln auf amerikanischem Boden. Auf diesem erkennt er die ungeheuren Kräfte der Gegenwart und eine unermessliche, lachende Zukunft.

kpoac, amazon.de, 4.10.2009

Gehört in einen modernen Bildungskanon!

DAS NOBEL-INSTITUT UND NORWEGISCHE BUCHCLUBS RIEFEN NAMHAFTE SCHRIFTSTELLER DER WELT AUF, DIE NACH IHRER MEINUNG 10 WICHTIGSTEN WERKE DER WELTLITERATUR ZU BENENNEN. DIESES WERK WAR EINES DER (AUS DIESEN LISTEN ERSTELLTEN) 100 WICHTIGSTEN BÜCHER DER LITERATURGESCHICHTE.

Über 200 Seiten umfasst dieser Hymnus an das Leben und das Menschsein, das Kleine mit dem Großen, das Alltägliche mit dem Besonderen verbindend. Mitte des 19. Jahrhunderts muss es geradezu revolutionär geklungen haben, aber auch heute noch strahlt es eine unbekümmerte Frische aus. Wer es liest, dem öffnen sich Horizonte, und zugleich wird ihm der Blick gespitzt für die tausend kleinen Details des Lebens. Ich frage mich, war Whitman ein Mystiker, ein Seinstrunkener, oder war er nur von einer so großen Offenheit für das Dasein, sensibel und bejahend, dass er den Ton der Wahrheit auch blind treffen konnte? Er schreibt:

Ein Morgenschimmer an meinem Fenster befriedigt mich mehr als die Metaphysik der Bücher.

Whitman verzichtet weitgehend auf Metaphern und Bilder, vermutlich um seinem Hauptwerk Grashalme nichts von ihrer Unmittelbarkeit und Eindringlichkeit zu nehmen. Es ist für unsereins allerdings auch etwas anstrengend, stundenlang dem Klang der Umarmung, Bejahung, Verehrung der Existenz zu lauschen… Trotzdem vermag Whitman auch hinreißend Mitreißend zu sein – jedenfalls nahm ich die Grashalme immer wieder zur Hand, auch wenn ich sie für mehrere Tage weggelegt hatte. Ich bin froh, dieses Werk zu kennen.

Kankin Gawain, amazon.de, 11.7.2006

Ein Klassiker der Weltliteratur…

… das sind Walt Whitmans Grashalme in jedem Fall. Zudem bin ich so ziemlich der Letzte, der sich anmaßen darf über die Qualität dieses Werkes zu urteilen. Whitmans schriftstellerische Fähigkeiten, die er von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu dessen Ende entwickelte, sind über jeden Zweifel erhaben. Whitman, der hier zu Lande meist nur durch Schlagworte aus Filmen, wie z.B. das wunderbare „O Captain, mein Captain“ aus dem Club der toten Dichter bekannt ist, hat Amerikas ursprüngliche Schönheit in seinen Texten besungen. Die Menschen, das Land, den Mut, die Abenteuerlust, aber auch die Religion und die Moral waren seine Themen. In der hier vorliegenden Ausgabe von Grashalme ist das Lebenswerk Whitmans zusammengefasst worden. Für Freunde dieser Lyriktexte ist der Band ganz sicher ein Gewinn.
Außerhalb der schriftstellerischen Qualität musste ich für mich allerdings festsellen, dass mir Whitmans Sprache heute fremd erscheint. Im Gegensatz zu einem Shakespeare Text kann ich mich in Whitmans übersetzte Texte nicht hinein finden. Sie sind für mich aus der Zeit. Vielleicht ist das im Original viel überzeugender, vermutlich sogar. So waren Grashalme für mich als Zeitdokument interessant, als Lesestoff jedoch schwierig und wenig begeisternd. Aber sie wissen ja: Das ist eine Einzelmeinung. Die Geschmäcker sind verschieden. Und sie entscheiden selbst, wie ihnen das gefällt. Viel Spaß dabei…

Thomas Knackstedt, amazon.de, 7.10.2014

Whitmans Gesang auf die „Neue Welt“

Damals fordert das junge Europa Heute heraus

Kleine und große Ausgabe lohnen unterschiedlich – fürs intellektuelle Hineinfinden, Aufstöbern und Strukturgewinnung die kleine (Reclam), für Muße, entspanntes Verweilenkönnen und weitergehende Vertiefung die große (Hanser)!
Ehrlich. Die Masse des Gleichförmigen erschlägt einen. Wir Heutigen finden Walt Whitmans Grashalme nach den ersten Seiten eher ermüdend und selbst hinsichtlich der vom Eros angehauchten Seiten kaum noch interessant. Und mit Blick auf die Umfänglichkeit der Gesamtausgabe wie eine Zumutung, so viele Hunderte von Seiten als Lesepensum noch vor sich haben zu sollen.
Wir gehören nicht mehr der Zeit an, in der jedes Wort Whitmans den Zeitgenossen wie eine Offenbarung war. Wir können nicht in diese Zeit zurück, um rein intuitiv zu erfassen, was damals die Menschen elektrisiert und angesprochen hat. Findet sich auch heute irgendein Schlüsselreiz, der lesehungrig auf Whitmans Werk macht, sei es die begründete Vermutung auf einen begehrten Schatz und ein nachsuchendes Leseinteresse dafür?
Whitman spiegelt den Lebensgeist der Neuen Welt par excellence. Doch das reißt uns noch nicht vom Hocker. Ein Vergleich mit der Alten Welt läge nahe, aber was brächte das? Was machte denn einen Vergleich heute noch spannend und lohnenswert? Es kommt darauf an. Wen der aufweckende Schlüsselreiz trifft, der ist sicherlich neugierig und voller Leseinteresse. So könnte es scheinen. Doch auch Fronarbeit schreckt ab, die der Zumutung einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit gleichkäme, kein bloßes Lesevergnügen mehr wäre, eine Forschungsleistung zu erbringen, die eigentlich den entsprechenden Geisteswissenschaften abzufordern wäre.
Zur Sache: Walt Whitmans Werk spiegelt die Neue Welt in ihrem positiven Geist. Er ist Protagonist. Es gibt zu ihm auch den Antagonisten, der den negativen Geist der Alten Welt spiegelt, verhängnisvoll gespiegelt hat: Friedrich Nietzsche. Beide immer noch die unerkannten Antipoden. Den Unbelehrbaren ist Nietzsche auch nach zwei Weltkriegen nicht auszutreiben. Kritik ist abgeblockt oder einfach ignoriert worden. Es will nicht in viele Köpfe hinein, es mit einer unentschärften Bombe zu tun zu haben. Doch es gibt das zünderentschärfende Kriterium, um die Ausgeburt Nietzsches nicht nur zu relativieren, sondern endgültig durch Vergleich der Werthaltigkeit auszusagen: Whitmans Werk Grashalme gegen den europäischen Sprössling, gegen den Ableger der Umwertung, gegen den dämonischen Wegbereiter Zarathustra.
Festzustellen ist, dass sich einander der europäische Geist (insbesondere hier Deutschland) und der amerikanische Geist gegenüberstehen. Dieser, der als Brandstifter auftritt, jener, der als Feuerwehr eingreift. Die Gegensätzlichkeit dieser Lebensgeister ist beiden nicht prinzipiell bewusst, sondern noch auf der Ebene eines bloßen Andersseins. Somit geht es letztlich darum das Gegensätzliche im ersten Hin und Her freizulegen:

Sieh, wie durch die Tiefen der Atlantis Amerikas Pulsschläge Europa erreichen und Europas Pulsschläge prompte Antwort geben.

Wie die kleine Ausgabe sinnvoll zu lesen ist. Mit dem Textmarker natürlich: gelb, orange, rot, grün, nämlich dergestalt zu markieren, was äußerst wichtig, schön, bedeutsam oder interessant empfunden worden ist. Diese Manier durchbricht die Monotonie der Textur und lässt die bunten Kristalle hervortreten und auch im Schnelldurchgang leichter Nachgesuchtes wieder auffinden.
Worauf weiterhin die Aufmerksamkeit über das Vielerlei pointierter Reihungen und Aufzählungen hinaus richten und für vertiefte Aneignung richten? In dieser poetischen Graslandschaft sind eingelassen: Erzählkerne (Liebe, Baum, Tod), spezifische Zusammengriffe (beruflich, kulturell, religiös), überdenkenswerte Definitionen (Gottesvorstellung), kryptische Definitionen (Descartes: Ich-Geburt, sinnlich-metaphorisch).
Aktive Aneignung und Selbstanreicherung für die Pinnwand, was Whitman sieht, hört, tut, erlebt, einfühlsam beschreibt, gelungen und treffend formuliert, zu weitschweifig ausführt und nun für Selbstaneignung gestrafft, im Zusammenschnitt zu neuen Aussageeinheiten komponiert und für Selbstinterpretation und Selbstverwertung auf eigene Bedürfnisse hin umgestaltet werden kann. So wird Whitman zur Fundgrube für die eigene Schatztruhe. Anregungsbeispiele im Schlussteil.
Zurück zu den Vergleichspunkten, die nicht nur werkbezogen, auch lebensgeschichtlich Nietzsche und Whitman betreffen: Frau, Arbeit, Liebe, Menschenwürde, Masse, Staat, Humanität, Freiheit, Gleichheit, Wertschätzung, Respekt, Achtung. Hier ist nicht mehr der Ort für Konfrontation, Explikation und Tabellierung. Bleiben wir bei Walt Whitman und stellen einige Leuchtraketen der Neuen Welt vor, die die gruselig verschattete Alte Welt hinter sich gelassen haben. Whitman würde Nietzsche entgegenschleudern: Weg mit der unbarmherzigen Sklavenmoralbehauptung, mit der Mitleidslosigkeit, mit dem Recht des Stärkeren als Vorrecht, der Peitsche für das Weib, Verächtlichkeit für die Masse, Herrenmoral statt Demokratie, weg mit der rabulistischen Instrumentalisierung des Staats, Züchtung eines neuen Menschentyps der Herrenrasse, Vernichtung Millionen Missratener, weg mit dem Willen zur Macht um der Macht willen und einer Umwertung aller Werte, die archaisch in die Entwertung der Vernunft führt.

ZUSAMMENSCHNITTE

Den neuen Menschen sing ich
Und von den Rechten derer…
Der Missgestalteten, der Albernen, Flachen, Närrischen, Verachteten
Wer einen anderen erniedrigt, erniedrigt mich
Ich will der Sänger der Persönlichkeit sein
Und von Mann und Weib werde ich zeigen, dass ein jedes nur des andern gleichen ist
Verkörpere in mir alle Wesen, geächtete und leidende
Sehe mich selbst im Gefängnis in der Gestalt eines andern
Fühle den dumpfen ununterbrochenen Schmerz
Von jeder Farbe bin ich und jedem Stand, von jedem Rang und jeder Religion

Wenn irgendetwas heilig ist, so ist der menschliche Leib heilig
Ich bin der Dichter des Leibes und ich bin der Dichter der Seele

Ich gehe mit meinem Traum
Ich klettere auf den Topp
Ich bin ein Gipfel vergangener Dinge
Kreisläufte trugen meine Wiege

Anteilhabe: Die Hoheiten der Liebe und der Demokratie und die Hoheit der Religion

Und mir zur Seite oder hinter mir folgt Eva
Oder auch sie voran und ich, der ihr folgt: es ist das gleiche.
Oh, zum Paradies zurückzukehren
Was das Beste der Natur ist
In die Himmel der Liebe zu springen
Und flüsterte; Ich liebe dich

Viele schwitzen, pflügen, dreschen, um dann die Spreu zum Lohne zu erhalten
Was immer die andern angeht, geht auch mich an
Politik, Krieg, Märkte, Zeitungen, Schulen
Der Bürgermeister und die Räte, Banken, Tarife, Dampfschiffe, Fabriken, Aktien, Kaufläden, Grund- und persönliches Eigentum
Die unzähligen Männchen, die da herumhüpfen in Kragen und Fräcken

Mein aber ein Wort der Moderne: das Wort En Masse
Ein jeder singt das, womit er zu tun hat oder sie, und von nichts sonst

Dies von mir für dich, o Demokratie! Ma femme, dir zu dienen!
Den Staaten: Einmal unbesehen gehorcht, heißt einmal völlig versklavt
Widersetzt euch viel, gehorcht wenig!

Niedermetzlung der 412 Jünglinge
Es war ein lieblicher Frühsommer
Das Werk begann um fünf Uhr und war zu Ende um acht Uhr
Lebendige und Tote lagen durcheinander
Sie wurden mit Bajonetten abgetan und mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen
Um elf Uhr fing man an, die Leichen zu verbrennen

Gottheiten der Neuzeit
Visionen herannahender Humanität
Das Orchester wirbelt mich weiter als Uranus fliegt
Amerikaner! Eroberer! Märsche der Menschheit!
Vorderste! Jahrhundertmärsche! Libertad! Massen!

Fühle der Menschheit endlose Schmach und Erniedrigung, alles betrifft mich
Bis Männer und Weiber aller Rassen, in kommenden Jahrhunderten, Brüder sind und Liebende gleich uns
Sehe die heitere Brüderschaft der Philosophen
Verweile, forsche, empfange, betrachte
Ich sehe, dass sich Urgesetze niemals entschuldigen

Ich höre mich dort flüstern, o Sterne des Himmels!
O Sonne! – O Gras auf den Gräbern! – O unablässiger Übergang und Fortgang.

Ich, mein Leib und meine Seele
Wir, ein seltsam Trio, tasten, wandern unsern Weg
Das Gestirn, das rollend kreisende
Sieh! Und seine Brudersphären, Sonnen- und Planetenschwärme
Alle für die nächste Arbeit, während Ungeborene warten
Heute sind wir an der Spitze, klären für ihr Werk den Weg
Pioniere! Pioniere!

(Reclam-Ausgabe: Übersetzer Johannes Schlaf)

POSTSKRIPTUM

An „Puls of Europe“: Wo ist unser Gesang, wo sind unsere Lieder, wer ist unser Walt Whitman? Geist des Aufbruchs, der Integration: Was sehen die Augen des Poeten?

Josef Mußmann, amazon.de, 19.6.2018

Ein wirkliches Klassebuch, auch für nicht Lyrikfreunde

Grashalme – ein Buch das den Titel als Programm hat, denn Walt Whitmann versteht es die Verse, seine Grashalme zu einer Wiese der Poesie zusammenwachsen zu lassen. Das Buch ist zwar nicht einfach zu lesen, doch ist es, ich weiß nicht so recht wieso, einfach faszinierend. Vielleicht der Reiz des Unbekannten, doch denke ich, daß mehr dahintersteckt. Wer humanistisch – menschlichem Gedankengut ablehnend gegenübersteht der sollte das Buch stehen lassen. Oder sollte er es doch lesen, um sich von dem, der alle und alles gleichbehandeln möchte diese Gedanken austreiben zu lassen, denn von beiden handeln die Grashalme unter anderen. Der Leser wird in die unberührten Landschaften des Amerikas des 19. Jh. geführt. Diese ist der bessere Ort, so daß wir Städter am liebsten in der Wiese versinken mögen um Streß und Hektik, wenigstens während der Zeit des Lesens der Grashalme zu vergessen. Denn wer durch dieses Buch rasen möchte, für den ist es nicht. Es ist kein Roman, der sich von alleine liest. Aber wer Muße und Freude am Lesen mitbringt für den ist das Buch ein echter Gewinn.

Ein Kunde, amazon.de, 27.11.2000

Lobgesang auf das Leben

In dem Film Der Club der toten Dichter wurde der Name Walt Whitman häufig genannt und ein paar seiner Gedichte zitiert. Grund genug für mich die Grashalme zu kaufen und zu lesen. Ich war begeistert. Es ist ein unerschütterlicher Lobgesang auf das Leben, die Natur, die Menschen und auch den Tod. Whitman, gemeinsam mit Thoreau und Emerson, die andere, bessere Seite Amerikas, wird wie kaum ein anderer Dichter mit den amerikanischen Tugenden identifiziert: Bodenständigkeit, Tapferkeit, Vaterlandsliebe, Ehrlichkeit und Demokratie („Widersteht viel, gehorcht wenig“). Er ist aber auch ein Verfechter des Individualismus, er wünscht sich eine Gesellschaft, in der jedes Individuum das Recht zur eigenständigen Gestaltung seines Lebens haben darf. Für Whitmann ist jeder Mensch „ebenso göttlich wie irgendeiner“, er gesellt sich zu den Farmern, Fischern, Dieben, Matrosen und Handwerkern und ist mit ihnen glücklich. Männer und Frauen sind ihm gleicherweise willkommen, der nackte Leib göttlich und eine Freude. Und selbst der Tod hindert ihn nicht bei seinem Lied auf das Leben, denn die Unsterblichkeit ist ihm gewiss. Im Gedicht „Einem Sterbenden“ sagt er „hier gibts nichts zu bejammern, ich bedaure dich nicht, ich wünsche dir Glück“. Whitman ist „stürmisch, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend“ und wer seine Gedichte lesen wird, wird nicht anders können als mit Whitman das Leben zu preisen und zu lieben.

Stefan Proust, amazon.de, 20.5.2004

Der Wind im Gras – die Beste aller Welten

Bleibe nur diesen Tag und diese Nacht bei mir, und du
sollst den Ursprung aller Gedicht erfassen!
Du sollst das Gut der Erde und der Sonne haben (Millionen
von Sonnen sind noch übrig),
du sollst die Dinge nicht mehr aus zweiter oder dritter
Hand nehmen, auch nicht durch die Augen der
Toten sehen und dich nicht nähren von den
Gespenstern in Büchern;
Du sollst auch nicht mit meinen Augen sehen, noch die
Dinge von mir empfangen,
Du sollst Horchen nach allen Seiten und sie alle durch dich selbst filtrieren!

Ein Freund von mir (danke Holger!) brachte mich dazu noch einmal nach langer Zeit zu diesem Werk zu greifen.
Borges meinte einmal, dass jeder große Schriftsteller ein Symbol geprägt habe und auch prägen müsse, weil es ansonsten ganz unerheblich sei, ob er gut schriebe oder nicht, er würde dann die Zeit nicht überdauern (nach Borges Meinung leider so geschehen mit  Quevedo). Kafkas Labyrinthe; Cervantes Gestalt Don Quijote, mitsamt Gefährte Sancho Pansa und den Windmühlen; Melvilles weißer Wal Moby Dick. Doch Borges nennt stets auch ein Ausnahme, Whitman, der kein Symbol geprägt habe (außer vielleicht das Bild der Grashalme), sondern selbst zu einem geworden sei.

Ochsen, die ihr mit dem Joch und der Kette rasselt oder
oder unter schattigem Blätterdach haltet, was ist es, das
ihr in euren Augen ausdrückt?
Es scheint mir weit mehr als alles Gedruckte, das ich in
meinem Leben gelesen.

Whitman ist ein Rufer des Lebens. Dies Ding, oft verbannt aus unserer Mitte, benutzt, analysiert, systematisiert und verbogen, will er uns wieder nahebringen. „Das Alles“ ruft er uns aus seinen Zeilen zu, ist das Leben, alles was an Wunderbaren zu greifen ist, in unser Nähe geschieht, jedes noch so kleine Wunder, das uns kurz umgibt, jede noch so einfache oder schwierige Tätigkeit, jeder Name, jede Periode unseres Lebens und der Ewigkeit.

Alle Wahrheiten harren in allen Dingen,
sie haben’s nicht eilig mit ihrer Befreiung, noch
widerstehen sie ihr,
Sie bedürfen nicht der Zange des Geburtenhelfers.
Das Unbedeutende ist mir so wichtig wie irgendetwas.
(Was ist weniger oder was ist mehr als eine Berührung?)

Die Grashalme sind Musik, sind Hymne, aber auch philosophischer Sturm, in dessen Wind hier und da mal ein Flüstern von kleinen Wahrheiten an unser Ohr schwebt:

Die Uhr zeigt die Minute – aber was zeigt die Ewigkeit?

Pathos ist bei solchen Gesängen ja eigentlich schwer zu umgehen; aber, o Wunder, gerade das würde man nie über die Grashalme sagen, dass sie pathetisch seien, zu sehr erkennt man sich selbst in der einen oder anderen Liebe, in dem ein oder anderen Halm. Es bleibt das Gefühl einer natürlichen, nie zu schnellen, nie zu langsamen Dichtung, die immer an der eigenen Seite schreitet, hierhin zeigt, dies aufdeckt, jenes nacherzählt.

Meinst du, ich möchte Erstaunen erregen?
Erregt denn das Tageslicht Erstaunen? Oder der
frühmuntere Rotschwanz, der durch die Wälder
zwitschert?
Errege ich mehr Erstaunen als diese?

Diese Ausgabe (ich beziehe mich auf die Anaconda-Ausgabe) umfasst einige Gedichte aus den Trommelschlägen (dies Impressionen aus den Jahren des Bürgerkriegs, z.B. ein in Worten gemaltes Bild von Kavallerie, die ein Furt durchquert); dann, über 60 Seiten, also ein Drittel des Buches, einen Ausschnitt aus dem gewaltigen „Gesang von mir“, einem Text, halb Hymnus, halb Erzählung, voller Ansichten und Verherrlichungen, voller Schönheit und immer wieder natürlich-geistreich, wenn man es nicht erwartet; des weiteren noch viele andere, auch kleine Gedichte, ein-zwei Seiten lang.

Hier oder fortan, mir ist es gleich, ich vertraue der Zeit unbedingt.
Sie allein ist ohne Unterbrechung, sie allein rundet und
vollendet alles,
Dies Mystisch verwirrende Wunder allein vollendet alles.

Vielleicht ist dies die letzte Botschaft Whitmans: Alles vollendet sich von selbst, es hat keinen Sinn Krieg zu führen, zu hetzten, sich von irgendetwas auffressen zu lassen. Letztendlich geht das Leben seine Wege und man sollte ihnen folgen, man sollte sein Glück machen, die Augenblicke haben – seine Stimme flüstert: Das Leben ist dies alles, was versuchte außerhalb zu sein, sich davor zu retten, sich darin zu verstecken. Es gibt die Welt, die Welt als das Ding, dass sie ist, ohne Geheimnis oder Seltsamkeiten, alles was ist, ist und gehört dazu.

Seht ihr, o meine Brüder und Schwestern?
Es ist nicht Chaos oder Tod, es ist Form, Einheit,
Bestimmung, ist ewiges Leben – ist Glückseligkeit.

Timo Brandt, amazon.de, 4.5.2012

Leben pur!

Ich liebe Walt Whitman! Ich liebe ihn für die Kraft seiner Worte, mit denen er den Fluss des Lebens spürbar macht. Steinchen für Steinchen setzt er das Mosaik zusammen, doch erahnt man auch in jeder einzelnen Zeile das Bild des Ganzen. Nichts bleibt unausgesprochen, nichts verschwindet zwischen den Zeilen. Leben und Tod in ihrer ganzen Fülle und so intensiv, dass man manchmal beim Lesen zittert, dass einem schwindlig wird. Man fühlt sich betrunken, überrollt von einer Welle aus Verstehen. Möge Walt Whitman noch viele Menschen berühren!

Pheriandil, amazon.de, 25.8.2002

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 125. Todestag des Autors:

Christian Lindner: Tod des amerikanischen Lyrikers Walt Whitman
deutschlandfunk.de, 26.3.2017

Zum 200. Geburtstag des Autors:

Oliver vom Hove: Walt Whitman: „Ein Yankee, der seiner Wege geht“
Wiener Zeitung, 26.5.2019

Florian Baranyi: Der Dichter der Demokratie
orf.at, 31.5.2019

Manfred Orlick: „O Captain! My Captain!“
literaturkritik.de, Mai 2019

Hannes Stein: Der Mann, der die richtigen Worte für Amerika fand
Die Welt, 31.5.2019

Erwin In het Panhuis: „O Captain! My Captain!“ 
queer.de, 31.5.2019

Ulf Heise und Torsten Kohlschein: Dichter Walt Whitman: „Den Neuen Menschen singe ich“
Freie Presse, 31.5.2019

Jürgen Brôcan: Ein Mann, ein Kosmos: An Selbstbewusstsein fehlte es dem Lyriker Walt Whitman nicht
Neue Zürcher Zeitung, 1.6.2019

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + MAPS 1, 2 & 3 + IMDb +
Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA

 

Walt Whitman – Dokumentation von 1988.

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