William Carlos Williams: New Places・Neue Orte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von William Carlos Williams: New Places ・Neue Orte

Williams/Holy-New Places ・Neue Orte

DER POLARBÄR

sein Fell gleicht dem Schnee
tiefem Schnee
dem männlichen Schnee
der Attackiert und tötet

schweigend wie er fällt zum Schlaf
die Welt
einhüllend damit
die unterbrochene Stille zurückkehre

um bei uns zu liegen
die Arme
um unseren Hals
eine kleine Weile mörderisch

 

 

 

Das poetische Geschenk

– Wallace Stevens überläßt William Carlos Williams zwei Verse. –

Anders als ihre berühmteren Zeitgenossen T.S. Eliot und Ezra Pound, haben Wallace Stevens (1879–1955) und William Carlos Williams (1883–1963) die englischsprachige Lyrik dieses Jahrhunderts geprägt, ohne die amerikanische Kleinstadt gegen die europäische Großstadt zu vertauschen. Sie arbeiteten und wohnten in der neuenglischen Provinz: Stevens in Hartfort, Connecticut, und Williams in Rutherford, New Jersey. Und beide führten eine bürgerliche Existenz: Stevens war Jurist und brachte es bei einer großen Versicherung bis zum Vizepräsidenten; Williams war Arzt und hatte eine gutgehende Praxis. Als Stevens 1955, kurz vor seinem Tod, für den Band seiner gesammelten Gedichte den renommierten National Book Award bekam, soll sein engster Mitarbeiter in der Hartford Accident and Indemnity Company verwundert ausgerufen haben: „Wally, poetry!?“ Auch Williams’ Patienten wußten nicht viel von seinem anderen Leben und wären wahrscheinlich genauso überrascht gewesen, wenn sie davon erfahren hätten.
Die Routine des unpoetischen Provinzalltags lockerten regelmäßige Ausflüge in die nahe Metropole auf: New York war nur wenige Stunden von Hartford wie von Rutherford entfernt. Stevens war ein subtiler Kunstkenner, der sich eine kleine, aber um so feinere Sammlung zusammenkaufte; Williams’ Freundschaft mit dem Maler Charles Demuth wurde zu einer Legende der amerikanischen Moderne. In der New Yorker Kunstszene lernten sich der dichtende Jurist und der dichtende Arzt 1915 kennen und schätzen; schon bald führten sie eine angeregte Korrespondenz. Im Herbst 1915 berichtete Stevens seinem Freund in mehreren Briefen von der Arbeit an einem längeren Gedicht. Besonders die letzte Strophe beschäftige ihn, und von dieser Strophe monierte Williams denn auch zwei Verse – zwei Verse, auf die Stevens schließlich verzichtete und die er Williams schenkte. Williams, der das Gedicht in seiner Endfassung großartig fand, bedankte sich für das Geschenk und machte durch bloße Umstellung der Wörter aus den beiden Versen ein eigenes Gedicht. Beide Gedichte, Wallace Stevens’ „Sunday Morning“ und William Carlos Williams’ „The Red Wheelbarrow“, wurden in der legendären Zeitschrift Poetry veröffentlicht. Stevens nahm sein Gedicht in seinen ersten Sammelband Harmonium (1923) auf; Williams integrierte das seine in die Complete Collected Poems (1933). Die Geschichte der geschenkten Verse wurde nicht bekannt – nicht, weil sie verheimlicht worden wäre, sondern weil niemand darauf stieß. Auch die Korrespondenz zwischen Stevens und Williams ist nicht veröffentlicht worden, aber Auszüge erschienen 1981 in The Hudson Review. Es folgen die Briefstellen, die die Schenkung der beiden Verse dokumentieren.

WS an WCW: „Anbei die letzte Fassung dessen, was ich schließlich Sonntagmorgen genannt habe. In der ersten Strophe sollte ich vielleicht noch Morgenrock (wrapper) in Negligé (peignoir) ändern – Du kennst (und beklagst) meine Vorliebe für das schickere Wort. In derselben Strophe befriedigt mich die Zeile Und das sanfte Schnarchen eines Pekinesen nicht. Ich habe ja gar nichts gegen die kleine Foufou meiner Frau, aber hier fühle ich ein Bedürfnis nach mehr Farbe und scheue mich nicht, Foufou mit einem Fußtritt auf ihren gefiederten Hintern aus dem Gedicht zu stoßen. Wäre Und die grüne Freiheit eines Kakadus eine Verbesserung? (Wenn ja, dann sollte aus helles braunes Fell in Zeile 9 helle grüne Flügel werden.) Ich hoffe, Dir ganz bald die letzten Zeilen der letzten Strophe zu schicken. Sie verursachen mir akute Anfälle von dem, was Deine Patienten Sodbrennen nennen und ich ein Ärgernis.

WCW an WS: „Noch nie einen grünen Kakadu gesehen. Kakadus sind rosa. Bin froh, daß Du Foufou loswerden willst. […] Gedicht sehr gut, wirklich, eins Deiner besten. Freue mich auf letzte Verse.“

WS an WCW: „Nach Einnahme großer Mengen von Bromsalz gegen mein Ärgernis bin ich vorläufig zu folgendem Schluß für Sonntagmorgen gekommen:

Hirsche ziehen über unsre Berge, und
Um uns schallt instinktiver Wachtelschlag;
Süße Beeren reifen in der Wildnis; und hier,
Zu Hause, an unseren Herden und Herzen,
Hängt soviel ab von einem roten Schubkarren
Glasiert im Regenwasser zwischen den weißen Hühnern,
Daß wir häuslich, wild und froh zugleich sind.

Was ich natürlich möchte, ist, unmerklich auf die glückhafte Häuslichkeit vom Anfang zurückzuverweisen, aber ich finde, daß Schubkarren und Hühner noch keine Negligés und Kakadus suggerieren. Hast Du ein Mittel, Doktor, in Deiner kleinen schwarzen Tasche?“

WCW an WS: „Noch nie einen roten Schubkarren gesehen. Schubkarren sind grün. Ich meine, die auf einem Bauernhof. Habe in Nantucket mal einen blauen gesehen, aber das war ein Vorgarten-Schubkarren. Mit Petunien drin. Und was die Hirsche anbelangt, die über die Berge ziehen – sie laufen eher um ihr Leben. Keine Hirsche in der Gegend von Paterson. Kaum Wachteln, wenn überhaupt. Aber viele Stare, besonders hier draußen. In der Stadt Tauben in Hülle und Fülle. Warum zwischen den weißen Hühnern? Stimmt zwar, besser aber neben. Hühner sind stets überall, bleiben nie stillestehen, besonders die weißen Leghorns nicht. Du willst doch ein Stilleben, keinen Massenauflauf. Habe aber gegen die ganze Bauernhofgeschichte Bedenken, aus demselben Grund wie Du. Schlage vor, die ganze Strophe mit den wilden Beeren aufzufüllen. Keine wilden Beeren in der Gegend von Paterson, soviel ich weiß. Habe einmal einen Patienten wegen Beriberi behandelt, ist nicht dasselbe. Witz.“

WS an WCW (Telegramm): „TAUBEN KOMMA KLAR AUSRUFEZEICHEN ZUTIEFST VERBUNDEN KOMMA MON CHER GUILLAUME STOP JUHU MEHRERE AUSRUFEZEICHEN“

WCW an WS (Postkarte): „[…] Eins zu null für Dich, was den Kakadu betrifft, gestern kam Patient mit einem großen grünen. Chronischer Schluckauf oder sowas. Überwies Fall an Tierarzt, höre daß er diese Woche wieder nüchtern ist. Was ist jetzt mit den Tauben?“

WS an WCW: „Wie schon Foufou (die in Ungnade gefallen ist, weil sie schon wieder auf meinem Perserteppich gepinkelt hat), ist alles, was Du als Bauernhofgeschichte beschrieben hast, endgültig raus aus dem Gedicht. Der Schubkarren ist Deiner, wenn Du ihn willst, obwohl ich den Verlust von Glasiert im Regenwasser eigentlich bedaure […]. Sicher hast Du recht, daß landwirtschaftliche Schubkarren gewöhnlich grün sind, aber vergangenen Oktober habe ich einige eindeutig rote Schubkarren beobachtet, als ich die herbstliche Verfärbung der Blätter in Vermont bewunderte. Wahrscheinlich hatten sie noch Farbe übrig, nachdem sie ihre Bauernhäuser für Norman RockweIl gestrichen hatten.“

WCW an WS (Telegramm): „LASS DIE SCHUBKARREN ERKLÄR JUHU-TAUBEN“

WS an WCW: „Zu Deinem beharrlichen Interesse an Tauben, was ich mit Tauben, klar! sagen wollte, ist, daß besagte Vögel einerseits nicht so wild sind wie die vorher bemühten Wachteln und andererseits nicht so domestiziert wie die jetzt vertriebenen weißen Leghorns. Ihr Status ähnelt wirklich dem des Kakadus, weder ganz wild noch ganz zahm. Insofern spielen die letzten Zeilen der letzten Strophe auf die ersten Zeilen der ersten Strophe an:

Und allein
Am Himmel, abends, wiegen Taubenschwärme sich
In unbestimmtem Auf und Ab und sinken

Nieder in die Dunkelheit auf ausgestreckten Flügeln.

Ich hoffe, Du bist damit zufrieden. Ich habe mir eingeredet, daß ich es bin.“

WCW an WS: „Neue Zeilen ganz heiß, wie man sagt, besonders unbestimmtes Auf und Ab. Kenne eine Frau, die so geht, allerdings glücklich verheiratet. Warum ausgestreckte Flügel? Wie könnten sie sonst fliegen? Nein. Nein, ah, ich verstehe. Blöde Frage. Entschuldige Bemerkung über Auf und Ab. Sie sinken in die Dunkelheit, indem sie nach unten gleiten. Flügel schlagen nicht, sind ausgestreckt. Schön. Ganze Strophe, ganzes Gedicht, besser konntest Du’s nicht. Besser kann es keiner. Im Ernst, Wallace. Übrigens, danke für den roten Schubkarren. Habe vielleicht Verwendung dafür.“

Stefana Sabin, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 4, August 1991

Die Aufnahme von William Carlos Williams

in Deutschland, England und Italien (1912–1965)

I. Deutschland
So wenig wie zu Miss Dickinson gibt es ausgetretene Wege zu Dr. Williams. Das gilt von seinem Heimatkontinent Nordamerika genauso, wenn auch nicht in gleichem Grade, wie von Deutschland und anderen Ländern Europas. Ein notgedrungen lückenhafter, weil erstmaliger, Überblick über Verlauf und derzeitigen Stand der Rezeption versucht, diese Behauptung zu erhärten. Williams’ Aufnahme in Deutschland bildet den ersten Teil dieser Studie; ihr zweiter Teil gilt der britischen und der italienischen Rezeption. Durch ihr vergleichendes Verfahren hofft die Gesamtstudie, für spätere deutsche und andere europäische Forschung – mit Maßen – vorbereiten zu helfen, was ein scharfsichtiger britischer Rezensent der Bände 2–7 des Jahrbuchs für Amerikastudien als berechtigte Ergänzung amerikanischer Sicht der eigenen Literatur noch 1965 vermißte:

In a German periodical devoted to American studies, it might be expected that a European point of view would emerge on some of the major American writers and their attitudes. This has not yet occurred.1

 

i. Die amerikanische Rezeption als Hintergrund der europäischen

„Widespread public recognition has come late to William Carlos Williams“ steht auf dem Buchumschlag seiner Collected Earlier Poems (1951).2 Aber auch nach vierzehn weiteren Jahren scheint diese ,öffentliche Anerkennung‘ selbst in seinem Heimatstaat New Jersey, in dem er, von Auslandsschulzeit und Reisen abgesehen, sein ganzes Leben verbracht hat, noch nicht allzu ,weitverbreitet‘ zu sein. ,Anerkennen‘ setzt Kennen voraus, und diese Vorstufe scheint ebenfalls ,spät gekommen‘ zu sein. Eine amerikanische Studentin aus New Jersey, die in Deutschland ihr Studium der Germanistik fortsetzt, kannte Williams auf Befragen nicht einmal dem Namen nach. Man wird sich hüten, daraus einen anderen Schluß zu ziehen als den, daß Spezialisierung auf eine ausländische Literatur oft auf Kosten der Vertrautheit mit der eigenen, zumal der zeitgenössischen, gehen kann. Befremdlicher wird man es finden, wenn der Band Twin Rivers, The Raritan and the Passaic, 1943 in der von einem Dichter, Stephen Vincent Benét, mitbegründeten Reihe „The Rivers of America“3 – wiederum muß man sagen – ,nicht einmal den Namen‘ des Autors enthält, der schon vor seinem Epos Paterson, 1946–58, das Tal des Passaic wie niemand zuvor in dichterische Landschaft verwandelt hat. Ob hinter solchem Nicht-Kennen ein Nicht-Kennen-Wollen steht, ob damit ein indirektes Werten vorliegt, wird sich kaum entscheiden lassen.
Gewiß sind die literarische Kritik und die literaturwissenschaftliche Forschung der Vereinigten Staaten in ihrem Verhältnis zu Williams nicht ähnlich stumm geblieben. Mit der Feststellung:

With the publication of Paterson IV in 1950, criticism about the poetry of William Carlos Williams increased in quantity and, usually, in validity. Much earlier commentary had centered on Williams’ subject matter, avoiding his technique for lack of terminology. Early criticism was also often invalidated as Williams continused (!) his poetic experimentation, in the hope of finding a means to re-create his contemporary locale in his poem4

beschreibt und bewertet eine Bibliographie, aus dem Jahr 1965 zurückblickend, die erste Phase der Williams-Kritik. Für ihre akademische Seite ist es symptomatisch, daß die jährliche Bibliographie der Publications of the Modern Language Association of America zwischen 1920 und 1940 keinen Eintrag zu Williams enthält.
Obwohl Poems,5 die Versuche eines Sechsundzwanzigjährigen, schon fünf Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erschienen und selten mehr als zwei Jahre ohne ein neues veröffentlichtes Buch vergingen, dauerte es genau bis zur Jahrhundertmitte, ehe die erste monographische Studie zu seinem lyrischen, dramatischen und epischen Schaffen, William Carlos Williams von Vivienne Koch, veröffentlicht wurde.6 Es verstrichen weitere vierzehn Jahre, ehe 1964 die – in Buchform – erste kritische Analyse seines Kernwerkes, des lyrischen, herauskam: The Poems of William Carlos Williams, A Critical Study von Linda Welshimer Wagner.7 Beide Bücher und ein weiteres, das in der Zwischenzeit – 1955 – erschien und Williams’ Imaginationsweise einer Traditionslinie innerhalb der Moderne zuzuordnen suchte, Schwester M. Bernetta Quinns The Metamorphic Tradition in Modern Poetry,8 stammen also von amerikanischen Frauen – eigentümlich sinnvolle Gegengaben an einen Mann, der von Beruf Frauen- und Kinderarzt war, dessen Dichtung wie wohl keine andere seiner Zeit von weiblichen Gestalten aller Lebensalter prall voll ist,9 dessen eigenwillige, sich oft scheinbar jäh wandelnde Formensprache auf beharrliche Einfühlung angewiesen war.
Aber selbst die Monographien übergingen so gut wie völlig seine Leistung als Übersetzer. Nicht umsonst hat er das 53. Kapitel seiner Autobiography (1951)10 mit „Translations“ überschrieben. Er hat aus der griechischen Literatur des Altertums – ein Gedicht der Sappho und die erste Idylle Theokritst11, aus dem spanischen Romancero und der loyalistischen Lyrik des spanischen Bürgerkriegs12 wie aus moderner französischer Literatur – Philippe Soupault – übertragen (Last Nights of Paris)13 und sich auch am gemeinschaftlichen Übersetzen versucht, mit seiner Mutter zusammen an Francisco de Quevedos barocker Prosasatire El Perro y la Calentura,14 mit seinem Vater an einer Kurzgeschichte des guatemaltekischen Autors Rafael Martínez,15 mit John Gould Fletcher an Iwan Golls Jean sans Terre. Der Essayist und der Meister intimer Prosaformen, des Briefes, der Autobiographie, sind ebenfalls im Hintergrund oder in völligem Dunkel geblieben.
Immerhin haben, wie Linda Welshimer Wagner richtig beobachtet hat, mit der Veröffentlichung des 4. Buches seines Paterson-Epos (1950) die interpretierenden, wertenden, komparatistischen und geschichtlich verstehenden Arbeiten, meistens in Form von Zeitschriftenbeiträgen, seltener in Dissertationsform, schneller zugenommen. Auf sie wird als Hintergrund knapp und vergleichend zurückzukommen sein, nachdem die für diese Studie im Vordergrund stehende europäische Rezeption an drei Beispielen, dem deutschen, britischen und italienischen, verdeutlicht worden ist.

 

ii. 1. Erste und zweite Phase der deutschen Rezeption (1931–1961):
Kurze Gastbesuche und allmählich wachsende Empfangsbereitschaft
1. Frühphase (1931–1945): Französische Vermittlung und erster deutscher literaturwissenschaftlicher Ansatz

Nicht zufällig ist das deutsche Verhältnis zur amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts bisher am gründlichsten auf dem Gebiet der Erzählkunst, vor allem des Romans,16 nicht auf dem der Lyrik, erforscht worden. Deshalb lassen sich über die  f r ü h e s t e n  deutschen Wege zu Williams, der als Lyriker begann und in dieser Gattung sein Bestes gab, nur vorsichtige Vermutungen anstellen. Anlaß zu ihnen geben je ein Beispiel aus den  A n t h o l o g i e n  übersetzter amerikanischer Lyrik und aus der deutschen Geschichtsschreibung über amerikanische Literatur. Beide Proben stammen aus der Zeit um 1920, keineswegs der ersten, aber bis dahin höchsten Welle deutscher Empfangsbereitschaft für Dichtung und Kultur der Vereinigten Staaten.
Mitten im deutschen Expressionismus – und in der deutschen Inflation – erschien Die Neue Welt. Eine Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik.17 Als ,Herausgeber‘ und ,Übersetzer‘ zeichnete Claire Goll. Frucht ihrer Amerikajahre, legte der kleine Band von rund 100 Seiten einen Querschnitt durch die moderne Lyrik des weißen Amerika, durch die „Negerdichtung“ und – noch wagemutiger – die „Indianische Dichtung“. Claire Golls Gatte Iwan hatte 1919 zusammen mit Gustav Landauer unter dem Titel Der Wundarzt „Briefe, Aufzeichnungen und Gedichte“ Walt Whitmans „aus dem amerikanischen Sezessionskrieg“ übersetzt;18 Jahre später sollte Williams, wie eingangs erwähnt, Mitübersetzer eines Werkes von Goll werden. Der Verleger der Anthologie, S. Fischer, Berlin, sorgte sicher für eine gewisse Ausstrahlung des schmalen Halbleinenbandes. Daß er übrigens auch Rilke erreichte und einer seiner seltenen Zugänge zum amerikanischen Schrifttum wurde, ist allerdings weniger S. Fischer zu verdanken als Rilkes langjähriger Bekanntschaft mit der Übersetzerin.19 Ihre Auswahl hatte Gedichte aus Williams’ Freundes- und Bekanntenkreis berücksichtigt, Verse von Marsden Hartley und Alfred Kreymborg, von Amy Lowell, Harriet Monroe und Ezra Pound. Hier schienen also mehrere gute Vorbedingungen für eine Begegnung mit Williams zusammenzutreffen. Trotzdem findet man unter den 21 Lyrikern des weißen Amerika seinen Namen nicht. Das „Vorwort“ – es ist mit seinem sehr persönlichen, manchmal schon ekstatischen Ton ein zutreffendes Zeugnis des deutschen expressionistischen Amerikabildes – setzt folgende Akzente:

„Poetry“ und „Reedy’s Mirror“ brachten zuerst die drei stärksten Könner der jungen Generation zur Geltung: Carl Sandburg, Nikolas (sic) Vachel Lindsay, Edgar Lee Masters. …
Diese drei Dichter sind die hauptsächlichsten Umwälzer im heutigen Amerika. Und darum Führer. Um sie schart sich eine ganze Jugend, unter denen so starke Kräfte sind, daß man auch ihnen eine spätere Führerschaft prophezeien kann
.20

Daß Claire Golls Verteilung der literarischen Gewichte eine gewisse Typik enthält,21 erkennt man, wenn man von der Anthologie zur Literaturgeschichtsschreibung, also zu unserem zweiten Beispiel, übergeht.
Unter den „markantesten Erscheinungen der jungen amerikanischen Lyrik“, die Walther Fischers Pionierleistung, Die englische Literatur der Vereinigten Staaten von Nordamerika (1929), nennt,22 trifft man wiederum auf Sandburg, Lindsay und Masters; die beherrschende Stellung eines Triumvirats wird ihnen freilich nicht mehr zugebilligt. Fischer überhört keineswegs „radikalere Stimmen“ unter den „heterogenen Elemente[n] der neuen Lyrik“,23 und abermals glaubt man sich wie in Claire Golls „Vorwort“ Williams nahe; abermals führt der Weg, anscheinend haarscharf, an ihm vorbei.
Um die beiden negativen Ergebnisse zu überprüfen, könnte man die gleichzeitige  L i t e r a t u r k r i t i k  der deutschen Zeitschriften heranziehen.
Zu einer sehr frühen Stichprobe lädt der Artikel „Junge amerikanische Dichtung“ in Die Neue Rundschau (1920) ein.24 In ihr stößt man zum zweitenmal auf Claire Goll als deutsche Wegweiserin zur zeitgenössischen Lyrik Amerikas. Das Sandburg-Masters-Lindsay-Triumvirat des „Vorworts“ zur Anthologie begegnet in seiner Frühform; über Williams fällt schon hier kein Wort.
Auch in den wissenschaftlichen Zeitschriften geht es in diesem Punkt nicht lauter zu. Martin Pawlik und Karl Brunner besprachen beide Louis Untermeyers Anthologie Modern American Poetry (19191), der eine in Die Neueren Sprachen (1923),25 der andere in Germanisch-Romanische Monatsschrift (1923/24);26 von Williams strahlt keine Anziehungskraft auf sie aus.
Wenn der deutsche Gelehrte die wissenschaftliche Zeitschrift für kürzer oder länger verläßt, wenn er wie Friedrich Brie einmal Claire Goll in die literarische Publizistik folgt und in einem Organ wie Das literarische Echo (1922) über „Die jung-amerikanische Bewegung“ schreibt,27 steht für ihn der amerikanische Roman im Mittelpunkt; immerhin fallen Seitenblicke auf einige Lyriker, unter ihnen Frost und – abermals – Masters. Williams bleibt terra incognita.
Eine letzte Stichprobe führt zur Literaturgeschichtsschreibung zurück. Das Beispiel stammt jedoch schon aus den frühen 1930er Jahren; außerdem unterscheidet es sich von unserer ersten Probe – Fischers Die englische Literatur der Vereinigten Staaten von Nordamerika – darin, daß sein Rahmen, Die Weltliteratur der Gegenwart (1931),28 zeitlich unvergleichlich enger ist als der für Fischer geltende Rahmen in Walzels Handbuch der Literaturwissenschaft. Trotzdem begnügt sich G. Fritz, der Bearbeiter des Teiles „Nordamerika und Kanada“, damit, die neuere amerikanische Lyrik durch Robinson, Frost, Sandburg und Lindsay vertreten sein zu lassen.
Wenn der deutsche Leser 1931, d.h. 22 Jahre nach Williams’ Erstlingswerk Poems (1909), drei Jahre nach Williams’ zehntem Buch, dem Roman A Voyage to Pagany (1928),29 etwas über ihn in deutscher Sprache erfahren wollte, mußte er zur Übersetzung einer französischen Geschichte der modernen amerikanischen Literatur greifen. Dem Leipziger Dioskuren-Verlag ist es zu verdanken, daß Régis Michauds Panorama de la littérature américaine contemporaine (1926)30 fünf Jahre später als Die amerikanische Literatur der Gegenwart übertragen wurde.31 So begann die Aufnahme Williams’ in Deutschland als Rezeption in zweiter Potenz, als Rezeption einer Rezeption: man nahm nicht Williams auf, sondern die Williams-Aufnahme einer Nachbarkultur, der französischen.
Der Name Michauds ist mit dem Aufstieg der französischen Amerikanistik ,bald nach 1900‘ und mit ihrer ersten Blütezeit zwischen den beiden Weltkriegen fest verknüpft.32 Er hatte sich in drei Büchern als Emersen-Spezialist ausgewiesen und zwei weitere, von der Französischen Akademie preisgekrönte Werke, Mystiques et réalistes anglo-saxons und – unserem Thema enger benachbart – Le roman americain d’aujourd’hui publiziert. Der gefeierte Lehrer an der Sorbonne stellte dem deutschen Leser einen Williams folgender Art vor:

Er ist der Apostel des ,Flamboyanten‘. Mit dem Feuer des Futuristen beschimpft er die Vergangenheit. Er predigt die radikale Erlösung vom Instinkt und von der Phantasie. Auflösung und Modernismus um jeden Preis. Der neuen Gesellschaft gebührt eine neue Literatur. Diese soll schillern wie das moderne, aufgeputzte, ungeschminkte Dasein, im kurzen Röckchen, mit kurzem Haar, munter und ungeniert wie die ,flapper‘, die Grisetten der neuen Zeit. Williams flucht nach Herzenslust. Er erkennt keine andere Regel als den eigenen Willen des Künstlers, der seinen Stoff und seine Form selber schafft. „I will write whatever I damn please, and as I damn please“, flucht er munter drauf los.33

Der deutsche Käufer dieser Darstellung erfuhr nicht, daß der ,muntere Fluch‘ aus dem Prolog zu einem frühen Werk, zu Williams’ Kora in Hell (1920), stammte und dieses den Untertitel „Improvisations“ trug.34 Der Williams, gegen den Michaud zu Felde zog, war schon sechs Jahre nach Kora in Hell, als Panorama de la littérature américaine contemporaine erschien, nicht mehr derselbe, geschweige 1931, als die deutsche Ausgabe veröffentlicht wurde.
Trotz seiner gründlichen Kenntnis und seiner Schätzung der amerikanischen Literatur, in der der ,junge Rebell‘ wahrhaftig nicht selten ist,35 fand Michaud keine sachgerechten Maßstäbe für das dichterische Schaffen eines von der experimentellen Naturwissenschaft geprägten Mediziners. Es ist aufschlußreich, daß Fischers allgemeines Stichwort der „radikaleren Stimmen“ bei seinem französischen Kollegen mit spezieller Zuspitzung auf Williams wiederkehrt in der Bemerkung:

Er predigt die  r a d i k a l e  Erlösung vom Instinkt und von der Phantasie…

Es wäre für die Frühphase der deutschen Williams-Rezeption günstig gewesen, wenn als Gegengewicht gegen das Williams-Bild des Panorama und seiner deutschen Fassung auch René Taupins meisterliche Studie L’influence du symbolisme français sur la poésie américaine, 1929, übersetzt worden wäre.36
So füllte Michauds eingedeutschtes Warnbild zunächst unwidersprochen den Platz, den die  d e u t s c h e  Geschichtsschreibung der amerikanischen Literatur leer gelassen hatte. Der erste deutsche Literarhistoriker, der die Leere bemerkte, dürfte Walter F. Schirmer gewesen sein. Seine Kurze Geschichte der englischen Literatur, die 1945 mit einem vom Juli 1943 datierten „Vorwort“ erschien und die amerikanische Literatur einbezog,37 versuchte einerseits eine literarische Zuordnung, andererseits eine Präzisierung des Individuellen in Williams’ Dichtung. So entstand beides: Gruppenbild und Momentaufnahme:

Diesen Lyrikern (Edna St. Vincent Millay, Sara Teasdale und Elinor Wylie) gegenüber stehen die experimentierenden und um jeden Preis das Herkömmliche meidenden Dichter. Aber Maxwell Bodenheims (geb. 1892) bitter-groteske Wortakrobatik, W.C. Williams’ (geb. 1883) expressionistische Gebärde und Alfred Kreymborgs (geb. 1883) Marionettenvorliebe und Spiel mit Masken haben bereits einer Rückwendung vom Freivers zu den festen alten Formen Platz gemacht.38

Die knappe Kennzeichnung „W.C. Williams’ … expressionistische Gebärde“ schöpft aus der Erfahrung des deutschen Expressionismus. Die gleiche Erfahrung hatte Fischer 1929 in Ezra Pound einen „echte[n] Expressionist[en]“ sehen39 und schon 1923 Georg Kartzke im zeitgenössischen Amerika eine „ausgezeichnete expressionistische Lyrik“ entdecken lassen.40 Wieviel tradiertes englisches 19. Jahrhundert, besonders Browning, wieviel eine wiederaufgenommene, – durch Pound vermittelte – erheblich ältere Tradition, die provenzalische Lyrik, in Williams’ Jugendwerk lebt, konnte erst spätere Forschung freilegen und Williams’ Autobiography (1951; Veröffentlichung einer früheren Teilfassung 1948, 1949) sowie seine Selected Letters (1957)41 bezeugen oder verraten.
Nach solcher – teils abgeleiteten, teils ursprünglich deutschen – minimalen Frührezeption von William Carlos Williams begann die zweite Phase als kleiner, verspäteter Tropfen im großen, weil aufgestauten, Wiedereinstrom des amerikanischen Schrifttums nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Auch diese Spanne fing als Rezeption einer Rezeption an, freilich nicht mehr der französischen, sondern der amerikanischen.

 

ii. 2. Zweite Phase (1948–1961): Eingang durch die Hintertür der Fußnote, breite amerikanische Wegbahnung und erste deutsche Übersetzer (1948–1952)

Der kleine Tropfen gehörte nicht zum Hauptstrom, der amerikanische Romane und Dramen in das deutsche literarische Leben hereintrug;42 er gehörte nicht einmal zu der Nebenströmung, die modernen amerikanischen Lyrikern günstig war; ihn hielt es in dem ruhigen Seitenarm, auf dem die oft wertvollere Fracht der ,klassischen‘ Dichtung des 19. Jahrhunderts und der ihr gewidmeten amerikanischen Literaturforschung hereinkam. Williams’ Aufnahme vollzog sich mit einer Beiläufigkeit, einer Indirektheit, die sich noch häufig wiederholen sollte, und mit einer unbeabsichtigten, nur dem rückblickenden deutschen Chronisten bewußten leichten Komik, die einmalig blieb. Die Rezeption erfolgte nämlich in einer unscheinbaren Fußnote. Sie stand in einem bedeutenden amerikanischen literaturgeschichtlichen Werk, mit dessen Übersetzung man einen guten Griff getan hatte, in F.O. Matthiessens American Renaissance. Art and Expression in the Age of Emerson and Whitman (1941). Die Fußnote in der deutschen Ausgabe Amerikanische Renaissance (1948)43 lautete:

Ein zeitgenössischer Versuch, den dramatischen Effekt förmlicher Rhetorik erneut zu schöpfen, etwa in der Manier von  P r e s c o t t  mit einem Schuß von D.H. L a w r e n c e, wurde von William Carlos W i l l i a m s  in „The Destruction of Tenochtitlan“ unternommen, einem Kapitel seines IN THE AMERICAN GRAIN [In amerikanischer Körnung] (1925).44

Die Fußnote bezog sich auf das Merkmal der rhetorischen „Dehnung“ in Hawthornes Erzählstil, für das ein Beispiel aus The House of the Seven Gables angeführt wurde; zugleich wurde dieser Stilzug historisch-vergleichend gesehen:

Das Kapitel über den Tod des Richters Pyncheon gehörte zu seinen [Emersons] Lieblings-Prunkstücken, während  M e l v i l l e  es als eine „der tiefsten Stellen“ bezeichnete, die ihn am stärksten ergriffen haben. Wir sind in unserem zeitgenössischen Mißtrauen gegen Rhetorik so weit in das andere Extrem verfallen, daß wir unsere Prosa beinahe ohne irgendein Rückgrat gelassen haben, um das man aufbauen könnte; jedenfalls ist es uns beinahe unmöglich geworden, an einer tour de force wie  H a w t h o r n e s  Kapitel Gefallen zu finden.45

So ist es der Prosakünstler Williams, der Stilist, der experimentelle Restaurator ,förmlicher Rhetorik‘, zugleich ihr experimenteller Verbinder „mit einem Schuß von D.H. La w r e n c e“, der an so entlegenem Platz dem deutschen Leser flüchtig vorgestellt wird. Diese geschichtlich-vergleichende Sicht behält zwar Michauds und Schirmers Betonung des ,experimentierenden‘ Williams bei, schafft aber ein Gegengewicht gegen die Auffassung vom „um jeden Preis das Herkömmliche meidenden Dichter“. Der Amerikaner in Matthiessen, der tiefe Kenner der einheimischen Literatur, entdeckt inmitten des experimentellen Williams den traditionellen und greift damit späterer, abwägenderer Williams-Rezeption voraus. Auch das Motiv ,Williams und Lawrence‘, das er – für deutsche Leserohren als erster – anschlägt, sollte nicht verklingen. Es hatte seinen festen Ausgangspunkt in den literaturkritischen und -schöpferischen Beziehungen beider Autoren zueinander: Von Lawrence stammte die erste britische, ,brillante‘46 Kritik des Bandes In the American Grain,47 von Williams „An Elegy for D.H. Lawrence“.48 Selbst Matthiessens Hinweis auf ein bestimmtes Kapitel dieses Bandes, „The Destruction of Tenochtitlan“, ging in den folgenden Jahren der deutschen Williams-Rezeption nicht unter: Dieses Kapitel war die erste Probe aus Williams’ Prosawerk, die der deutsche Leser 1952 übersetzt zu Gesicht bekommen sollte. So weit reichen die geistigen Verflechtungen einer schlichten Fußnote!
Um so merkwürdiger will es scheinen, daß Matthiessen gerade dort Williams nicht erwähnt, wo er über ein Thema schreibt, mit dem Williams sehr viel enger verbunden ist als mit dem Gegenstand der Fußnote, und wo er sich an ein breiteres deutsches Publikum wendet als in der Übersetzung von American Renaissance. Der Aufsatz „Amerikanische Poesie zwischen 1920 und 1940“, den die Zeitschrift Die Wandlung 1949 veröffentlichte,49 überging Williams. Sollte es etwa nur der Prosakünstler in ihm sein, der Matthiessen auf Kosten des Lyrikers interessierte? Tatsächlich hatte der bedeutende Harvarder Literaturhistoriker schon 1945 gegen den Lyriker Williams Stellung bezogen, als er in The New Republic drei Gedichtbände besprach, unter ihnen Williams’ The Wedge (1944).50 Einzelheiten dieser Rezension gehören in eine Sonderuntersuchung der amerikanischen, nicht der deutschen Williams-Rezeption. Für deren zweite Phase ist sie zunächst nur insofern wichtig, als sie verstehen hilft, warum Matthiessen 1949 gerade nicht die deutsche Kenntnis und Schätzung von Williams’ lyrischem Werk förderte, sondern  s c h w i e g. Was der Lebende stumm übergangen hatte, sprach der Tote aus: genau ein Jahrzehnt später machte die deutsche Ausgabe der Literary History of the United States ihre Leser mit der Portraitskizze von Williams bekannt, die Matthiessen zur amerikanischen Erstauflage (1948) beigesteuert hatte,51 und diese Skizze beruht weithin auf jener Rezension von 1945. Der Beweis wird an der entsprechenden Zeitstelle der deutschen Rezeptionschronik zu führen sein. Für jetzt genügt es, aus Matthiessens Essay über „Amerikanische Poesie zwischen 1920 und 1940“ einen wirkungsgeschichtlichen Schluß zu ziehen: Hinter Pound und Eliot blieb Williams für deutsche Augen unerkennbar. Der Verfasser der Fußnote in einem Buch, das zunächst für amerikanische Leser geschrieben war, hatte für die deutsche Williams-Aufnahme unbewußt mehr geleistet als der Autor eines Aufsatzes, der für ein deutsches Zeitschriftenpublikum gedacht war!
Matthiessens Erwähnung von 1948 folgte anscheinend als erste kräftigere Lebensspur – soweit Gerhard H.W. Zuthers verdienstvolle, auswählende Bibliographie der Aufnahme amerikanischer Literatur in deutschen Zeitschriften (1945–1960) (1965) Auskunft erteilt,52 ein längerer Hinweis, den 1949 Eric Bentley in einem Essay „Notizen zur amerikanischen Kultur“ auf Williams gab. Der Verfasser, heute als Brecht-Übersetzer und -Interpret weitbekannt, lebte als ,alien resident‘ britischer Herkunft in den Vereinigten Staaten; die Zeitschrift, die den Essay druckte, die Amerikanische Rundschau,53 hatte ihre Wurzeln ebenfalls in Übersee. Soweit sie den amerikanisch-deutschen Literaturbeziehungen diente, war sie mehr ein informierendes als ein kritisches Organ; ihre Wirksamkeit – sie stellte 1950 ihr Erscheinen ein – begrenzte sich auf die Besatzungszeit und die anschließende Übergangsphase. Bentleys „Notizen“ ging es um die „amerikanische Kultur“, nicht speziell um die Literatur. So wird Williams’ Werk zum Beleg einer kulturanalytischen These:

Was für das neunzehnte Jahrhundert zutraf, gilt auch heute: weit entfernt von dem aufdringlichen Selbstbewußtsein, das Ausländer für den beherrschenden amerikanischen Charakterzug halten, ist die beste amerikanische Literatur von einem düsteren Ernst und ihrem Lande gegenüber tief kritisch. Trotzdem wäre es kindisch, sie unpatriotisch zu nennen. Vielleicht das bedeutendste Werk, das augenblicklich in Amerika geschrieben wird, ist Paterson… In the American Grain beweist zur Genüge, wie ernst er [Williams] Amerika nimmt. Bei der Lektüre von Williams’ Gedichten und Erzählungen wird einem klar, daß ein Dichter seinem Lande verbunden sein kann, ohne lächerlich und seiner Sendung untreu zu werden.54

Der Zusammenhang, in den Williams hier hineingestellt wird, ist sozial und funktional: Dichtung fungierend als Sozialkritik. Auch Bentleys zweite Perspektive ist sozial: Dichtung und „die Sprache, die Mencken die ,amerikanische‘ nennt und die Williams spricht und schreibt“. Bentley kennzeichnet sie als

eine Abart des Englischen, deren Besonderheit nicht nur durch ihren speziellen Wortschatz bestimmt wird, sondern, was mir noch charakteristischer erscheint, von ihrer Melodie, ihrem Tempo und ihrem Rhythmus. Bemerkenswerterweise war einer von den ersten, die diese Sprache für die Poesie in Anspruch nahmen und so zur Schöpfung amerikanischer Dichtkunst beitrugen, politisch betrachtet nicht nur kein guter Patriot, sondern tatsächlich ein Verräter: ich spreche von Ezra Pound.55

Wenn Bentley abschließend formuliert:

Meine Behauptung geht dahin, daß die amerikanische Literatur in gewisser Hinsicht wirklich amerikanisch ist, wenn auch nicht ganz im Sinne eines naiven Nationalisten. William Carlos Williams und Ezra Pound liefern Belege hierfür.56

ist der für ihn entscheidende Gesichtspunkt ausgesprochen: das ,Amerikanische‘ an der amerikanischen Literatur im allgemeinen und an Williams’ Werk im besonderen.
Den ausländischen Informanten folgte 1951–52 der erste deutsche  Ü b e r s e t z e r. Der Lyriker Rainer Maria Gerhardt (1927–1954) veröffentlichte im ersten gedruckten Heft – Heft 1 (1951) – seiner vorher nur mimeographierten Freiburger Zeitschrift fragmente, internationale revue für moderne dichtung seine Übertragung von „The R R Bums“ aus Williams’ Gedichtgruppe „The Rat“ (ca. 1950); Heft 2 (1952) brachte die Verdeutschung von „The Pink Church“ (1949). Ein 24jähriger Deutscher aus Baden, dessen Rolle als Vermittler neuerer amerikanischer Literatur an das Deutschland der frühen Nachkriegsjahre noch der längstverdienten Würdigung harrt, wählte zwei in The Collected Later Poems (1950) aufeinanderfolgende Nachkriegsgedichte des fast 70-jährigen Williams aus, die in sehr persönlicher Weise seine Haltung zur amerikanischen Gesellschaft und zur christlichen Kirche aussprechen. Von diesen ersten Übersetzungen biegt der Weg zurück zu Auskunft und Kritik.57
Außerdeutsche Literaturkritik; dieses Werkes, wieder zunächst zur Information über transatlantische Meinungsbildung, aber nun nicht mehr vornehmlich zum Zweck der Information über „amerikanische Kultur“, sondern als spezielle literarische Auskunft über Williams’ Schaffen, bot noch im gleichen Jahr ein weiteres, ebenfalls kurzlebiges Organ Amerikas, seiner „Literatur – Kunst – Musik“, auf deutschem Boden: die Zeitschrift Perspektiven.
Ihr erster Jahrgang 1952 vermittelte Information von Rang, dazu an herausgehobener Stelle, im Heft 1, und in vierfacher Form: im programmatischen Vorwort des Herausgebers, im Abdruck von zwei Prosastücken in deutscher Übertragung und von 14 Gedichten in Übertragung und Original, in einer eingedeutschten Rezension von Collected Earlier Poems (1951) und Collected Later Poems (1950), in einer biobibliographischen Kurznotiz.
Das Herausgebervorwort verwendet wie vorher Bentleys Essay Williams ,exemplarisch‘, und eine bestimmte exemplarische Sehweise, die dichtersprachliche, kehrt wieder:

Ihre [der Vereinigten Staaten] Kultur erscheint dem Außenstehenden oft chaotisch, weil viele ernstzunehmende Autoren und Künstler noch immer an Amerika als an ein Neuland glauben, aus dem sie mit der Kraft der Freiheit das machen können, was ihnen Geschmack und Gewissen diktieren. Ein Beispiel dafür ist ein Dichter wie William Carlos Williams, der den Kampf für eine vom Stil der englischen Dichtung bereinigte amerikanische Sprache als das Ziel seines großen Werkes betrachtet. Diese Trennung von der unmittelbaren Vergangenheit erstreben auch Dichter wie Kenneth Rexroth, Theodore Roethke und Kenneth Patchen.58

„Trennung von der unmittelbaren Vergangenheit“ – erinnert sie nicht an den Zug im deutschen Williamsbild der Frühphase, den das geliehene französische Bild temperamentvoll und pauschal in dem Satz „Mit dem Feuer des Futuristen beschimpft er die Vergangenheit“, den Schirmers Kurzstudie in Williams’ Zuweisung zu den „ um jeden Preis das Herkömmliche meidenden Dichtern“ schon enthalten hatte?
Näher als das übersetzte Herausgeberprogramm führt die Übersetzung von Werkproben an den Autor heran. Mit ihr beginnt nach der literaturkritischen, zum Teil kulturkundlich auswertenden Betrachtungsweise erneut ein unmittelbarer Weg der deutschen Rezeption. Williams’ Werk kommt zuerst in der geschichtlichen Schilderung „Die Zerstörung der Stadt Tenochtitlan“ („The Destruction of Tenochtitlan: Cortez and Montezuma“), einem Glanzstück aus der historischen Bericht- und Essayfolge In the American Grain (1925),59 zu Wort. Dem Prosakünstler folgt der Lyriker. „Zehn Gedichte“ vermitteln einen ersten Eindruck von dem Experimentator der lyrischen Kurzform, der kurzen oder längeren Zeile, der strophischen, einerlei wie minimalen, oder der nicht-strophischen Gliederung. Gleichzeitig konfrontieren sie durch die Beifügung des Originals die deutschen Leser und Hörer, viele von ihnen wohl zum erstenmal, mit den prosodischen Experimenten jenes merkwürdigen Dichter-Arztes aus New Jersey. Die Auswahl verrät Gefühl für dichterischen Wert, die Anordnung pädagogisches Geschick. Dem Leser wird zuerst und in der Hauptsache der ,eingängigere‘ Lyriker der 1930er Jahre vorgestellt; „Poem“ und „This is Just to Say“ vertreten „Collected Poems 1934“,60 „The Locust Tree in Flower“ und „Proletarian Portrait“ stammen aus dem Band An Early Martyr (1935),61 „Young Woman at a Window“ und „A Chinese Toy“ gehören zu Adam & Eve & the City (1936).62 Der durch scheinbare Banalität der Themen und durch vermeintlichen Prosastil verblüffende Lyriker der frühen 1920er Jahre, der Williams von Sour Grapes (1921) und Spring and All (1923),63 wird erst gegen Ende der „Zehn Gedichte“ und nur mit zwei bzw. einer Probe – „Complete Destruction“ und „The Great Figure“ bzw. mit „Poem“ ( = „The Red Wheelbarrow“) – eingelassen. Mit der Erzählung „Grabstein eines Lustspiels“ („Comedy Entombed,“ 1946)64 übernimmt wieder die Stimme des Prosaisten die Führung, gibt sie aber zum Schluß an den Lyriker zurück. „Gedichte“ lenken mit zwei von Williams’ feinfühligsten Frauengedichten, dem humorvollen „To Waken An Old Lady“, dem tragischen „The Widow’s Lament in Springtime“, zurück in die frühen 20er Jahre von Sour Grapes; das unheimlichste von Williams’ symbolistischen Gedichten der Sozialkritik, „The Yachts“, repräsentiert erneut die Welt von An Early Martyr; nur mit dem prophetisch warnenden „These“ aus „Recent Verse 1938“ verlängert dieser zweite lyrische Teil die Auswahlrichtung des ersten über 1936 hinaus. Die Auslese aus dem lyrischen Gesamtwerk hält sich also zwischen 1921 und 1938; das frühe Schaffen von 1909–1917 wird genauso ausgespart wie das spätere der 1940er Jahre, das The Collected Later Poems (1950) immerhin schon zwei Jahre vor diesem ersten Heft der Perspektiven zusammengefaßt hatte.
Einen Ausblick in diese ,Later Poems‘, verbunden mit einem Rückblick auf den Williams der ,Earlier Poems‘ von 1909 bis 1939, erhielt der deutsche Leser durch den vermittelnden Literaturkritiker: Randall Jarrell rezensierte beide Sammlungen im „Bücherschau“-Teil des gleichen Zeitschriftenheftes. Hier war mithin Gelegenheit geboten, in Übersetzung einen bedeutenden jüngeren Träger amerikanischer kritischer Williams-Rezeption kennenzulernen. Jarrell,65 Lyriker und Essayist aus dem Süden, hatte 1946 und 1951 zwei Williams einbeziehende Beiträge zur Partisan Review veröffentlicht;66 als seinen speziellen Interpreten hatte ihn die ,Einleitung‘ zu Williams’ Selected Poems (1949) bekannt gemacht.67
Wer zu vollerem Verständnis der Herausgeberworte über Williams, der Prosa- und Lyrikproben, der literaturkritischen Rezension einen Lebens- und Schaffensabriß des Autors benötigte, fand ihn (samt Photo) am Schluß des Heftes. Eine nüchterne Feststellung wie „Sein Werk umfaßt Erzählungen, Romane, Essays, Theaterstücke und Gedichte“ gab immerhin eine erste Vorstellung von Umfang und Vielfalt der Gesamtschöpfung.68 die hinter so reichlichen und doch im Grunde so kärglichen Einzelproben aus Erzählkunst und Lyrik stand.
So förderlich sie war, sagt diese vierfache Darbietung von William Carlos Williams wohl mehr über das amerikanische ,Angebot‘ als über die deutsche ,Nachfrage‘ aus. Der Herausgeber der Perspektiven und damit auch der Verfasser des programmatischen Eröffnungsaufsatzes, James Laughlin, ist nämlich „the first commercial publisher“ von Williams.69 Dieselbe Förderung wie in der deutschen Ausgabe seiner Zeitschrift ließ er seinem Verlagsautor in der britischen, französischen und italienischen angedeihen; sie war nun einmal für eine europäische, nicht allein für eine deutsche Leserschaft gedacht. Die Auswahl von Jarrell als erstem speziellem Williams-Interpreten Amerikas für ein europäisches Publikum erklärt sich wohl gleichfalls aus Verlagsbeziehungen. Die Selected Poems, für die Jarrell, wie schon erwähnt, eine ,Einleitung‘ geschrieben hatte, gab Laughlins „New Directions“-Verlag heraus. Aus solchen Verlagsverbindungen erklärt sich schließlich auch das Kuriosum, daß der deutsche Leser in Perspektiven, 1 „Grabstein eines Lustspiels“ vorfand, dessen Originalfassung dem amerikanischen Leser damals in keinem einheimischen Williams-Sammelband, nur im britischen Seitenstück zu Perspektiven, in Perspectives, No. 1 zugänglich war: Laughlin hatte den Text im New Directions Annual, No. 9 als „Comedy Entombed“ zwar schon 1946 erstgedruckt, aber legte ihn erst 1961, nunmehr im dritten Teil von The Farmers’ Daughters, The Collected Stories of William Carlos Williams, wieder auf.70

 

ii. 3. Zweite Phase (Fortsetzung): Langsame Annäherung aus eigener deutscher Kraft (1952–1958)

Wo sich die deutsche Annäherung an Williams nach so breiter amerikanischer Wegbahnung wieder auf eigene Kraft angewiesen sah, vollzog sie sich langsam, aber stetig. Der deutsche literaturwissenschaftliche Ansatz von 1945 wurde wieder aufgenommen, die Linie übersetzender Rezeption, die Rainer M. Gerhardt auf eigene Faust, Christine Koller, Kurt Erich Meurer und Alexander Koval als Übersetzer der Lyrik, der letztere auch als Eindeutscher der Prosa, im Schutz der Perspektiven begonnen hatten, setzte sich selbständig fort.
Wirkungen der Vermittlerrolle, die die Amerikanische Rundschau und Perspektiven spielten, zeigten sich nicht in den ersten deutschen bzw. deutschsprachigen  G e s c h i c h t e n  d e r  a m e r i k a n i s c h e n  L i t e r a t u r, die nach Kriegsende geschrieben wurden. Für Heinrich Stammlers Amerika im Spiegel seiner Literatur (1949) kam diese Vermittlung zu spät;71 außerdem war sein Buch mehr als literaturgeschichtlicher Abriß denn als ins Einzelne gehende Darstellung geplant. Die ungleich längere Geschichte der amerikanischen Literatur (19521)72 des in Amerika geborenen und ausgebildeten, in der Schweiz beheimatet gewordenen Henry Lüdeke ließ Williams bewußt aus:

… ebenso habe ich darauf verzichtet, ein lückenloses Bild des Schrifttums der Zwischenkriegsjahre 1920–1940 zu unternehmen. Es mußte vielmehr eine Auswahl getroffen werden, die der unvermeidlichen Subjektivität des Interesses und des Geschmacks unterliegt. Der Kenner wird Gestalten wie Scott Fitzgerald, Henry Miller, Glenway Westcott (!), William Carlos Williams, William Rose Benét, Stephen Vincent Benét, Wallace Stevens und John P. Marquand vermissen. Aber die Hauptzüge der Literatur bis zum Jahre 1940, mit welchem unsere Betrachtung schließt, dürften wohl durch den Ausfall nicht verschoben worden sein.73

Als dagegen Schirmer zwei Jahre später die zweite Auflage seiner Geschichte der englischen Literatur (1937) zur Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur (1954) erweiterte,74 vergaß er weder jenes Gruppenbild noch jene Momentaufnahme von 1945, mit denen seine Kurze Geschichte der englischen Literatur das Ende von Williams’ deutscher Frührezeption markiert hatte. Das Gruppenbild veränderte sich in seinen Personen; aus dem Triptychon Bodenheim – Williams – Kreymborg wurde ein Kreis mit Pound als Mittelpunkt:

Zum Freundeskreis von Ezra Pound gehört, seit ihrer gemeinsamen Studienzeit in Philadelphia, William Carlos Williams.75

Zur Paarbildung vereinfacht – Bentleys Essay war damit 1949 vorangegangen –, sollte die an sich richtigere, aber nicht ausreichende „Freundeskreis“-Metapher als stereotype ,Pound-Williams’-Formel in den folgenden Jahren der deutschen Rezeption immer aufs neue auftauchen.
Die Momentaufnahme vergrößerte und dehnte sich unter Schirmers revidierender Hand zu einer detaillierteren, wenn auch immer noch knappen, Schaffenscharakteristik. Sie entdeckte neben dem Lyriker in Williams den Prosaisten, den Kurzgeschichtenerzähler und Autobiographen, sie wurde des Epikers gewahr und bemühte sich um eine treffende Bezeichnung der Eigenart seines Paterson, ein Bemühen, das mit „ein poetisch-soziales Epos unserer Gegenwartswelt“76 verständlicherweise noch nicht voll gelang: Paterson, Book V, das das Gefüge des Ganzen einsichtiger machen sollte, erschien erst ein Jahr später. Doch die „Beeinflussung“ von „Williams’ Kunst durch seinen ärztlichen Beruf“ entging Schirmer schon damals nicht.77 Vor allem aber erkannte er einen wesentlichen literaturgeschichtlichen und zugleich formtypischen Zusammenhang. Der Whitman-Abschnitt formuliert ihn im Vorausblick auf die amerikanische Dichtung des 20. Jahrhunderts dahin:

Whitmans Einfluß, der erst im 20. Jahrhundert ganz fühlbar geworden, ist unabsehbar. Mit den Leaves of Grass, die im Grunde  e i n  großer Gesang an Amerika sind, hat er der jungen amerikanischen Dichtung bis auf den heutigen Tag – von Hart Crane (The Bridge) und Stephen Vincent Benét bis William Carlos Williams – ihr eigenstes Thema gegeben.78

Die thematische Tradition ist ebenso klar erfaßt wie die formtypische, die Kontinuität des ,long poem‘. So ist die eigene Williams-Rezeption der deutschen Literaturwissenschaft auf dem Wege, die eingedeutschten Leistungen der amerikanischen Rezeption – Bentleys, Laughlins, Jarrells – wettzumachen und durch vertiefte literaturgeschichtliche Sicht zu ergänzen.
Beides, das ,Aufholen‘ und der geringe Umfang, in dem es geschieht, kennzeichnen auch die eigene deutsche übersetzende Rezeption. Nicht mehr die deutsche Ausgabe einer amerikanischen Zeitschrift für (west- und süd-)europäische Leser, sondern eine von vornherein auf einheimische Voraussetzungen zugeschnittene deutsche Anthologie verschaffte Williams’ Lyrik zum drittenmal Gehör in deutscher Sprache. Kurt Heinrich Hansen, der die kleine Sammlung Gedichte aus der Neuen Welt, Amerikanische Lyrik seit 1910 (1956) herausgab und einleitete,79 bot nicht wie Perspektiven vierzehn Gedichte aus 17 Jahren des Schaffens an, sondern nur ein einziges, „The Ivy Crown“, aus Williams’ kurz zuvor – 1955 – erschienenem Band Journey to Love. Die in Perspektiven nicht zu Wort gekommene Alterslyrik und ihr Experimentieren mit der „triadic line“ werden hier zum erstenmal für die deutsche Sprache gewonnen, wenn auch nicht im „Nachwort“ erläutert:

Romance has no part in it.
aaaaaaaaaaThe business of love is
aaaaaaaaaaaaaaaaacruelty
which,
by our wills,
aaaaaaaaaawe transform
aaaaaaaaaaaaaaaaato live together
.
80

Romantik hat daran keinen Teil.
aaaaaaaaaaaaaaaaaGrausamkeit
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaist das Geschäft der Liebe,
die wir, wenn wir dazu bereit sind,
aaaaaaaaaaaaaaaaaverwandeln,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaum miteinander zu leben.

Das „Nachwort“ erwähnt Williams lediglich im Zusammenhang eines behaupteten Generationsgegensatzes innerhalb der neueren amerikanischen Lyrik:

Auden und seine Anhänger glaubten, in ihren Versen radikaler, aggressiver sein zu müssen als es die Generation der Pound, Eliot, der Jeffers, Conrad Aiken und William C. Williams gewesen war.

Hansens ,Mut zu Williams‘ war 1956 noch keineswegs typisch für deutsche Anthologisten. Eine andere, bekanntere Übersetzungssammlung, die ein Jahr vorher gedruckt worden war, Hans Henneckes Gedichte von Shakespeare bis Ezra Pound (1955),81 hatte unter modernen Amerikanern zwar Robinson, Frost und Stevens, Pound, Jeffers, Seeger und Aiken, Edna St. Vincent Millay, MacLeish, Cummings und Tate berücksichtigt, Pound sogar mit acht Einzelproben, Williams jedoch ausgelassen. Der Mittelpunkt jenes „Freundeskreises“, dem Schirmer ihn zugeordnet hatte, warf einen Schatten, der für deutsche Augen mindestens einen der ,Freunde‘ noch auf einige Zeit schwer erkennbar machen sollte.
Nach Gerhardt, Schirmer und Hansen, ersten, schwachen Anzeichen spontanen deutschen Interesses der Nachkriegszeit, schaltete sich die amerikanische Vermittlung zwischen Williams’ Werk und deutscher Leserschaft ein drittes Mal ein. Diesmal nahm sie nicht die Form amerikanischer Zeitschriften und Verlagsinitiativen an, sondern sie gab sich gemäßigt akademisch: als Vortragsreihe eines amerikanischen Gelehrten „im Nachtprogramm des Senders Freies Berlin“.82 Der – potentielle – Leser wurde also zunächst als Hörer angesprochen. John O. McCormick, damals Professor der amerikanischen Literatur an der Freien Universität Berlin, arbeitete seine Sendefolge noch im gleichen Jahr 1956 in eine kleine Schrift, Amerikanische Lyrik der letzten fünfzig Jahre,83 um. Die drei Gedichte, die er – in Original und Übertragung (von Herta und Walther Killy) – als Beispiele anführte, der Vierzeiler „El Hombre“, das imagistische „Tree and Sky“, vor allem aber „Tract“, das in Sprache und Komik amerikanischste von ihnen, verraten ein Auswahlprinzip, das dem Hansens entgegengesetzt ist: die Lyrik nicht des alten, sondern des jungen Williams, eine Werkstufe, die Perspektiven ebenfalls ausgespart hatten, sollte dem deutschen Leser vorgestellt werden. Alle drei Proben stammen aus Williams’ drittem Sammelband Al Que Quiere! A Book of Poems (1917), dessen spanischem Titel später ein verdeutlichendes „To Him Who Wants It“ hinzugefügt wurde. McCormick ergänzte die bisherige deutsche Williams-Rezeption, die von überseeischer Hilfe lebende und die eigene, noch nach einer zweiten Seite. Indem er das ungewöhnlich lange Epigraph zu „The American Background“ (1934) in deutscher Wiedergabe zitierte und Selected Essays (1954) als seine Quelle nannte.84 öffnete er einen Zugang zum kulturkritischen und -polemischen Essayisten in Williams. „Die Zerstörung von Tenochtitlan“, die Perspektiven aus In the American Grain ausgewählt hatten, hatte immerhin schon auf diese Seite des Gesamtwerkes vorbereitet. Williams, der scharfe Beobachter und eigenwillige kulturpsychologische Deuter der kolonialen Anfänge Amerikas, hier der englischen, dort der spanischen, beginnt sich vor deutschen Augen abzuzeichnen. In einem Punkt knüpft McCormick an Bentleys Essay von 1949, an sein Verständnis für Williams’ Sprache, an:

Er (Williams) widerlegt… die allgemeine europäische und gerade auch deutsche Vorstellung, nach der die amerikanische Sprache ein zweitrangiges, verfälschtes und entstelltes Englisch ist. Williams ist nun der Ansicht, daß die amerikanischen Dichter die amerikanische Sprache nützen sollten, denn sie bietet dem Dichter einen Reichtum, den zu mißachten töricht wäre.85

So wie der amerikanischen Vermittlung von 1952 zwei Jahre später mit Schirmer die deutsche literaturwissenschaftliche Initiative gefolgt war, vollzog sich im ebenfalls zweijährigen Abstand von McCormicks Mittlerschaft der nächste deutsche Schritt auf ein transatlantisches Werkmassiv hin, das allmählich deutlicher, aber auch immer vielschichtiger erschien. Nach den Rundfunkreden eines amerikanischen Gelehrten in Deutschland kam in amüsantem ,tit for tat‘ das Kongreßreferat eines Deutschen in Amerika. Mit Walter Höllerers Bemerkungen über Williams in seinem Referat „Deutsche Lyrik in der Mitte des 20. Jahrhunderts und einige Verbindungslinien zur französischen und englischen Lyrik“86 – einleitend präzisiert zur „französischen, englischen und amerikanischen Lyrik“ – griff von einem Hörsaal der University of North Carolina aus die deutsche Williams-Rezeption auf Amerika über, so wie die amerikanische seit 1948 in die deutsche eingeflossen war. Das Referat, das ein Jahr später gedruckt wurde, sollte in zwei weiteren Publikationen von Höllerer 1959 und 1961 nachklingen. Es bildet den ersten deutschen Beitrag, der von germanistischer Seite, den zweiten, der nach Schirmers kurzem ,Expressionismus‘-Hinweis vom komparatistischen Standpunkt zur geistigen Einbürgerung von Williams beigesteuert worden ist.
Bevor Höllerers Platz in diesem geschichtlichen Prozeß umrissen werden kann, muß man daran erinnern, daß solche spontane Hinwendung eines deutschen Literaturwissenschaftlers zu jenem scheinbar ,more old than grand man‘ der neueren amerikanischen Lyrik 1958 noch keineswegs selbstverständlich war. Dafür gibt es zwei aufschlußreiche Anzeichen aus dem deutschen wissenschaftlichen Leben der kurz voraufgegangenen Zeit. Heinrich Stammlers „Dichter in Amerika“, ein Beitrag eines Kenners amerikanischer Kultur zur Zeitschrift Merkur (1956),87 übersah jüngere Lyriker wie z.B. Theodore Roethke (geb. 1908) durchaus nicht; an Williams ging er, wie sieben Jahre zuvor in seiner kurzgefaßten Literaturgeschichte Amerikas, vorüber. Noch bezeichnender ist, daß Hugo Friedrichs verdienstvolle, vielgelesene Monographie Die Struktur der modernen Lyrik (1956)88 bei aller ihrer Aufgeschlossenheit für Pound und besonders für Eliot, bei ihrem geschichtlichen Verständnis für die Rollen von Emerson und Poe das transatlantische Seitenstück zu dem so häufig herangezogenen Benn nicht gewahrte oder es, falls gewahrt, einer Würdigung nicht für wert hielt. Die schon früher geäußerte Vermutung, Pound und Eliot hätten die deutsche Sicht ihres Landsmannes Williams verdunkelt, bestätigte sich.
Dabei hätte gerade der Eliot der 1950er Jahre seinen akademischen und außerakademischen Verehrern oder mindestens Kennern in Deutschland als Wegweiser ins Arzthaus von Rutherford, N. J., dienen können. Freilich stand dieser Wegweiser an einer wenig bekannten Stelle des großen ,Eliot country‘, in der Rede American Literature and the American Language (1953),89 einer der ,amerikanischsten‘ Äußerungen des längst zum britischen Staatsbürger gewordenen Autors. Eliot sprach in seiner Geburtsstadt St. Louis. also in altem Pioniergebiet des ,Westward Movement‘; es scheint die einleitende Metapher beigesteuert zu haben, als Eliot folgende Ansicht von der amerikanischen und britischen Lyrik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertrat:

I think it is just to say that the pioneers of twentieth century poetry were more conspicuously the Americans than the English, both in number and in quality. … Perhaps the young Americans of that age were less oppressed by the weight of the Victorian tradition, more open to new influences and more ready for experiment,… looking at my own generation, the names that come immediately to mind are those of Ezra Pound, W.C. Williams, Wallace Stevens – and you may take pride in one who is a St. Louisan by birth: Miss Marianne Moore. Even of a somewhat younger generation, the names of Americans come to my mind most readily: Cummings, Hart Crane, Ransom, Tate. … in the last forty years, for the First time, there has been assembled a body of American poetry which has made its total impression in England and in Europe.90

Der niedrige Stand der Williams-Wertung, vielleicht auch der Williams-Kenntnis, der trotz dieses hilfreichen Hinweises von Eliot an Stammlers und Friedrichs Schweigen abzulesen war, kann sich auf einen dritten Zeugen berufen. Seine Aussage hat besonderes Gewicht; sie stammt von einem ausgezeichneten schweizer Beobachter der europäischen, nicht nur der deutschen Rezeption modernen amerikanischen Schrifttums und von einem gründlichen Kenner der Geschichte dieser Rezeption. In „Amerikanische Literatur in Europa. Eine geschmacksgeschichtliche Überlegung“ (1958)91 befragt Heinrich Straumann nicht wie manche andere lediglich Roman und Drama, sondern auch die Lyrik. Die Antwort ist eindeutig:

… es ist Pound, von dem man hört, nicht Wallace Stevens, nicht Robert Frost, nicht Hart Crane, nicht Conrad Aiken… – von den großen Begabungen unter der jüngeren Generation wie Robert Lowell, Theodore Roethke, Kenneth Rexroth, Richard Wilbur, Delmore Schwartz gar nicht zu sprechen. Meines Wissens hat einzig der Italiener Carlo Izzo den mutigen Versuch gemacht, eine umfassende Anthologie modernster amerikanischer Lyrik im Original mit synoptischer Übertragung ins Italienische mit klaren Erläuterungen herauszugeben. Solches sollte auch auf deutschem Sprachgebiet möglich sein. Es wäre ein bedeutsames Korrektiv zu dem, was uns jetzt bekannt ist.92

Diese Feststellung ist in doppelter Hinsicht aufschlußreich; einerseits bestätigt sie die schattenwerfende, ja verdrängende Wirkung, die von der deutschen Pound-Rezeption ausgeht, andererseits hat selbst sie einen „blinden Fleck“:93 Williams.

 

ii. 4. Zweite Phase (Fortsetzung): Annus mirabilis 1959: Wachsende Anzeichen von Williams’ geistiger Gegenwart in Deutschland

Es bedurfte wohl eines – gemessen an Straumann, Friedrich und Stammler – jüngeren Wissenschaftlers, dazu eines, der zugleich Dichter, besonders Lyriker war und der als Mitherausgeber einer literarischen Nachkriegszeitschrift außerdeutsche Entwicklungen kannte, um diesen Gesamteindruck amerikanischer Lyrik auf Europa und mit ihm den Teileindruck von Williams’ Leistung voller zu spüren. Höllerer sieht als kundiger Literaturhistoriker, daß die „Verbindung“ der „modernen deutschen Lyrik… mit der modernen abendländischen“ „weniger durch Übernahme von Motiven“ als „durch gemeinsame Impulse und Bewegkräfte“ „besteht“.94 So erscheint ihm Williams nicht als amerikanischer Beeinflusser deutscher Lyrik, sondern als Parallele zu ihr. Einen ,Einfluß‘ von Williams’ Werk stellt er in der amerikanischen, nicht in der deutschen Lyrik fest:

Die dritte und letzte Konfiguration…, jene fließende und gelöste Bewegung, die sich der einzelnen erstarrten Momente annimmt und sie in größere Zusammenhänge bringt, hat in Deutschland vor allem in Gertrud Kolmar, Ingeborg Bachmann und Paul Celan die weiterführenden Autoren gefunden. Zur gleichen Zeit werden in Amerika die dahinrollenden Verse von William Carlos Williams zu Vorbildern der San-Francisco-Gruppe, und einige Lyriker dieser Gruppe selbst hat diese Rhythmik ergriffen, so Allen Ginsberg mit seinen langen und aggressiven und doch wieder erlösenden Gedichten „Howl“, „Ignu“, „Poem Rocket“.95

Der Chronist der deutschen literaturwissenschaftlichen Williams-Rezeption wird dazu feststellen, daß hier klarer gesehen wurde, wie Williams wirkt, als was er im ganzen ist. „Die dahinrollenden Verse“ – die Bezeichnung ist unscharf – sind nur eine der prosodischen Formen, in denen sich eine der inneren Bewegungen in Williams’ Gedichten vollzieht, „jene fließende und gelöste Bewegung, die sich der einzelnen erstarrten Momente annimmt und sie in größere Zusammenhänge bringt.“ Aber daß überhaupt ein Aufbauprinzip und seine Schallform in Williams’ Dichten erfaßt wurden, ist ein entscheidender Anfangsschritt eigener deutscher Williams-Interpretation. Höllerers offenen Blick für Williams’ Wirkung auf die San Francisco-Gruppe mag Gregory Corsos „Dichter und Gesellschaft in Amerika“, das Akzente im April 1958, knapp fünf Monate vor Höllerers Vortrag in Chapel Bill, N. C., veröffentlicht hatten, gefördert haben.
Der Aufenthalt in Amerika wird Höllerers Interesse und Verständnis für Williams verstärkt haben. Schon das erste Heft des Jahrgangs 1959 der Akzente brachte einen mit W. H. signierten Artikel „Junge amerikanische Literatur“. Daß dies unter der redaktionellen Rubrik „Akzente stellen vor“ geschah, belegt aufs treffendste, für wie unbekannt bei ihren Lesern Akzente den in diesem Aufsatz mitvorgestellten Williams hielten.
Der redaktionelle Essay behält den Blickwinkel von Williams’ Wirkung auf die junge amerikanische Lyrik, den das Kongreßreferat vorgezeichnet hatte, bei; der Aspekt der deutsch-amerikanischen Literaturbeziehungen beharrt ebenfalls; nur tritt zunächst an die Stelle des Vergleichs die Beschreibung eines Kontaktes beider Literaturen:

William Carlos Williams, old man der San Francisco-Gruppe, unterstützte die Bestrebungen der jungen deutschen Lyrik96

vermerkt Höllerer im Rückblick auf Gerhardt und seine Zeitschrift fragmente, die Übertragungen aus Williams’ und anderer amerikanischer Lyrik veröffentlicht hatte. Doch bald kehrt Höllerer zur vergleichenden Methode seines Kongreßberichtes zurück:

Was der 1883 geborene Arzt und Dichter William Carlos Williams aus dem Rhythmus der Großstadt New Jersey (!) der jungen Generation an Einsicht vermittelte: daß die kühle und kühne Ausweitung des Horizonts in den kosmischen Raum eine andere Möglichkeit und Notwendigkeit mit sich bringe: den Menschen nackt, hilfsbedürftig und in neuer kreatürlicher Schönheit zu sehen, jeden Prunks, Titels und jeder gesellschaftlichen Verbrämung bar, das hat seine Parallelen in Vorgängen in Europa.97

Für die hier eingeflossene feierliche Pathetik, die nicht zu Williams paßt, entschädigt die Nebeneinanderstellung von zwei – übersetzten – Strophen aus „Choral: the Pink Church“ (1949) und eines Passus aus Benns Prosa. Die Parallele überzeugt.98
Durch die Übertragung dieser Strophen und ihrer wechselnden, sich der wechselnden Gefühlsbewegung eng anpassenden prosodischen Gestalt war der Zugang zu Williams’ lyrischem Werk weit über die Textbeispiele der Perspektiven-Auswahl von 1952, die nur bis 1938 geführt hatten, genau bis zu dem von Gerhardt 1952 markierten Punkt wieder vorgetrieben. Zum drittenmal war ein Gedicht der Collected Later Poems (1950) erreicht und das literarische Wissen, das Schirmer schon 1954 vermittelt hatte, von der Texterfahrung eingeholt. Freilich mußte sie sich mit der Übersetzung begnügen. Sie reichte aus, um den Leser der beiden letzten Zeilen des zitierten ,Chorals‘

Freude! Freude!
– aus Elysium!

den Nachhall eines deutschen Gedichts, Schillers Gesang „An die Freude“, spüren und die Möglichkeit weiterer deutscher Elemente in der Dichtung dieses amerikanischen Form-Experimentators ahnen zu lassen.
Die interpretierende Leistung dieser redaktionellen ,Vorstellung‘ von W.C. Williams nimmt abschließend die prosodische Analyse dort wieder auf, wo sie der kurze Ausblick des Tagungsberichtes auf „die dahinrollenden Verse“ gelassen hatte. Der form b e s c h r e i b e n d e  Ausgangspunkt von 1958 verbindet sich mit einem form g e s c h ic h t l i c h e n  Gesichtspunkt, wenn Höllerer richtig erkennt:

Die Verse der jungen Amerikaner knüpfen an ,Epiphanien‘ an, wie James Joyce jene Augenblicke genannt hat, die ein Wort, eine Geste, eine Konstellation in die Helle des Bewußtseins rücken und die in dieser Raffung gleichsam den geologischen Aufriß der Wirklichkeit erkennen lassen. Gerade die nichtigen, unbedeutenden Wahrnehmungen der Sinne, Vorstellungen der Phantasie, Wendungen der Sprache lösen sie aus. Im weitbogigen Rhythmus werden sie verbunden zu Langzeilen, oder sie bleiben scharf umrissen, für sich, in prägnanten Kurzgedichten. Diese beiden lyrischen Formen herrschen vor, die eine in der amerikanischen Tradition von Whitman her über Williams, in die die San Francisco Dichter einschwenkten, die andere mehr von den Erfahrungen der Imagisten beeinflußt, dann von Pound und Charles Olson; 99

Der Blick des Germanisten Höllerer für die formale Seite der ,Whitman-Tradition‘ in Williams hat hier 1959 ergänzt, was der Anglist Schirmer für ihre thematische 1954 erkannt hatte. „Die Langzeilen Walt Whitmans“ und Williams’ Praxis tauchen in Höllerers formanalytischen Betrachtungen noch einmal auf, wenn sie die Lyrik der beat generation mit der neueren deutschen vergleichen:

Für uns haben die rhapsodischen Gedichte [der jungen amerikanischen Lyriker] manchmal Anklang an die Menschheitsdämmerungsphase der zwanziger Jahre. Das Pathos ist in der deutschen Lyrik unserer Jahre, durch mancherlei Ereignisse gedämpft und erschüttert, mehr zurückgenommen. Die amerikanische Dichtung, so scheint es, macht jetzt Stadien durch, die die europäische schon durchlaufen hat. Aber es scheint oft nur so. Man muß bedenken, daß Vorgänge wie die Dichtung von Gertrude Stein, Hart Crane, Ezra Pound, E.E. Cummings, W.C. Williams, Charles Olson die Formulierungsmöglichkeit im amerikanischen Gedicht über die Menschheitsdämmerungs-Station hinausgeführt, Dada-Gesten schon einbezogen haben. Ferner: daß im Anfang der modernen amerikanischen Lyrik von vorne herein die Langzeilen Walt Whitmans stehen, im Anfang der modernen deutschen Lyrik aber die meist kürzeren Zeilen eines Holz, Heym, van Hoddis und Lichtenstein.100

Der formgeschichtliche Gesichtspunkt, auch wenn er sich wie hier mit dem vergleichenden verknüpft, hat nicht über die Ansicht des Kongreßreferats hinausgeführt; die prosodische Form von Williams’ Lyrik bleibt für Höllerer durch die Langzeiligkeit bestimmt.
Aufs ganze gesehen, kennzeichnet sich sein Williamsbild durch vier Züge: das Verständnis für mindestens je eine typische kompositionelle und prosodische Form, den Blick für die Whitman-Tradition der einen prosodischen Form, das Interesse an Williams als einem Vorläufer und Freund der beat generation, die Aufmerksamkeit des vergleichenden Literaturwissenschaftlers für Williams’ deutsche Bezüge, seine ,Unterstützung‘ „der jungen deutschen Lyrik“, seine Vergleichbarkeit mit Benn, seine zitatähnliche Verwendung klassischer deutscher Lyrik im amerikanischen Kontext. Was Williams’ Dichtung ist, an sich oder vergleichend betrachtet, wie sie wurde und wie sie wirkt – alle drei Dimensionen literaturwissenschaftlichen Sehens sind in den Williams-Partien von Höllerers redaktionellem Essay grundgelegt worden, mochte er im einzelnen auch, gelegentlich den Teil für das Ganze haltend, durch Vereinfachung irren.
Von den vier Aspekten seines Williamsbildes war der wirkungsgeschichtliche der ,aktuellste‘: ,Williams, Vorbild und Gönner der beats‘ beginnt sich motivhaft durch die deutsche Rezeption zu ziehen, wo sie sich mit der Weitergabe ungeprüfter literarischer ,Information‘ begnügt. So tauchte noch 1959 in Walter Hasenclevers Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband Junge amerikanische Literatur101 Williams’ Name – aber auch nicht mehr – erneut auf, als ein rascher literarischer Fremdenführerblick auf die Ahnengalerie der beats geworfen werden mußte:

Die Beat Generation bekennt sich zum Vorbild anderer literarischer Rebellen: Louis-Ferdinand Céline, Thomas Wolfe, Henry Miller auf dem Gebiet der Prosa, Walt Whitman, William Carlos Williams, Kenneth Rexroth und Kenneth Patchen auf dem Gebiet der Dichtung.102

Schirmers frühes Wort von „Williams’ expressionistischer Gebärde“ und die in ihm enthaltene Vergleichsperspektive fallen einem ein, wenn man den Namensvetter von Deutschlands altem Expressionisten einen Amerikaner jener Generation wie Williams aufzählend nennen hört. Was Walter Hasenclever, so kritisch wie der einstige rebellische Verfasser des Versbandes Der Jüngling (1913), von jenen ,Jünglingen‘ in Übersee dachte, hatte er schon vor seinem Einleitungsessay, im Oktober 1958, ausgesprochen. „Zornig, aber nicht jung“, „Amerikas Beat Generation“ hatte die unmißverständliche Überschrift seines Artikels im Monat gelautet!103
Das Motiv ,Williams und die beats‘ wuchs erst dann über eine bloße literarische Nachrichtenweitergabe hinaus, als Williams’ „Einführung“ zu einem der bekanntesten Gedichtbände der beat generation, zu Allen Ginsbergs Howl and Other Poems, 1959 in deutscher Übersetzung erschien.104 Das war nur drei Jahre nach dem amerikanischen Erstdruck; der Abstand war der bisher kürzeste zwischen Williams’ originalem Prosawort und deutschem Leser. Er erlangte damit seinen ersten Zutritt zum Williams der späten 1950er Jahre; die beiden übersetzten Strophen aus „Choral: the Pink Church“ (1949), die Höllerer in seinem redaktionellen Essay zitiert hatte, sowie Gerhardts und Hansens Übertragungen hatten ihn nur bis an das Ende der vierziger Jahre und frühen fünfziger Jahre geleitet.
In dieser „Einführung“ lernte er nicht das Werk, wohl aber seinen Dichter kennen, dazu in einer für ihn typischen Rolle, als Sprecher für junge Talente. Der Dreiundsiebzigjährige, der einen dreißigjährigen Lyriker aus Rutherfords großstädtischer Umgebung, aus Paterson, vorstellte, stellte sich damit der deutschen literarischen Öffentlichkeit, zumal der jüngeren, unbewußt auch selbst vor. Sie gewann einen Zugang zu Williams, wie sie sich ihn nicht persönlicher, nachdenklicher, verlockender erwarten konnte. Mit Worten, die manchmal an Faulkners Rede bei der Verleihung des Nobelpreises erinnern, Prosaworten, in denen die lyrische Welt von Journey to Love (1955) nachklingt.105 interpretierte, vielmehr rhapsodierte der altersweise Doktor aus New Jersey:

Man mag sagen, was man will, er (Ginsberg) beweist uns, daß trotz der zutiefst erniedrigenden Erfahrungen, die ein Mann im Leben machen kann, der Geist der Liebe überlebt, um unser aller Leben zu steigern, wenn wir den Verstand, den Mut und den Glauben haben – und die Kunst! auszuharren.
Es ist der Glaube an die Dichtkunst, der Hand in Hand mit diesem Mann zu seinem Golgatha gegangen ist, von dieser Schädelstätte zu jener der Juden im letzten Krieg, die dieser in jeder Hinsicht ähnlich ist. Und das in unserem eigenen Land, unserer innigst geliebten Umgebung. Wir sind blind und leben unser blindes Leben in Blindheit zu Ende. Dichter sind verdammt, aber sie sind nicht blind, sie sehen mit den Augen der Engel. Dieser Dichter durchschaut und sieht ringsum die Schrecken, an denen er in den vertraulichsten Stellen seines Gedichts teilhat. Er vermeidet nichts, sondern erfährt es durch und durch. Er enthält es. Beansprucht es als sein Eigentum – und, so glauben wir, lacht darüber und hat die Zeit und die Stirn, einen Gefährten nach seiner Wahl zu lieben und diese Liebe in einem gut gemachten Gedicht zu bezeugen.
Nehmen Sie die Säume Ihrer Gewänder hoch, meine Damen, wir gehen durch die Hölle
.106

Williams’ eigene Auffassung von Dichtung und Dichter, seine ,Poetologie‘, spricht hier so unmittelbar, wie es eine Übersetzung zuläßt, und sie spricht vollständiger, als sie es in den Zitaten von Jarrells übersetzter Rezension und Matthiessens eingedeutschter Portraitskizze hatte tun dürfen.
Wer Ohren hatte, hinter der sarkastischen Schlußbemerkung die Anspielung auf den Dichter des Inferno-Teiles der Divina Commedia wahrzunehmen, hatte nicht falsch gehört. The Selected Letters sprechen wiederholt und gerade auch in Briefen an amerikanische Dichterinnen und Dichter, an Marianne Moore, an Peter Viereck, von Dante.107 Selbst die im Schlußwort angeredeten „Damen“ haben 1951, in Williams’ Autobiography, ihre Seiten- und Gegenstücke in „those beautiful but damned ladies“, die der kleine Junge in Vaters Bibliothek, in „Gustave Dore’s pictures“ zu „the three volumes of the famous illustrated translation of Dante’s Divine Comedy“, so neugierig betrachtet hatte.108
Wirkungsgeschichtlich gesehen, hat „Das Geheul für Carl Solomon“, wie Williams seine „Einführung“ zum gleichnamigen Titelgedicht von Ginsbergs Gedichtband überschrieben hatte, wahrscheinlich viele Leser zu Williams’ Dichtung geführt, mehr als die bisher besten Werber für ihn, die Perspektiven von 1952, McCormicks Rundfunkvorträge und ihre Buchfassung in der „Kleinen Vandenhoeck-Reihe“, Höllerers redaktioneller Essay in den Akzenten. Besonders viele  j u n g e  Leser werden auf den kleinen Band und seine Vorrede angesprochen haben. Immerhin erschien seine zweite Auflage – der Beobachter deutscher Reaktionen auf amerikanische Lyrik wird sagen: „schon“, der Chronist deutschen Verhaltens zu amerikanischen Romanen wird meinen: „erst“ – 1964. Mindestens 20 Presse- und 3 Rundfunk-„Stellungnahmen zu Ginsberg“ sind zwischen Oktober 1959 und Januar 1961 belegt.109 Als Wegweiser zu Ginsberg gedacht, dürfte auf die Dauer Williams, der Wegweiser, anziehender werden als Ginsberg, das gewiesene Ziel.
Die Verdeutschung der „Einführung“ stammte von Rudolf Wittkopf; in die Übertragung der neun Gedichte hatte er sich mit einem jungen amerikanischen Literarhistoriker und Komparatisten österreichischer Herkunft, Wolfgang Fleischmann, geteilt. Fleischmanns Name wird wie der Walter Höllerers, der ein Nachwort, „Zu Allen Ginsbergs Gedichten“, beisteuerte, aber diesmal aus begreiflichen Gründen nicht auch noch auf Williams hinwies, im Fortgang der deutschen Williams-Rezeption bald erneut auftauchen.
Innerhalb der Geschichte dieser Rezeption schließen sich Höllerers Kongreßvortrag und sein redaktioneller Essay, Hasenclevers Vorrede zu seiner Anthologie, Fleischmann-Wittkopfs Übertragung von Ginsbergs Gedichten und Williams’ „Einführung“ zu einer Gruppe zusammen. Verbindend wirkt ein Zug: in ihnen allen trat Williams in ,indirekter Beleuchtung‘ ins deutsche Blickfeld; er zehrte von dem reizvollen Licht, das die Lyrik der beats warf, und dieses Licht war, auch chronologisch, ein ,Rückstrahler‘ (von modernen Rebellen auf einen alten). Hatte Williams für  d e u t s c h e  Augen vor 1958/59 oft im  S c h a t t e n  anderer, eines Pound, eines Eliot, gestanden, so stand er jetzt im  L i c h t  anderer, der beats. Nur für kurze Minuten, für die Dauer eines Vorworts, wurde er der deutschen Leserschaft in seiner  a m e r i k a n i s c h e n  Rolle des mithelfenden literarischen Bühnenbeleuchters sichtbar. In Amerika ist die Rezeption der beats Williams verpflichtet, in Deutschland die Rezeption Williams’ den beats. Nicht was seine Dichtung an sich war, sondern wie sie und ihr Autor sich zur Dichtung anderer verhielten, schien über das Wachstum ihrer eigenen Lebenskraft im Deutschland der ausgehenden 1950er Jahre zu entscheiden.
Der Eindruck ist überwiegend, aber nicht völlig richtig. Das Jahr 1959 bot nämlich außer dem Hauptweg über die beat generation, über ihre literarisch produktive Williams-Aneignung und Williams’ Hilfestellung, noch drei Nebenwege an.
Der erste von ihnen setzte die vertraute, bequeme Straße der ,Rezeption einer – literaturgeschichtlichen oder kritischen – Rezeption‘ fort. Gebahnt hatten sie Michaud, Jarrell, McCormick; jetzt wurde sie an einen superhighway angeschlossen, an Amerikas umfassendste neuere Literaturgeschichte, Literary History of the United States (1948).110 Ihre einbändige Ausgabe von 1953 wurde sechs Jahre später auf deutsch zugänglich.111 Nun ließ sich auch über sie Williams erreichen. Sie hatte für ihn, über vier Kapitel verstreut, vier Haltepunkte übrig. An ihnen gab es vier Gruppenbilder, eine kurze Paaraufnahme und eine Einzelstudie von im ganzen 19 Zeilen zu besehen.
Die beiden ersten Gruppenbilder, aus der Feder erfahrener literarischer Publizisten wie Malcolm Cowley und Henry Seidel Canby, sind die interessantesten; sie lassen den deutschen Leser an etwas für ihn Neuem teilhaben: der literatursoziologisch-vergleichenden Seite der inner-amerikanischen Williams-Rezeption, an ihrem Wissen von den wirtschaftlichen Lebensbedingungen amerikanischer Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So kommt folgende Gruppenbildung zustande:

Andere, die späterhin großes Ansehen genießen sollten, verdienten ihren Lebensunterhalt außerhalb der literarischen Welt; zu ihnen gehörten ein Farmer (Robert Frost), ein sich notdürftig durchschlagender Anwalt (Edgar Lee Masters), ein Vorstadtarzt (William Carlos Williams), ein Bankbuchhalter (T.S. Eliot), ein Versicherungsbeamter (Wallace Stevens), ein berufsmäßiger Schachspieler (Alfred Kreymborg), ein Wanderer, der um Brot Gedichte vorlas (Vachel Lindsay), ein zum Reklameagenten gewordener Farbenfabrikdirektor (Sherwood Anderson), zwei Sekretäre sozialistischer Bürgermeister (Carl Sandburg und Walter Lippmann) und ein Zollamtsangestellter. Letzterer war Edwin Arlington Robinson.112

Auskunftsteilchen, die schon Perspektiven, Schirmer und Höllerer über Williams’ Beruf und Umwelt, nicht immer völlig genau, vermittelt hatten, ordneten sich hier in ein buntes, echtes Mosaik amerikanischen literarischen Lebens ein. An anderer Stelle wird Williams in einer Reihe mit vielen jungen von ,Kleinen Zeitschriften‘ geförderten Talenten erwähnt; diese Auskunft präzisierend, nennt ihn Willard Thorp zusammen mit anderen Autoren des ersten Jahrgangs von Poetry.113 das letzte Kapitel, „Nachtrag in der Jahrhundertmitte“, führt die Sammelausgaben seiner Gedichte und öffentlichen Ehrungen als eines unter mehreren tröstlichen Beispielen für die allmähliche Anerkennung „so privater und objektiver Dichter“ an; das gleiche Kapitel stellt ihn noch einmal, jetzt mit Marianne Moore zusammen, als „Objektivisten“ vor.114 Was für den deutschen Leser solcher Klassifizierungen und Aufzählungen übrig blieb, dürfte das Gefühl gewesen sein, daß notwendiges literaturgeschichtliches Zusammensehen des Einzelnen Williams zum Beleg unter Belegen werden ließ.
Die Hoffnung, nicht nur dieses Exemplarische, sondern gerade auch das Besondere in jenen neunzehn Zeilen der Einzelbetrachtung kennenzulernen, wurde enttäuscht. Ihr Verfasser war F.O. Matthiessen, uns noch erinnerlich als erster, versteckter Wegweiser zum Prosakünstler Williams am Anfang der zweiten Rezeptionsphase; er leitete diesen einzigen Absatz aus der ganzen Literaturgeschichte der Vereinigten Staaten, der Williams gewidmet ist, abermals aufzählend ein:115

Zwei weitere experimentelle Dichter, deren Bedeutung hier lediglich festgestellt werden kann, waren beide Freunde Pounds, als dieser an der Universität von Pennsylvanien studierte. William Carlos Williams… Marianne Moore. …

A u s k ü n f t e  über Herkunft – „gemischte (englisch-französisch-spanisch-jüdische) Abstammung“ –, über Umwelt und deren literarische Folge – „Arzt, in der Hauptsache unter der Arbeiterbevölkerung in Rutherford, New Jersey. Diese Tatsache hatte beträchtlichen Einfluß auf sein Schaffen“ – wiederholten Tatsachen, die der deutschen Williams-Rezeption teils seit Michaud, teils seit Perspektiven, Schirmer und Höllerer geläufig waren. Neu dagegen ist die Härte der Wertung, die in einem Punkt das mildere Urteil Schirmers in die Erinnerung zurückruft. Matthiessen meint:

Viele, vielleicht die meisten seiner Gedichte waren viel zu flüchtig, im Stil der Imagisten, dem er nie ganz entwuchs.116

Doch es fehlte nicht die ausgleichende Feststellung:

… aber wo er am besten war, in „By the road to the contagious hospital“ oder in „The Yachts“, verlieh er der nie versagenden Lebendigkeit seiner Beobachtungen durch das eindrucksvolle Gefüge des Aufbaus besonderes Gewicht.117

„The Yachts“, das schon die Perspektiven von 1952 zur Verdeutschung ausgesucht hatten, erhielt durch Matthiessens Hinweis auf „By the road to the contagious hospital“, das Einleitungsgedicht von Spring and All, 1923, ein verdientes Seitenstück. Doch Williams’ Lyrik der 1940er Jahre blieb genauso wie damals in Laughlins Zeitschrift und McCormicks Sendereihe ungewürdigt.
Wichtiger als solcher ergänzende Hinweis waren Matthiessens Bemerkungen zur Literaturkritik und -theorie des Dichter-Arztes. Die Zitierung seiner Kritik imagistischer Gedichte, „weil ihrer Struktur die Notwendigkeit fehlte“, die Anführung seiner ,Definition‘ des „Klassischen“ als „das voll und ganz vergegenwärtigte Lokale, Worte, die durch einen Ort bestimmt sind“, führten, so knapp sie waren, zu Kernbegriffen von Williams’ Denken;118 sie ergänzten die früheren Auskünfte von Bentley und McCormick. Das an Williams so oft praktizierte vergleichende Sehen der Literaturwissenschaftler betonte, wie zum erstenmal in jener Fußnote von 1948, die Verwandtschaft mit D.H. Lawrence, dessen „Sinnenfreude“ ebenfalls „bald den ihr gemäßen Boden in den schlichtesten Bildern des alltäglichen… Lebens fand.“119
Vieles, was Matthiessen bot, war 1953, als die amerikanische Ausgabe der Literary History of the United States in ihrer einbändigen Ausgabe erschien.120 nicht mehr neu; 1959, im Veröffentlichungsjahr der deutschen Fassung, wirkte es überholt.
Beides lag zu einem guten Teil daran, daß der kurze Absatz von 19 Zeilen auf jene schon erwähnte Rezension zurückging, die Matthiessen bereits 1945 unter dem Titel „Fragmentary and Whole: Williams, Aiken, Tate“ in The New Republic veröffentlicht hatte. An folgenden Stellen ist der Rückgriff – im Gedankengang, z.T. sogar im Wortlaut – besonders deutlich:

The New Republic (1945)

1. Williams’ Verhältnis zum Imagismus

… Williams, voicing once again the poetic faith of an imagist. Tobe sure, he has never been confined to the restricted subject matter of most of the imagists…
He has said that imagism failed because it did not master ,structural necessity,‘121

Literary History of the United States (1948) (– 1953: Ausg. in einem Band – 1959: deren deutsche Übersetzung)

Very responsive at first to the Imagists, he grew to see that their kind of poetry fell short because it lacked „structural necessity.“… Many – perhaps most – of his poems were… in the imagist mode which he never quite outgrew,…122

2. Wertung

… the poet can become so happily absorbed in the immediate concrete details that he mistakes their life for the structure of his poem. Such is the case with most of Williams’ poems in this book. None of them shows the formal invention that made „The Yachts“ or „The Catholic Bells“ into sustained wholes.123

Many – perhaps most of his poems were far too casual,… but at his best, in „By the road to the contagious hospital“ or „The Yachts,“ he reinforced his unfailingly vivid notations by impressive structures.124

3. Themenwahl, Ähnlichkeit mit D.H. Lawrence, ,Dichter-Arzt‘

The best are those [poems] that depend on the intimate knowledge of humanity that Williams has gained as a doctor to working people in an industrial town. Like Lawrence, he has wedged deep into the mingled gentleness and violence of love.125

Williams… was to make his living as a doctor, mainly to the working class in Rutherford, New Jersey. That fact had a considerable effect on his work. … his sensual delight, like Lawrence’s, soon became grounded in the homeliest images of our common life.126

Matthiessen hatte seine Rezension geschrieben, als weder Paterson, Books I–IV (1946–1951), noch The Collected Later Poems (1950) vorlagen. Die reservierte Haltung, die er Mitte der 1940er Jahre gegenüber Williams eingenommen hatte, hatte er 1948, als die zweibändige Ausgabe der Literary History of the United States mit seinem Beitrag erschien, nicht aufgegeben. über die amerikanische einbändige Ausgabe von 1953 und ihre deutsche Übersetzung von 1959 ging sie als halber Anachronismus in die deutsche Williams-Rezeption ein.
Eigenartig bleibt eines: derselbe hervorragende Gelehrte, der in American Renaissance ein offenes Ohr für Whitmans Altersaussage „Ich denke manchmal, die LEAVES sind nur ein Sprachexperiment“ bekundet hatte,127 besaß anscheinend kein Organ für Williams’ Dichtung als Sprachexperiment, das in der Nachfolge von Whitman und in der Auseinandersetzung mit ihm jahrzehntelang durchgeführt wurde.128
So fiel es einem Deutschen, dem Verfasser der vorliegenden Studie, zu, im Spätsommer 1959 diesen sprachexperimentellen Zug im Bilde von Dr. Williams ein wenig zu vertiefen. Bentley, Jarrell, Schirmer, McCormick waren ihm darin vorausgegangen. Wie Höllerers literaturwissenschaftlicher Doppelbeitrag von 1958 und 1959, so durchlief auch dieser sprachwissenschaftliche die kürzere Form des ausländischen Kongreßreferates und die längere des einheimischen Zeitschriftenaufsatzes. „The Overseas Writer and the Literary Language of the Mother Country: American and British English as Viewed by American Writers from Whitman through Wilder“ wurde zuerst auf der Tagung der ,Internationalen Vereinigung für moderne Sprachen und Literaturen‘ in Lüttich geboten und 1960, zum Aufsatz erweitert, im Jahrbuch für Amerikastudien gedruckt.129 Während sich die Kurzfassung auf Williams, Eliot und Wilder beschränkte, nahm die längere Aiken hinzu. Beide Fassungen markierten den Weg, den die Entwicklung des amerikanischen Englisch zur Literatursprache im Denken amerikanischer Autoren seit Whitman zurückgelegt hat. Zwei schon früher angeschlagene Themen der deutschen Auseinandersetzung mit Williams, sein Verhältnis zum amerikanischen Englisch, seine Stellung zu Whitman, waren nunmehr enger miteinander verknüpft als zuvor. Aber den fruchtbaren sprach- und literaturwissenschaftlichen Gedanken

… the early realization that the full corpus of signal syndromes is unavailable to the writer, that writing must somehow compensate for this deficiency, that there are obvious degrees of excellence, indeed artistry, in the selection of such compensatory devices, can well be a bridge to literature. 130

– diesen Gedanken auf Williams anzuwenden und damit einem durchlaufenden doppelten Grundzug seines Schaffens, seinen prosodischen Experimenten und der Sinnlichkeit seiner den Sprechakt begleitenden oder ersetzenden Gebärdenbeschreibungen, näherzukommen,131 hat trotz dieses vorbereitenden Anstoßes von 1959/60 noch keine monographische Darstellung versucht.
Neben solchen literaturgeschichtlichen oder dichtersprachgeschichtlichen Weisen der Annäherung schlug 1959, dieses annus mirabilis der zweiten Rezeptionsphase, einen dritten, literaturkritischen Nebenweg zum wirkungsbestimmten Hauptweg ,Williams via the beats‘ ein. Der ihn ursprünglich gebahnt hatte, war Ezra Pound; die ihn noch einmal bahnte, indem sie ihn auf die deutsche Sprachebene projizierte, war Pounds Übersetzerin Eva Hesse. Den Aufsatz „Dr. Williams’ Position“ hatte Williams’ ältester Dichterfreund 1928 im gemäßigt avantgardistischen Dial veröffentlicht.132 Ein Jahr zuvor hatte Williams den Preis dieser Zeitschrift für das Jahr 1926 empfangen und Marianne Moore, die neue Herausgeberin, den ihr schon lange befreundeten Empfänger im „Announcement“-Artikel und bald darauf im Essay „A Poet of the Quattrocento“ gewürdigt.133 Im gleichen ersten Halbjahresband 1927 war Williams mit acht Gedichten zu Wort gekommen,134 und zu Marianne Moores zwei Würdigungen hatte sich eine dritte gesellt: Kenneth Burkes „William Carlos Williams. The Methods of“.135 Die beiden Halbjahresbände des Jahrgangs 1928 brachten ,Fünf Prosaskizzen‘ und eine Kurzgeschichte, weitere Gedichte und eine Romanbesprechung aus Williams’ Feder.136 Allein in der Novembernummer 1928, die Pounds Aufsatz über ihn enthielt, war Williams mit drei Gedichten und der erwähnten Rezension vertreten; Pounds Essay war die Federzeichnung „William Carlos Williams By Eva Herrmann“ beigefügt.137 „Dr. Williams’ Position“ stand also für die amerikanischen Leser des Dial in einem dichten Netz von Bezügen zu Einzelwerken des kritisierten Autors und zu den drei Kritiken von Marianne Moore und Kenneth Burke. Pound selbst verweist an einer Stelle seines Essays ausdrücklich auf die Juli-Nummer des Dial 1927.138
Aus diesem Kontext löste T.S. Eliot den Aufsatz Pounds heraus und gliederte ihn seinem Auswahlband, Literary Essays of Ezra Pound, 1954 ein, und zwar dem „Part Three: Contemporaries“139 Die neuen Nachbarn des alten Artikels bestehen aus Essays von Pound über Frost, Lawrence und Joyce. Als Eva Hesse ihren Sammelband Ezra Pound: Über Zeitgenossen (1959) für den Verlag der Arche, Zürich zusammenstellte, machte sie zwar eine Anleihe bei Eliots Abschnittstitel „Contemporaries“, wählte aber nur sechs der von Eliot ausgesuchten ,Zeitgenossen‘ aus; die restlichen neun stammten aus einer anderen, aber ebenfalls in London verlegten Sammlung von Pounds Aufsätzen, den Polite Essays (1937). Eva Hesse ordnete ihre übersetzten Proben aus Pounds Essayschaffen nicht sachlich, sondern chronologisch. „Der Ort des Dr. Williams“ kam zwischen „James Joyce und ,Pécuchet‘ [1922]“ und „Harold Monro [1932]“ zu stehen.140
So ergaben sich für Pounds Williams-Essay auf seinem Weg von der New Yorker Zeitschriftenveröffentlichung über den Londoner Sammelband zum Züricher Auswahlband jeweils grundverschiedene Kontexte und mit ihnen auch verschiedene Leserperspektiven. Sie und nicht nur der zeitliche Abstand – über drei Jahrzehnte – trennen die deutsche Übersetzung vom amerikanischen Original.
Mittler zwischen beiden war Eliot. Seine Auswahl von Pounds „Dr. Williams’ Position“ bedingte, mindestens begünstigte Eva Hesses Auswahl des gleichen Textes, seine makabre Präzisierung des Grausamen und der solidarischen Schuld („We…, we…“) aus Anlaß von Pounds anzüglicher, Williams entlastender Feststellung:

None of his [Williams’] immediate forbears burnt witches in Salem…
Note: We didn’t burn them, we hanged them. T.S. E
.141

ging in die deutschsprachige Fassung über. Auf diese Weise konnten auch Menschen des  d e u t s c h e n  Sprachgebiets das doppelte Vergnügen genießen, Williams aus der Sicht Pounds zu betrachten und gleichzeitig Eliot dabei zu erleben, wie er seinem ,Meister‘ über die Schulter schaute. Die beiden weltberühmten Autoren und der immer noch wenig bekannte dichtende Mediziner, dessen ,Ruhm‘ sie so oft im Weg gestanden hatten, waren hier für das deutsche Auge in einmaliger Konstellation zusammengetreten.142 Eva Hesse muß ein sicheres Gefühl für Stand und Entfaltungsmöglichkeiten der deutschen Williams-Rezeption besessen haben, als sie den Käufern ihres Sammelbandes gerade auch diesen so weit zurückliegenden Essay „Der Ort des Dr. Williams“ zumutete. Die Veränderung der Wortstellung im Essaytitel ist symptomatisch. „Dr. Williams’ Position“ bezeichnete „Dr. Williams“ als das weniger Wichtige, weil Bekannte, seine „Position“ dagegen als das Wichtigere, Erkundungswerte; „Der Ort des Dr. Williams“ hält das Gleichgewicht zwischen erkundenswertem Menschen und erkundenswertem Standort; es setzt nicht diesen „Dr. Williams“ als bekannt voraus. Die ,Nachholsituation‘, in der sich die deutsche Williams-Rezeption gegenüber der amerikanischen befand, spiegelte sich also bis in die Syntax einer Titelübersetzung.
Aber diese deutsche Empfangsbereitschaft hatte im selben Jahr 1959 ihre Erfahrung mit solchem ,Nachholen‘ gemacht, als ihr Matthiessens inzwischen veraltete Williams-Portraitskizze von 1948 – mit durchschimmernder Vorstudie von 1945 – angeboten wurde. Würde es sich für die literarische Öffentlichkeit lohnen, ein Zeugnis amerikanischer Reaktionen nachzuholen, das nicht elf bis vierzehn, sondern einunddreißig Jahre zurücklag?
Es lohnt sich tatsächlich, und zwar aus einem  p e r s ö n l i c h e n  und einem sachlichen Grunde. Unter den Franzosen, Deutschen, Amerikanern, Schweizern, die bisher die deutsche Williams-Aufnahme gefördert oder gehemmt hatten, gab es keinen, der so zeitig und so stetig Williams durch Freundschaft, künstlerische Anregung und geistige Auseinandersetzung verbunden gewesen wäre wie Ezra Pound. Gewiß waren am Anfang der zweiten deutschen Rezeptionsphase Laughlin und Jarrell für Williams eingetreten, aber beide sind junge Altersfreunde, nicht wie Pound alte Jugendfreunde. Nicht zufällig trägt A Voyage to Pagany, 1928, „das Buch, das [für Pound] diese allgemeine Erörterung seines Autors veranlaßt“,143 die Widmung „To the first of us all, my old friend Ezra Pound, this book is affectionately dedicated“.
S a c h l i c h  betrachtet, war Pounds Williams-Essay von 1928 selbst noch 1959 für deutsche Leser der erste Führer zu Williams’ musikkritischer Prosa, der erste gründliche Führer zu Williams’ Erzählwerk. Pounds Interpretation und Kritik des Epikers vertieften, was Matthiessens flüchtiger Hinweis (1948) auf In the American Grain und Perspektiven (1952) mit der Übersetzung von „Die Zerstörung von Tenochtitlan“ und „Grabmal eines Lustspiels“ begonnen hatten.
Persönlich, ja stellenweise intim wirken vor allem die einleitende Anekdote aus Williams’ Kindheit und der Ton des ganzen Essay. Hier kamen zum ersten Mal das biographische Leser-Interesse und der Sinn für Komik auf ihre Kosten:

Carlos Williams war von jeher entschlossen, als Amerikaner zu stehen und zu sitzen. Freud würde wahrscheinlich sagen, weil sein Vater Engländer war [genauer: halb Engländer, halb Däne]. Seine Mutter war, wie Ethnologen schon bemerkt haben, eine Mischung französischen und spanischen Bluts;… Er beansprucht, als Amerikaner geboren zu sein, doch vermute ich stark, daß er an Bord eines Schiffes kurz vor Bedloe Island auftauchte. … Sein Vater war im Rum-Handel; die gehaltvollen Säfte Indiens, Hollands, Jamaicas, Danzigs und Curacaos lieferten dem Säugling William seinen materiellen Unterhalt. Spanisch war keine fremde Zunge. 144

Die amüsante Zeichnung der familiären Herkunft und Umwelt dient dem Verständnis einer dichterischen Eigenart:

Von diesem sicheren Herde aus konnte William Carlos das Umliegende überblicken und es als etwas Interessantes, aber Äußeres sehen. …
Man könnte ihm – glücklicherweise – vorhalten, er sei ein aufmerksamer Ausländer, der die amerikanische Vegetation und Landschaft ganz ungeniert als etwas ins Auge faßt, das für ihn zum Anschauen da ist; und seine Gewohnheit des Betrachtens erstreckt sich – ebenfalls glücklicherweise – auch auf die Fauna
.145

Bisher hatte der  V e r s u c h,  d a s  W e r k  b i o g r a p h i s c h  z u  v e r s t e h e n, sich an den Arztberuf des Autors und an die wirtschaftlich-soziale Umwelt seiner Patienten gehalten. Anders als Schirmer und Matthiessen greift Pound auf ein sehr viel früheres Moment zurück, auf Williams’ Aufwachsen als Sohn von Einwanderereltern, einen Faktor, der nach Pounds Meinung ein abstandwahrendes Beobachten der amerikanischen Umwelt ermöglicht. Das ,Objektive‘ der Pflanzen- und Tiergedichte als Folge solchen Sehens wird im obigen Zitat mehr nahegelegt als offen ausgesprochen.
Am Gegenbild dieses „aufmerksamen Ausländers“, dieses Neuamerikaners Williams erkennt Pound sich selbst als engagierten und deshalb ,befangenen‘ Altamerikaner:

Wo ich Schurken und Vandalen sehe, da sieht er ein Schauspiel oder einen unentrinnbaren Naturvorgang. Wo ich nach Blut schreie, da sinnt er nach, und falls das Nachsinnen zu Zorn führt, dann zu einem fast wortlosen Zorn, der vielleicht nur den Stil etwas farbiger macht, aber fast ganz im Bereich der Kunst bleibt; das heißt, er dient der Beschreibung, der Betrachtung, und treibt Williams nicht zu über- oder un-künstlerischer Betätigung.146

War der erste Teil des Essay vorwiegend genetisch, so verfahren die folgenden drei Teile in der Hauptsache  w e r k k r i t i s c h. Teil II prüft die „frühe Prosa“ am Beispiel von (sic) The American Grain, 1925, und der Konzertrezension „George Antheil and the Cantilène Critics“. Beide Prüfungen fallen für Williams sehr schmeichelhaft aus:

Hier war endlich ein Amerika, das mit Ernst und auf eine Weise behandelt wurde, die ein Europäer verstehen konnte. Man möchte behaupten, Williams habe – als Autor – nur eine einzige fixe Idee; er setzt nämlich dort an, wo ein Europäer ansetzen würde, der über Amerika schreiben wollte. 147

heißt es von The American Grain;

Das Hauptanliegen seines Artikels ist dieses, daß kein einziger Kritiker sich auch nur entfernt an eine Analyse gewagt oder auf irgendeine Weise dem Leser mitzuteilen versucht habe, wie die Musik, ihre Mittel und Wege beschaffen waren. Und daß dies in jedem zivilisierten Lande die selbstverständliche Aufgabe der Kritik sei. Dieser Artikel ist vielleicht Williams’ bedeutendster oder jedenfalls treffendster kritischer Aufsatz; 148

lautet das Urteil über „George Antheil“. Beide Wertungen sind nicht Selbstzweck, sondern dienen der Kritik am amerikanischen Literatur- und Musikleben. Mehr und mehr wird Williams in Pounds Händen zur Keule, die der freiwillig im Exil Lebende aus Haßliebe gegen ,sein‘ fernes Amerika, gegen „u n s e r e n  nationalen Geist“, schwingt. Williams selbst wird pfleglich behandelt:

Was ich – … mit dem ganzen Artikel – sagen will, ist dies: wenn sich in Amerika eine schöpferische Tat ereignet, scheint ,keiner‘ zu merken, was vorgeht. In der Musik haben wir Kapellmeister, keine Komponisten; und ähnlich verhält es sich in der Literatur, nur ist der Unterschied weniger deutlich …. Wenn er [Williams] vor 40 Jahren149 ein bißchen Rimbaud machte, so war es dennoch Komposition.150

Trotz solcher Übertreibungen aus Erregtheit wird zum erstenmal die religiöse „Position“ von Dr. Williams klar gesehen, gegen die von Joyce und Eliot abgegrenzt und von Pounds Standpunkt aus gewertet: Da Pound Amerika durchaus als Teil des Abendlandes und damit auch als „nicht frei… von den Irrtümern des nachreformatorischen Europas“ auffaßt, erscheint ihm der Kampf der Weltbilder zu Unrecht auf „die Wahl zwischen Monismus und Dualismus“ eingeengt. Von hier aus bestimmt sich „der Ort des Dr. Williams“ als Gegenposition, als dritte Position, neben denen von Joyce und Eliot:

Joyce argumentiert stundenlang, als sei ein Angriff auf das Christentum ein Angriff auf die römische Kirche zugunsten Luthers oder Calvins oder eines anderen halbgaren Ignoramus und des protestantischen „Konventikels“. Eliot antwortet Babbitt sogar im Druck so, als habe man nur die Wahl zwischen Religionslosigkeit und irgendeiner Form des Christentums oder des Monotheismus, und als ob Monismus oder Monotheismus mehr seien als eine allgemeine Hypothese für gewisse sehr bequeme Gemüter, die zu schwach sind, eine Ungewißheit zu ertragen oder in „Ungewißheit“ auszuhalten.
Und noch einmal: aus solchen Gründen ist William Williams
(Pounds dritte ,Spielart‘ im ,Spiel‘ mit den drei Namen seines Freundes) mit seiner – sagen wir – mediterranen Ausrüstung für seine zeitgenössische intellektuelle Umgebung von Bedeutung.151

Verrieten schon frühere Abschnitte von Pounds Gedanken- und Gefühlsgang, daß ein ,Amerikaner in Europa‘, ein expatriate, Williams’ „Ort“ zu fixieren sucht, so dürfte das spezifisch „mediterrane“ Merkmal dieses „Ortes“ nicht zufällig ein Beiprodukt von Pounds Beobachterstandpunkt, Rapallo, sein.
Erst nachdem er Williams unter dem Blickwinkel des religiösen Weltbildes betrachtet hat, rückt er ihn unter den näherliegenden der literarischen Form. Wie vorher Pounds Interpretieren und Werten mit Begriffspaaren kontrastierender, ergänzender oder sich überschneidender Art arbeitete, mit „Amerika“ und „Europa“, „Kapellmeister“ und „Komponist“, so verwendet es jetzt das Paar „,Form‘“ und „Struktur“ (die Übersetzerin hätte besser Pounds „texture“ mit „Textur“ wiedergegeben, um einen inzwischen weitverbreiteten Terminus der amerikanischen Literaturkritik beizubehalten und ihn gegen den schillernden Terminus „Struktur“ abzusetzen). Der Einwand der Kritiker, „sein (Williams’) Werk ist ,oft formlos‘“, wird hingenommen, aber dann – mehr brillant als überzeugend – ebenfalls gegen „sehr bedeutende Brocken der Weltliteratur“ erhoben.152 Williams, der kurz vorher in der illustren Gesellschaft von Joyce und Eliot erschien, wird jetzt unter höchst illustre Formsünder versetzt – von Homers Ilias und Äschylus’ Prometheus über Montaigne, Rabelais, Lope de Vega bis zu Flauberts Bouvard et Pécuchet –, mit dem Ergebnis:

Was aber diese großen Werke haben und was zu ihrer Größe unweigerlich gehört, ist Form im Kleinen, ist Struktur [„texture“]; und darüber verfügt Dr. Williams in den besten und immer häufiger werdenden Stellen seiner Schriften ohne Zweifel.153

Ob dieses Urteil nur für die „frühe Prosa“ – die „Improvisationen“ Kora in Hell (1920), den travestiehaften154 Kurzroman The Great American Novel (1923) und die gleichzeitigen Essays155 – gelten oder den ersten größeren Roman, A Voyage to Pagany, 1928, einschließen soll, bleibt fraglich. Jedenfalls setzten sich lediglich Teil III und IV von Pounds Williams-Aufsatz mit dem Roman  e x p l i z i t  auseinander.
Wie Williams’ religiöser „Ort“, so wurde auch seine erzählkünstlerische als dritte Position gegen zwei andere amerikanische abgegrenzt. Der Autor von A Voyage to Pagany wird gegen „die Nachfolger Zolas oder die Nachrealisten“ und gegen „die parfümierten Schriftsteller“ abgehoben: Den einen fehle Vielschichtigkeit – sie „behandeln so simple Gegenstände, Menschentypen usw.“ –, den anderen „Frische“. Daß „ein Unterschied der Art zwischen ihm“ und den beiden Gegentypen bestehe, wird behauptet, aber nicht durch Interpretation erwiesen.156 Die Wertung, eine Haltung des „Zwar“ und „Aber“, verfährt ebenfalls nur behauptend und greift über A Voyage to Pagany auf die vorausliegende Prosa zurück:

Wenn man nun Williams liest – sagen wir, sein neuestes Buch, A Voyage to Pagany, oder fast alles andere, was er geschrieben hat –, dann empfindet man oft: falsch. Ich meine nicht, daß die Vorstellung falsch sei, sondern: es ist falsch, das so zu schreiben; das sollte er nicht sagen. Aber immer bleibt ein Rest von Wirkung. Immer unterscheidet sich sein Werk von Prosa, die man einfach hoffnungslos und im strengen Sinne unheilbar findet.157

Erst Teil IV von Pounds Essay untermauert die Wertung stärker mit  I n t e r p r e t a t i o n. Das Aufbaumuster der „,Reise‘“, die Nähe zu „einem schlichten autobiographischen Reisebericht“, die Beeinflussung durch Joyces Ulysses, die schon in The Great American Novel zu spüren war, werden an A Voyage to Pagany klar herausgestellt. Pounds Talent, Dichtwerke vergleichend zu sehen, wird diesmal nicht übermäßig strapaziert, wenn er erkennt:

Im Gegenstand oder Problem berührt sich Pagany mit dem Jamesschen Problem „USA: Europa“, der zwischenstaatlichen Beziehung usw.; die besondere Gleichung des Wiener Milieus hat jüngst Joseph Bards „Schiffbruch in Europa“ „vom anderen Ende her“ behandelt. 158

Wo Pound  w e r t e t, „bleibt“ nach seiner ,Vermutung‘ The American Grain für den europäischen Leser das interessanteste von Dr. Williams’ Büchern. Dieser Ansicht hat die Auswahl, die James Laughlin 1952 für das europäische Lesepublikum seiner Perspectives bzw. Perspektiven traf, recht gegeben. Aber in beiden Fällen lag die Wertung in den Händen von Amerikanern, nicht von Europäern. Pound hat einen guten Blick für Schwächen und Stärken von Williams’ erstem ausgewachsenem Roman, für die Darstellung von personifizierten Standpunkten statt von Personen mit Standpunkten, für „ die harte Klarheit der medizinischen Kapitel“.159

Als abschließender Teil vollzieht dieser Teil IV zu solcher Konzentration auf A Voyage to Pagany, dem Anlaß des ganzen Essay, die gegenläufige, ergänzende Denkbewegung: Pound setzt rückblickend zu einem Urteil über das gesamte Werk von 1913 bis 1928 an:

In allen angeführten Büchern – The Tempers, … 1913; Al Que Quiere, 1917; Kora in Hell, … 1920; Sour Grapes, … 1921; The Great American Novel, 1923; The American Grain, … 1925; A Voyage to Pagany, … 1928 – sind die besten Seiten jene – so mindestens scheint es dem Rezensenten –, wo sich Williams am wenigsten angestrengt hat, irgend etwas in die Form einer Geschichte, eines Buches oder (in The American Grain) eines Essays zu pressen.160

Der Lyriker Pound hat keine innere Nähe zum Epiker in Williams. Daher rühmt er an ihm, was nicht-episch, d.h. im Grunde, was lyrisch und damit ihm, Pound, am zugänglichsten ist. In dem – von Pounds Standpunkt aus nur eingebildeten – ,Amerikaner‘ Williams hatte er geglaubt, den wirklichen ,Europäer‘ entdeckt zu haben (Teil II); jetzt (Teil IV) meinte er, im Epiker Williams den eigentlichen Lyriker zu erkennen.

… oder ob Williams selber nicht dort sein Bestes gebe, wo er zwar das Interesse an den unmittelbaren oder den versteckten Wurzeln des Bewußtseins der Leute, denen er begegnet, wachhält, aber seine Aussagen auf die Darstellung ihrer objektiven Äußerungen beschränkt. 161

um diese „Frage“ am Schluß des Essay im Sinne von Pound zu beantworten, braucht man nur zurückzuhören auf einige unserer Zitate: „es (das Umliegende) als etwas Interessantes, aber Äußeres sehen“, „etwas…, das für ihn zum Anschauen da ist“, „die harte Klarheit der medizinischen Kapitel“. Dann weiß man bündig, daß in Pounds Bild des alten Universitätsfreundes die ,anschauende‘ Dichterbegabung, der ,Objektivist‘ der Sinnenwelt, im Mittelpunkt steht.
Nach Jarrells übersetzter Besprechung der ,Gesammelten früheren‘ und ,Gesammelten späteren Gedichte‘ bildete Pounds umfangreicher, sich nur bedächtiger Analyse öffnender Essay den zweiten ausschließlich Williams gewidmeten Beitrag zu seiner deutschen Aneignung. Durch seinen Verlagsort Zürich zeigte er die – nach Lüdeke und Straumann – dritte Reaktion, die erste positive, aus dem Schweizer Bereich des deutschen Sprachraums an. Dem deutschen Leser war ein gar nicht so amerikanischer, eigentlich europäischer Williams angeboten, dem Kenner der ,Neuen Sachlichkeit‘ ein lyrisches Seitenstück aus Übersee. Der Gegensatz zu Bentleys, Laughlins und McCormicks ,nativistischem‘ Williams war augenscheinlich. Abermals dank den Übersetzern zum nachdenklichen Zuschauen eingeladen, hatte dieser Leser Einblick in eine Grundspannung innerhalb der amerikanischen Williams-Rezeption gewonnen.
Eine Rezeptionsgeschichte sollte auch an dem Wandel der äußeren, verlegerischen und auktorialen, Einbürgerungshilfen für einen ausländischen Dichtergast nicht vorübergehen. Nach dem kurzen Passus in den Literaturgeschichten, nach der Fußnote in der Literaturgeschichte einer Epoche, nach dem Zeitschriften- und Paperback-Essay, nach der kleinen Gedichtanthologie, dem Rundfunkvortrag und dem Kongreßreferat hatte Williams endlich – dank der „Sammlung Horizont im Verlag der Arche Zürich“ – eine Heimstatt im festen, ausgewachsenen Buch gefunden. Freilich war sie noch kein Eigenheim, sondern ein Gastzimmer im Geisteshaushalt von Ezra Pound unter dem schützenden Dach eines Auswahlbandes seiner Essays.

 

ii. 5. Zweite Phase (Fortsetzung): Fortdauernder Zugang zu Williams über die beat generation (1960–1961)

Mit seinen insgesamt sechs Anzeichen von Williams’ geistiger Gegenwart in Deutschland hob sich das Jahr 1959 aus dem bisherigen Rezeptionsverlauf deutlich heraus. Von seinen vier Wegen zu Werk und Autor setzten die beiden folgenden Jahre den Hauptweg über die beats und einen der drei Nebenwege, den literaturgeschichtlichen, fort. Dieser Nebenweg gewann an Bedeutung, nicht nur weil er häufiger begangen wurde, sondern weil die Literaturhistoriker, die ihn begingen, – Schirmer, Cunliffe, Kenner – Gelehrte von Rang sind.
Das teilweise nur modische deutsche Interesse an der beat generation führte 1960 zur Übersetzung von Lawrence Liptons The Holy Barbarians (1959).162 Das Buch versprach ,die erste vollständige Geschichte dieser Gruppe durch einen kalifornischen Romanschriftsteller und Lyriker. Selbstzeugnis mit Bildbericht und Reportage verbindend, erschien es eingedeutscht unter dem Titel Die heiligen Barbaren.163
Das 13. Kapitel, das in „die Literatur, Malerei und Musik“ der beats einführt, behält selbstverständlich den von Höllerer und Hasenclever begründeten  w i r k u n g s g e s c h i c h t l i c h e n  Gesichtspunkt – Williams’ Einfluß auf die beat-Richtung der jungen amerikanischen Lyrik – bei. Lipton ergänzt Höllerers Wahrnehmungen formaler Gemeinsamkeiten. Dadurch, daß er aber auch in Weltbild und Schaffensprozeß gemeinsame oder ähnliche Züge entdeckt, erweitert er den Wissensstand der deutschen Rezeption.
Unter wirkungsgeschichtlichem Blickwinkel wird ein übergreifender Vorgang offenbar, der für das Verständnis der beat-Dichtung und des Gesamtwerkes von Williams, vor allem seiner stilgeschichtlichen Wirkung, wesentlich ist: „eine Umwälzung in der literarischen Handhabung der Sprache“,164 die intensive Wiederannäherung der Dichtersprache an die gesprochene Sprache Amerikas. Das schon von deutscher Seite 1959 berührte Thema „The Overseas Writer and the Literary Language of the Mother Country“ radikalisiert sich zum polaren Gegensatz: mündliche Struktur der modernen amerikanischen, schriftliche Struktur der tradierten britischen Dichtersprache. Für die Genealogie dieses ,umwälzenden‘ Vorgangs braucht Lipton Dr. Williams zunächst nur als Namen unter Namen:

Der beste Zugang zur Literatur der Beat Generation führt über das Werk ihrer Vorgänger… Die neuen Dichter werden des weiteren Robinson Jeffers, Hart Crane, William Carlos Williams, Kenneth Rexroth, Kenneth Patchen, Dylan Thomas, Edward Dahlberg, E.E. Cummings, Kenneth Fearing und Louis Zukofsky nennen,165

Die Ahnengalerie – sie schließt hier auch einen Nicht-Amerikaner wie Dylan Thomas und an anderer Stelle viele weitere Ausländer ein – ist schon in ihrem amerikanischen Bestand erheblich länger geworden als bei Hasenclever. Der Behauptung solcher Ahnenschaft folgt Seiten später ein kurzer Beweis. Er stützt sich ausschließlich – und dies hat symptomatischen Wert – auf Williams, auf zwei Strophen aus Paterson (Buch 1, Teil I) einerseits, die „city“-Strophen aus The Venice Poems des beat-Lyrikers Stuart Z. Perkoff andererseits. In diesen wirkungsgeschichtlichen Kontext, der auch seine Überschrift „– Du weißt, es gibt nichts außer in den Dingen–“ Paterson entlehnt hat, öffnet sich zum erstenmal, in übersetzter und in anhangsweise beigegebener originaler Form, ein Zugang zu Williams’ größtem Werk.166 Dies geschieht elf Jahre nach seiner ersten Erwähnung in der Amerikanischen Rundschau, acht Jahre nach dem zweiten Hinweis auf Paterson durch Jarrells Rezension der beiden Gedichtbände, sechs Jahre nach der dritten Wegweisung durch Schirmers Literaturgeschichte.
Der Anspruch, der für Williams und sein Epos erhoben wird, ist beträchtlich. Der Hausarzt aus Rutherford erscheint als „der älteste noch lebende“ ,Vorfahr‘ der Schallform heutiger beat-Dichtung:

„Schon gleich zu Beginn seines langen Gedichtes Paterson hat William Carlos Williams, der älteste noch lebende dieser Vorfahren, den Beat und den Sound angegeben:

Du weißt, es gibt nichts außer in den Dingen –
nichts als die leeren Gesichter der Häuser
und zylindrische Bäume,
gebeugt, verzerrt von Vorurteil und Zufall –
zersplittert, ausgehöhlt, versengt, befleckt, beschmutzt –
verborgen – plötzlich in vollem Licht!…

Ein Mann wie eine Stadt und eine Frau wie eine Blume
– die einander lieben. Zwei Frauen. Drei Frauen.
Zahllose Frauen, jede wie eine Blume.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaAber
nur ein Mann – wie eine Stadt
.167

Den Anspruch, die Prosodie der beat-Lyrik grundgelegt zu haben, unterbaut der Abdruck des Originals besser als die deutsche Übersetzung, besser auch als die trotz äußerlicher Knappheit wortreiche, schwülstige Textauslegung:

Das Wesentliche ist der Gegenstand, gespiegelt im dichterischen Bild. Der Dichter sagt die Wahrheit; er sagt nur, was er weiß, was seine Vision ihm gezeigt hat, und er sagt es frei heraus, voll Kraft – Kraft aus der geheimnisvollen Quelle aller künstlerischen Energie –, sagt es, und hält inne. Es kann eine einzelne Blume sein, eine Wolke, ein Mensch oder eine Stadt. Das Prinzip ist dasselbe. „Du weißt, es gibt nichts außer in den Dingen“.168

Ergiebiger als dieser Interpretationsversuch ist der abschließende Vergleich „Like a Hopper streetscape“,169 der in der deutschen Ausgabe weggelassen ist. Nachdem die deutsche Williams-Aufnahme seit Matthiessens Fußnote mit den amerikanischen Bemühungen bekannt geworden war, sich durch literarische Seitenstücke den Weg zu Williams zu erleichtern, hätte sie aus einer vollständigen Übersetzung von Liptons 13. Kapitel den ersten amerikanischen Ansatz kennengelernt, das Dingliche von Williams’ Sprachkunst durch die Dinglichkeit in den Städtebildern seines Maler-Generationsgefährten Edward Hopper zu erhellen. Es geht aus Liptons „Like a Hopper streetscape“ nicht hervor, ob er sich Williams’ tatsächlicher Malbegabung, seiner zweiten (Künstler-)Natur, bewußt war.
Nach seiner behauptenden und seiner durch Interpretation beweisen wollenden Spielart erlebt das wirkungsgeschichtliche Thema ,Williams und die beats‘ eine dritte Abwandlung: die Voraussage steigenden Ruhmes für drei Vorläufer dieser literarischen Bewegung, unter ihnen an erster Stelle Williams:

In der Lyrik überragen William Carlos Williams, Kenneth Patchen und Kenneth Rexroth, deren Werk sich über drei Jahrzehnte erstreckt, vielleicht bereits Eliot und Pound. Auf jeden Fall ist ihr Idiom natürlicher und ihre Thematik von größerer Relevanz.170

Hier konnte der deutsche Leser beobachten, wie in avantgardistischen Kreisen der amerikanischen Literatur die Rangfolge ,Pound-Eliot-Williams’ in ihr Gegenteil umschlägt.
Innerhalb seiner insgesamt sechs längeren oder kürzeren Bemerkungen über Williams läßt Lipton dieser wirkungsgeschichtlichen Perspektive einen Gesichtspunkt folgen, der stärker vergleichend als kausal ist. Er betrifft einen  w e l t a n s c h a u l i c h e n  und einen  f o r m a l e n  Z u s a m m e n h a n g  zwischen den beats und Williams.
Das Ideal des „Unbeteiligtseins“ (im Original „nonattachment“), dem die zenbuddhistische Richtung der beats anhängt, hört Lipton schon aus folgender Stelle von Williams’ Werk heraus:

„Die Kunst besteht darin, nirgends die Welt zu berühren“, sagt William Carlos Williams.
Laß dich selbst an der Tür stehen, tritt ein, bewundere die Bilder, sprich einige Worte mit dem Hausherrn, stelle seiner Frau ein paar Fragen, hol dich selbst an der Tür wieder ab und lausche, während du Arm in Arm mit dir davongehst, der Symphonie der vergangenen Woche, die Posaunenengel auf den Bänken einer gedrechselten Wolke spielen.
171

Leider erfährt nur der Käufer der Originalausgabe, daß hier aus Williams’ frühem Prosawerk Kora in Hell (1920) zitiert wird.172 In der deutschen Fassung sind die „Notes“ und mit ihnen die Quellenverweise weggefallen. Zum zweitenmal wird der deutsche Leser, ohne es zu merken, mit jenen „Improvisationen“ des jungen Mediziners konfrontiert. Zum erstenmal geschah es, als er 1931 in der deutschen Ausgabe von Michauds Panorama de la littérature américaine contemporaine mit Williams’ Vorsatz „I will write whatever I damn please, and as I damn please“ traktiert wurde. Das Zitat stammte aus dem ,Prolog‘ zu Kora in Hell.
Lipton wird diesem kleinen Buch aus Dr. Williams’ erstem Praxisjahrzehnt wohl nicht vor dem Wiederabdruck durch einen beat begegnet sein. Lawrence Ferlinghetti, Buchhändler in San Francisco und Verleger der City Lights Books, hatte Kora in Hell, ohne den ursprünglichen, aber mit einem neuen Prolog, 1957 in seiner Pocket Books Series zweitveröffentlicht.173 1964 erreichte es seine fünfte Auflage. Wiederum haben sich die beats als lohnender Umweg zu Williams bewährt, zum späten von Paterson, zum frühen von Kora in Hell. Nur ließ man den deutschen Leser von 1960 über den Titel des zitierten Werkes genauso im Dunkel wie den Leser von 1931. Daß es so etwas wie Kora in Hell überhaupt gab, hatte man gerade erst ein Jahr vor der Übersetzung von Liptons The Holy Barbarions erfahren. Die Informationsquelle war die Übersetzung von Pounds Williams-Essay gewesen.
Nicht im Dunkel blieb Liptons neuartige, von kulturanthropologischer Phantasie beflügelte Auffassung des Arztes im Dichter:

Dr. Williams, ein praktischer Arzt, war bereits von Anfang an ein halber Schamane. Jenes Unbeteiligtsein, von dem er spricht, ist dem Arzt von altersher eigen. Es kommt auch dem sehr nahe, was die Buddhisten unter Unbeteiligtsein verstehen.174

Dem geheimen Europäer im Amerikaner Williams, den Pound enthüllt zu haben glaubte, ist hier, für deutsche Augen nur ein Jahr später, der geheime Asiate, Schamane oder Buddhist, gefolgt. Nicht zufällig wurde er von einem Beobachterstandort an der pazifischen, nicht der atlantischen Küste der Vereinigten Staaten ,entdeckt‘. So dicht hintereinander gehen zwei grundverschiedene Züge des facettenreichen Williamsbildes Amerikas in die deutsche Rezeption ein!
Lohnender als solche Konstruktion der vermeintlichen Gemeinsamkeit eines Verhaltensideals ist die Ansicht, die Lipton über die Beziehung von Prosa und Vers in der Praxis der beats und Williams’ entwickelt. Er nimmt hierbei den einleitenden Grundgedanken seines 13. Kapitels, die radikale Annäherung der Dichtersprache an die gesprochene Sprache, wieder auf:

Eine Tendenz ist in den Werken der Prosaschriftsteller – genau wie in den Werken der Lyriker – sehr deutlich zu bemerken: der Hang, Lyrik und Prosa zu verschmelzen. Der freie Vers kann als ein Schritt in diese Richtung betrachtet werden – von der anderen Seite hat ihn James Joyce unternommen. Die orale Revolution gegen die starre gedruckte Sprache wird nie in einer literarischen Form voll zum Ausdruck kommen, die eine scharfe Trennungslinie zwischen Lyrik und Prosa zieht…
… William Carlos Williams wechselt in
Paterson zwischen Lyrik und Prosa hin und her, ohne daß ein Bruch im gedanklichen Zusammenhang entsteht.175

Diese Einsicht in einen strukturbildenden Formzug von Williams’ Epos stellt den wertvollsten Beitrag dar, den Lipton zur deutschen Auseinandersetzung mit der Formensprache des sich allmählich einbürgernden Werkes geleistet hat. Der deutschen Rezeption war die wohl früheste amerikanische Studie zum Verhältnis von Vers und Prosa bei Williams, Ralph Nashs Zeitschriftenartikel „The Use of Prose in Paterson“ (1953), unbekannt geblieben.176

Nicht mehr das Werk, wie es ist, sondern das Werk, wie es wurde, der  S c h a f f e n s p r o z e ß, wird für Lipton zum letzten Band zwischen Williams und den beats. Obwohl er den „Hausarzt“ Williams „für einen halben Schamanen von Anfang an“ gehalten hatte, stellt er jetzt nüchterner fest, und zwar mit einem Unterton der Warnung für süchtige beats:

William Carlos Williams hält offenbar von der Trance und der durch Drogen ausgelösten Halluzination ebensowenig wie Kenneth Patchen, obwohl beide, wie übrigens auch Rexroth, den Wein als auflockerndes, anregendes Mittel gepriesen haben.177

über ein ganzes, langes Kapitel verstreut, hatten Liptons Bemerkungen zum alten Thema ,Williams und die beat-Bewegung‘ erstmals einen Williams aus der Sicht der amerikanischen Westküste ins deutsche Bewußtsein gehoben. Im Rückblick auf Matthiessen von Harvard und Laughlin von Yale, auf McCormick von Minnesota, Harvard und Berlin, auf Pound von Philadelphia, London und Rapallo beginnen sich dank Lipton aus dem kalifornischen Venice West die räumlichen Schattierungen des amerikanischen Rezeptionsverlaufes und seiner Ausstrahlung auf Deutschland abzuzeichnen.
Im Bereich des  l i t e r a r i s c h e n  J o u r n a l i s m u s  wurde Lipton zum besten überseeischen Anreger deutscher Interessen an der beat-Richtung des modernen amerikanischen Schrifttums und damit auch des Interesses an Williams als ihrem ,Ahnherrn‘. Im  l i t e r a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e n  Bezirk blieb diese Anregerrolle in den Händen von Höllerer. Eine amerikanisch-deutsche Gemeinschaftsarbeit, der zweisprachige Auswahlband Junge Amerikanische Lyrik (1961), herausgegeben von Gregory Corso und Walter Höllerer, druckte Höllerers redaktionellen Essay aus Akzente (1959) nur leicht verändert im „Anhang“, als Nachwort, wieder ab.178 Innerhalb der Stellen, die Williams betreffen, beschränken sich die Veränderungen darauf, wirkungsgeschichtliche und formbeschreibende wie formgeschichtliche Einzelheiten schärfer zu fassen. Nachdem zwei Angehörige der beat-Generation im Sommer 1960 als Gäste Höllerers in Berlin gewesen sind und aus ihrer Lyrik gelesen haben, ist damit zu rechnen, daß nicht nur das Hauptmotiv beats, sondern auch das Begleitmotiv ,Verhältnis der beats zu Williams‘ in vielen, nicht mehr erfaßbaren Kanälen, durch Rezension, Diskussion oder ,literary gossip‘, in die deutsche literarische Öffentlichkeit eindrang und sich der Wissensstand von 1960–61 über den von 1959 hier und da hob.
Im speziellen Bereich der Literaturgeschichten und literarischen Lexika lassen sich der Anstieg des Wissens und der Verlauf des Wertens an drei Beispielen verfolgen, an der „dritten neubearbeiteten und erweiterten Auflage“ (1960) des 2. Bandes von Schirmers Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur,179 an der ersten literaturgeschichtlichen Querverbindung zwischen deutscher und englischer Williams-Rezeption, der deutschen Ausgabe (1961) von Marcus Cunliffes The Literature of the United States (1954),180 schließlich an dem Williams-Artikel des kalifornischen Gelehrten Hugh Kenner in (Herders) Lexikon der Weltliteratur im 20. Jahrhundert (1961).181
Schirmers Neuauflage enthält einen präzisierenden Einschub, eine Berichtigung und mehrere bibliographische Korrekturen und Ergänzungen. Der  E i n s c h u b:

In betontem Gegensatz zu Eliot und Pound lehnt er die Hinwendung zur europäischen Kulturüberlieferung ab und sucht nach den Möglichkeiten eines echt amerikanischen Stils. 182

bietet dem deutschen Leser ein ,nativistisches‘ Gegengewicht zu Pounds europäischem Williams in Eva Hesses Auswahlband von 1959; die Haltung des alten Williams zur Antike, besonders „Part Two. Theocritus: Idyl I“ von The Desert Music and Other Poems (1954) und Sappho (1957) werden noch nicht in Rechnung gestellt. Die  B e r i c h t i g u n g  sucht die Wesensart von Paterson, also Williams’ schwerstzufassendem Werk, bündig neuzubestimmen. Man vergleiche:

1954
Sein Paterson (Books I–IV, 1946 bis 50) ist ein poetisch-soziales Epos unserer Gegenwartswelt. …
183

1960
Sein Paterson (Books I–V, 1946–58), so betitelt nach der gleichnamigen Industriestadt in New Jersey, die in ihren sozialen Kontrasten zum Bild der amerikanischen Gegenwartswelt wird, ist eine komplexe Folge episch-lyrischer Impressionen. …184

Die Bibliographie führt das lyrische Schaffen bis zu „The Desert Music a.o. Poems, 1954“, schließt mithin Journey to Love (1955) noch nicht ein. Life along the Passaic River – der Flußname wird jetzt in korrekter Schreibung gegeben – ist aus der literaturgeschichtlichen Darstellung in die bibliographische Fußnote verwiesen; Make Light of It: Collected Stories (1950), sämtliche Romane, In the American Grain und Selected Essays bleiben ausgespart. Dafür wird erstmalig einige Sekundärliteratur berücksichtigt. Jarrells ,Einführung‘ zu Selected Poems of William Carlos Williams wird im Grunde zweimal empfohlen. Der Vermerk „Ders. in: Poetry and the Age, N.Y. 1953“ sollte heißen: „Dasselbe“;185 es handelt sich nämlich um einen Wiederabdruck der ,Einführung‘.
Zu dieser 1960 besten, bündigsten Williams-Skizze einer deutschen, nicht einer eingedeutschten Literaturgeschichte trat 1961 ein aus England importiertes Williamsbild. Im Umfang zwischen Stammlers literaturgeschichtlichem Abriß und der übersetzten dickleibigen Literaturgeschichte der Vereinigten Staaten etwa in der Mitte liegend, hat Marcus Cunliffes handliche Amerikanische Literaturgeschichte (1961) (The Literature of the United States, 1954) unter den nur-amerikanischen, den englischen Zweig nicht mitbehandelnden Literaturgeschichten des deutschen Büchermarktes wohl die weiteste Verbreitung gefunden. Cunliffes Vorstellung von Williams kommt damit eine unleugbare Bedeutung zu.

Eigens für die deutsche Ausgabe wurde ein Schlußkapitel über die Werke und Autoren der letzten Jahre geschrieben.186

Der Abstand von sieben Jahren, der zwischen originaler englischer und übersetzter deutscher Ausgabe liegt, wurde also, anders als bei der Übertragung der Literary History of the United States, zu überbrücken gesucht. Es fragt sich, ob solche Überbrückung auch Cunliffes ursprünglicher Williamssicht von 1954 zugute gekommen ist.
Ähnlich wie sich das Williamsbild der Literaturgeschichte der Vereinigten Staaten aus einem Kernstück sowie einer Reihe von Vor- und Rückverweisen zusammensetzte, besteht Cunliffes Williamssicht aus einem zentralen Feld, dem eigentlichen Portrait, und zahlreichen – darunter einer ziemlich langen – Einzelbeobachtungen.
Eine Vorentscheidung über das Portrait fällt in dem Augenblick, als es Cunliffe im Kapitel 11, „Die neue Lyrik“, aufhängt und nicht, wie im Fall von Ezra Pound, ein zweites Bildnis des Autors im Kapitel 14, „Lyrik und Kritik seit dem ersten Weltkrieg“, unterbringt. Obwohl Cunliffe anstelle des ursprünglichen 15. Kapitels, „Conclusion“, für die deutsche Ausgabe ein neues 15. Kapitel, „Die amerikanische Literatur heute“, schreibt und darin die jüngste Lyrik einschließlich der beats bespricht, ist ihm die – im Deutschland der 1958–1961er Jahre schon rezipierte – Wirkung von Williams auf die Jüngeren nicht zum Problem geworden. Cunliffes Williams schaut rückwärts; er bewegt sich im 11. Kapitel in der Gesellschaft von Robinson, Sandburg, Lindsay, Masters, Frost, Stevens und Pound, von denen Pound allerdings bald ins modernere 14. Kapitel entschwindet. Die Gruppierungsweise ähnelt also der, die Fischer ausgesprochen wie unausgesprochen schon 1929 verwendet hatte.
Innerhalb dieser zeitlichen Zuordnung gliedert Cunliffe, wiederum wie Fischer, regional, setzt aber die Akzente anders. Gegen „Frost und die Lyriker des Mittleren Westens“ werden die „New Yorker Lyriker“ als „urban und kosmopolitisch“ gesetzt:187

Trotzdem hatten sie mit den Künstlern Chicagos einiges gemeinsam; sie fanden verschiedene Lösungen, aber ihre Probleme waren weitgehend dieselben und Harriet Monroes Poetry bot Platz für alle. In der Lyrik William Carlos Williams’ zeigen sich manche dieser Ähnlichkeiten und Unterschiede.188

Die Sicht Williams’ als Ostamerikaners ist für deutsche Augen neu; neu sind auch der detaillierte Vergleich mit Frost und die Auskunft über Stevens’ Kritik an Williams:

„Seine Passion für das Anti-Poetische ist triebhaft.“189

Erst in ihrem Licht begreift man rückblickend McCormicks Deutung der Sprache in Williams’ Gedicht „Tractus“:

… Sie scheint in keiner Weise poetisch, sondern antipoetisch. Und tatsächlich liegt gerade das Antipoetische in Williams’ Absicht.190

Andere Züge, z.B. Cunliffes Interesse am Verhältnis von Dichter und Arzt in Williams oder die Betonung seiner „intimen, liebevollen Menschenkenntnis“,191 sind der deutschen Rezeption seit langem vertraut und erinnern vor allem an jene „intimate knowledge of humanity“, die schon die Vorstudie zu Matthiessens Williams-Portrait, seine Rezension in The New Republic (1945), geschätzt hatte.192 Das Unsentimentale dieser Sympathie wird gegen die gelegentliche Gefühlsseligkeit bei Frost wie Sandburg abgehoben und an zwei originalen Gedichtproben – „The beauty of / the terrible faces / of our nonentities /“ und den Versen auf die Zuschauermenge beim Baseballspiel „It is summer, it is the solstice /“ – vergegenwärtigt.193 Durch die anhangsweise beigegebenen Übertragungen von Werner Peterich erschließt sich ein erster Zugang zu Williams als lyrischem Gestalter der städtischen Massen. Eine weitere Schaffensprobe, die „Gedicht“ überschriebenen acht Kurzverse über die „rote Schub- / karre“, erscheint nach ihrem zweisprachigen Abdruck in Perspektiven (1952) nunmehr zum zweitenmal auf deutsch. Die bündige Interpretation „Es hat die gleißende Unmittelbarkeit kindlichen Schauens; der Aufbau ist kunstvoll unkünstlich“ trifft Wesentliches,194 überhört jedoch das Unkindliche der Gedichtseröffnung mit / so much depends / upon /. Cunliffes Freude an der knappen Formel hatte ihn schon Stevens’ berühmt gewordenes Urteil über Williams zitieren lassen; er hatte allerdings ein kritisches „trotzdem“ angeschlossen. Dort, wo er eine andere, diesmal eine von Williams selbst geprägte Formel anführt: „,Keine Ideen‘… ,außer in Dingen‘“,195 war sie in der englischen Originalausgabe der Literaturgeschichte aktuell; als sie übersetzt erschien, bedeutete sie für die deutsche Rezeption von 1961 nichts mehr an sich Neues, sondern nur noch eine Korrektur der vergröberten Gestalt, in der sie durch Liptons Die heiligen Barbaren bekannt geworden war.
Wo Cunliffe nicht mehr knapp interpretiert, sondern genauso knapp wertet, verfährt er abwägend, im ganzen eher Matthiessen als McCormick ähnlich:

Mit den ersten Teilen zu seinem langen Gedicht Paterson (wie er seine Heimatstadt in New Jersey taufte [sic]), zeigte er sich auf dem Wege zu einer erstaunlich guten Antwort auf das allgemeine amerikanische Dilemma. Spätere Teile haben das Versprechen von Paterson allerdings nicht ganz eingehalten. Williams ist manchmal ungeschickt; er schnappt zu hastig nach Ideen und läuft Gefahr, sich in Manierismen zu zersplittern, denen Frost nie hätte verfallen können. Seine kurzgeschlagenen Zeilen und die Eigenart seiner Diktion sind für einen Nicht-Amerikaner schwer zu verstehen.196

Mit leichtem Lächeln denkt man angesichts dieser „kurzgeschlagenen Zeilen“ an Höllerers umfassenderen Blick für die Kurz-  u n d  Langverse von Williams’ Gesamtdichtung zurück. Der Vers- und Strophenbau des unermüdlichen Experimentators bleibt auch für Cunliffe noch ein weißer Fleck auf der Karte des ,Williams country‘.
Wenn die Amerikanische Literaturgeschichte außerhalb dieser speziellen Abschnitte auf Williams’ Werk zu sprechen kommt, sieht sie es entweder entstehungsgeschichtlich oder vergleichend, doch jedesmal im Rahmen der modernen Lyrik, ihrer Technik, ihres amerikanischen Idioms, ihres Verhältnisses zum Thema ,Amerika und Europa‘.
An der Genese von Williams’ Dichtung interessieren die Einwirkungen von Ezra Pound – hier wird erstmals der literaturgeschichtliche Quellenwert der Autobiography betont – und die Anregungen von Marianne Moore.197 Für das vergleichende Auge dient Williams teils der schärferen Absetzung von Wallace Stevens, teils der Heraushebung von Ähnlichkeiten bei Gertrude Stein und Hart Crane.198
Cunliffe, dreißig Jahre nach Michaud der zweite europäische Literarhistoriker, der den deutschen Rezeptionsverlauf beeinflußt, reagiert als Europäer, wenn er, wie 1960 auch Schirmer, am Anfang des 14. Kapitels, „Lyrik und Kritik seit dem ersten Weltkrieg“, Williams auf sein Verhältnis zu Europa prüft. Er reagiert speziell als britischer Europäer, wenn er meint:

Nur wenige amerikanische Lyriker betonten auch nach dem Krieg noch das spezifisch Amerikanische ihrer Bestrebungen. Zu diesen gehörte in erster Linie Carl Sandburg, aber auch William Carlos Williams. 199

Bei dieser Meinung versteht es sich, daß Cunliffe in Williams’ Schaffen nur den Nachhall eines Vorkriegsstrebens zu hören vermag, eines Strebens, das sein Ziel inzwischen erreicht habe:

Dem [modernen] amerikanischen Dichter ging es zunächst um die authentische Wiedergabe des „amerikanischen Sprachspektrums“. Sich in einem neuen Vokabular auszudrücken und mit neuen technischen Mitteln zu spielen, fand er genauso aufregend wie die ersten realistischen Romanciers.200

Cunliffe wird noch deutlicher und berührt ein Grundproblem der deutschen Williams-Rezeption, auf das Bentley, Laughlin und McCormick auf der einen Seite, Pound auf der anderen verschiedene Antworten gegeben hatten:

Sogar im Jahre 1951 machte der offensichtliche Treuebruch seiner abgewanderten Kollegen Williams noch zu schaffen, denn, wie er in seiner Autobiography meint, die Dichtung der Zurückgebliebenen hatte es schwerer nach Eliots The Waste Land (1922), „mit dem die Lyrik wieder eine Sache von Akademikern wurde“.
Williams ist ein besserer Dichter als Polemiker. Seine Amerika-Europa-Antithese hatte schon in den 20er Jahren an Interesse verloren, aber 1951 war sie endgültig überholt. Sie paßte nicht mehr in die neuen Zusammenhänge…
Die Antithese in der modernen amerikanischen Lyrik lautete eigentlich nicht: Amerika oder Europa, sondern: Neuerung oder Konservatismus – eine verwandte, aber keineswegs identische Alternative
.201

Als diese Ansicht 1961 auch für die deutschen Leser von Cunliffes Literaturgeschichte gedruckt wurde, hatten sie ein Jahr zuvor schon eine andere Stimme, eine kalifornische, gehört, und sie hatte ihnen etwas sehr anderes mitgeteilt:

Eines ist jedenfalls klar: wenn die heiligen Barbaren Einfluß auf die nationale Kultur gewinnen, dann wird die neue amerikanische Literaturtradition, die eben im Entstehen ist, die England-via-New-England-Linie verlassen.202

Es scheint kein Zufall, daß gerade Cunliffe vor der „Gefahr, die Bedeutung der ganzen [beat-]Bewegung zu überschätzen“, warnt, von seinem Standpunkt aus mit Recht. Die Warnung ertönt in dem nur für das deutsche Publikum neubearbeiteten Schlußkapitel seines Buches.203 Das vorausgehende, die englische Fassung von 1954 übersetzende Kapitel hatte erklärt:

Daß sich die amerikanischen Dichter so sehr für die konservative, nicht-amerikanische Überlieferung interessierten, läßt sich weitgehend auf den Einfluß der beiden großen Emigranten, Ezra Pound und T.S. Eliot, zurückführen.204

In diesem Gesamtbild moderner amerikanischer Lyrik steht der Hausarzt aus New Jersey nach wie vor im Schatten der beiden „wandernden Scholaren der modernen Poesie“, und deshalb interessiert seine Wirkung auf die beats nicht. Bentley sah Pound und Williams zusammen, Pound sah Williams sich – Pound – näher, als Williams glaubte, Cunliffe, der Cunliffe von 1954, sah Williams als Pounds von der Zeit überholten Gegenspieler.
Wie die 1959er deutsche Übersetzung von Matthiessens Williamssicht (1948), so kam auch die 1961er von Cunliffes Sicht (1954) zu spät, als daß sie der inzwischen fortgeschrittenen deutschen Rezeption ein noch in allen Zügen zutreffendes Bild hätte vermitteln können. Nicht nur der „älteste noch lebende“ Ahnherr der beats, der Schutzpatron Ginsbergs, sondern selbst der Erzähler, der Essayist, der Theoretiker der Prosodik, vor allem aber der  s p ä t e  Lyriker hatten keinen Platz in The Literature of the United States, aber auch nicht in ihrer teilmodernisierten deutschen Ausgabe gefunden. Doch blieb es Cunliffes Verdienst, so zugespitzt wie nie zuvor Williams als Dichter der – für den britischen Literaturhistoriker bereits überholten – „Amerika-Europa-Antithese“ interpretiert und gewertet zu haben. Zudem war seine Williams-Studie ein kleiner Teil eines großen Ganzen, das er allein geschaffen hatte; Matthiessens Portraitskizze war ein fast ebenso kleiner Teil eines zwar noch größeren Ganzen, zu dem er aber nur zwei Kapitel – über E.A. Poe und über moderne Lyrik – beizusteuern brauchte. Das Risiko des Irrtums und der Unzulänglichkeit war ungleich verteilt.
Wo es um die  W e r t u n g  von Williams’ Werk geht, unterscheidet sich der britische Literaturhistoriker Cunliffe am einschneidendsten von seinem amerikanischen Kollegen Hugh Kenner. Gerade weil dieser geistvolle Monographien über Pound und Eliot verfaßt hat, kommt seinem kurzen Beitrag zu Herders Lexikon der Weltliteratur im 20. Jahrhundert, 1961, besonderes Gewicht zu. Die Ansicht, „W.(illiams) ist der bedeutendste spezifisch amerik(anische) Schriftsteller seit Walt Whitman, doch kein poetischer Nationalist“,205 gibt einer literaturgeschichtlichen Sehweise, die auf deutschem Boden mit Schirmers Blick für Traditionszusammenhang begann, die Wendung von der geschichtlichen Feststellung zum Werturteil. Es meint nicht wie bei Cunliffe nur den Lyriker, sondern auch den „Prosaschriftsteller“, dessen erzählerische, wenn auch nicht essayistische, Leistung schon Schirmer mindestens erwähnt hatte. Kenner bezeichnet Williams’ Selected Essays als „eine Essaysammlung, die den Vergleich mit T.S. Eliots gleichnamigem Werk herausfordert.“206 McCormick und Pound, die einzigen, die bisher diese Seite seines Schaffens berührt und aus seinen Essays zitiert hatten, waren in ihrer Rühmung längst nicht soweit gegangen.
Kenners Formulierung:

… sein Werk kann als ein Bemühen angesehen werden, von der amerik. Sprache eine amerik. Dichtkunst abzuleiten, in der die Worte ohne etymologischen Hintergrund verwandt werden und die Verse Energieeinheiten sind, die ihre Kohärenz einem anderen Prinzip als der Metrik verdanken; nicht die überkommenen Versmaße, sondern der amerikanische Sprachrhythmus ist maßgebend.207

faßt teils zusammen, teils vertieft sie, was die deutsche Williams-Aneignung an stilistischem und prosodischem Verständnis von Bentley, Laughlin, Jarrell und McCormick gelernt oder aus eigener Kraft erarbeitet hatte.
Ähnlich vertieft ist die  D e u t u n g  schon oft mitgeteilter biographischer Tatsachen, von Williams’ langem Leben und Praktizieren in seiner Geburtsstadt:

Sein früher Entschluß, sich in seiner Heimat niederzulassen, liegt auf der gleichen Linie wie seine Ansicht, daß die amerik. Sprache, die eine noch nicht zu vollem Selbstverständnis gelangte Kultur zum Ausdruck bringt, von dem in England gesprochenen Englisch sehr verschieden ist.208

Der „Entschluß“ für die „Heimat“ wird gegen den Hintergrund des Europakenners Williams, gegen „eine lange Reihe bedeutender Amerikaner und Europäer, die zu seinem Freundeskreis zählten“, gegen seine „lange Zeit in Frankreich, England, Deutschland und in der Schweiz“ gestellt, um ihn als echte Entscheidung erscheinen zu lassen.209
Mit seiner Bibliographie, die erstmalig der deutschen Leserschaft (bis 1960 vorliegende) Erzählwerke und mindestens ein Drama (A Dream of Love) nennt, aber merkwürdigerweise Paterson nicht erwähnt und An Early Martyr (and Other Poems) unter „Sonstige Prosa“ versetzt, mit seiner Verbindung von biographischer Wissensvermittlung, Deutung und Wertung auf engstem Raum ist Kenners Williams-Artikel ein Kabinettstück literarischer Lexikographie.
Lipton, Höllerer, Schirmer, Cunliffe, Kenner – die Aufzählung der Namen, mit einem Kalifornier am Anfang und einem Kalifornier am Ende, genügt, um eines sofort zu gewahren: das Übergewicht der „Rezeption einer Rezeption“, ja dank Cunliffe sogar zweier Rezeptionen, ist fast so ausgeprägt wie zu Beginn der zweiten Phase, als Matthiessen und Bentley, Laughlin und Jarrell einer kleinen Gruppe deutscher Übersetzer gegenüberstanden. Auch nach dreizehn Jahren bleibt das deutsche Williamsbild noch immer der angelsächsischen Rezeption verpflichtet. Den Wendepunkt bringt das Jahr 1962. Das Verhältnis von ausländischer Hilfe und eigenem Antrieb verschiebt sich zugunsten der einheimischen Kraft. Die dritte Phase der deutschen Williams-Rezeption beginnt.
Als ihre zweite Phase treten im Rückblick die Jahre 1948–1961 schärfer heraus als zuvor. Untergliedernd wirken drei Einschnittstellen: 1948 als Nachkriegsansatz amerikanischer Auskunftserteilung über das eigene Williamsbild, 1954 als erstes Anzeichen spontanen, fortlaufenden deutschen Wiederbemühens um Kenntnis, Deutung und Wertung, 1959 als frühester Höhepunkt im Zusammenspiel verschiedener deutscher Interessenrichtungen, als Knotenpunkt (1) des Übersetzens von Werk und amerikanischer Werkdeutung wie -wertung, (2) des Verstehenwollens durch Rückgriff auf Williams’ literarhistorischen Traditionszusammenhang und durch Vergleich mit deutscher Lyrik, (3) des Erkennens der inner-amerikanischen Wirkung von Williams’ Dichtung auf das Schaffen der Jüngeren. Den Verlauf der zweiten Rezeptionsphase gliedern also die Abschnitte 1948–1952, 1954–1958, 1959, 1960–1961.

 

iii. Dritte Phase (1962–1965): Einbürgerung
1. Der Übersetzer als Dichter, Anthologist und Kritiker in Personalunion: Hans Magnus Enzensberger

Die dritte, auch heute noch nicht abgeschlossene Spanne der deutschen Williams-Rezeption beginnt mit einer geradezu sinnbildlichen Markierung eines Neubeginns. Er vollzieht sich so öffentlich, daß der Anfang der vorausgehenden Phase, das verschwiegene Eintreten dieses selben Williams durch die Hintertür jener Fußnote von 1948, erst jetzt in seiner vollen Komik empfunden werden kann. Eine große deutsche Wochenzeitung, Die Zeit, bringt in ihrer ersten Nummer des neuen Jahres, am 5. Januar 1962, einen Feuilletonartikel, dessen Überschrift auf viele Leser genauso wenig anheimelnd gewirkt haben dürfte wie das beigegebene Pressephoto des Verfassers. Sie lautete:

Ein Gedicht ist eine Maschine.210 William Carlos Williams, der Lehrmeister der jungen amerikanischen Dichtergeneration.

Auf fünf Spalten verteilt, schloß der Artikel mit der Ankündigung:

Noch in diesem Monat erscheint eine Auswahl der Gedichte von William Carlos Williams, übertragen von Hans Magnus Enzensberger, als Band 76 der Bibliothek Suhrkamp; der vorstehende Essay ist ein Auszug aus dem Nachwort.

„Auszug“ stimmt zwar nicht ganz, aber die Ankündigung trifft das Wesentliche.211 Übertragung und Kritik würden von  e i n e r  Person in einem Band vorgelegt werden, und diese Person war zudem ein bereits anerkannter Lyriker, der für seine Williams-Ausgabe ein günstiges Schaufenster, die Reihe „Bibliothek Suhrkamp“, gefunden hatte. So nimmt jener redaktionelle Nachsatz der Zeit zwei oft in Personalunion verbundene Merkmale vorweg, in denen sich die dritte Aufnahmespanne von der zweiten, freilich nur gradweise, unterscheidet: die wachsende Regsamkeit deutscher Übersetzer, Kritiker und Anthologisten, die engere Fühlung deutscher Dichter mit Williams’ Lyrik. Ein weiteres, sehr viel schwächeres Merkmal, das Aufmerken der Kritiker auf Beziehungen von Williams’ Leben und Werk zu Deutschland, zeichnet sich in der Zeit noch nicht ab; der Vorabdruck läßt den einschlägigen Passus aus Enzensbergers „Nachwort“ aus.212
Neben den neuen Kennzeichen beharren alte: das völlige Schweigen einzelner Literaturhistoriker, die Anziehungskraft der Motive ,Williams, Ahnherr der beats‘, und ,Williams der Dichter-Arzt‘, das lebhafte Interesse der Zeitschrift Akzente.
Mit William Carlos Williams / Gedichte / Amerikanisch und deutsch / Übertragung und Nachwort / von Hans Magnus Enzensberger (1962) schnellt die Kurve der Verdeutschungen von Williams’ Lyrik plötzlich nach oben. Nach Rainer M. Gerhardts frühen, alleingebliebenen Versuchen hatte sie in Perspektiven (1952) – dank Laughlins Auftrag an deutsche Übersetzer – auf mittlerer Höhe wieder eingesetzt. Diesen Stand hielt sie weder in McCormicks Amerikanische Lyrik der letzten fünfzig Jahre und ihren wiederum auf amerikanischen Antrieb zurückgehenden drei Übertragungen noch in Kurt Hansens kleiner Anthologie noch in der deutschen Fassung von Cunliffes The Literature of the United States und ihren drei Textproben. Höllerers Übertragung von Teilen aus Choral: The Pink Church und die übersetzten Zeilen aus Paterson, die der deutschen Ausgabe von Liptons The Holy Barbarians beigegeben waren, dienten lediglich als Zitate.
Allerdings gehört Enzensbergers Band in gewisser Hinsicht noch in den Zusammenhang der vorausgehenden Verdeutschungen. Ihre vorwiegende Veröffentlichungsweise – neben oder vor dem amerikanischen Originaltext – behält er bei, wie sie berücksichtigt er weder Poems (1909) noch die Gedichte nach The Collected Later Poems (1950); Hansens Wiedergabe von „The Ivy Crown“ bleibt mithin auch nach 1962 der einzige Ausgriff in das vers- und strophenkünstlerisch besonders ergiebige lyrische Alterswerk. Außerdem teilt Enzensberger die Neigung seiner Vorgänger zu bestimmten Gedichten. Neun von den vierzehn, die Perspektiven aus den Collected Earlier Poems abgedruckt und übersetzt hatten, übersetzt er erneut;213 ein zehntes war bereits unter McCormicks zweisprachigen Textproben zu finden.214
Wenn sich auch Enzensberger innerhalb der Collected Earlier Poems und der Collected Later Poems bewegt, ist er dennoch der erste, der den jungen Williams der Tempers, den Sechziger von The Wedge und The Clouds und den Verfasser der Gedichtsgruppen „The Rat“, „Incognito“, „14 New Poems“ und „The Rose“ verdolmetscht. An Umfang und Überlegtheit der Auswahl, an Spürsinn für Williams’ Eigenart, an Treffsicherheit der Verdeutschung, an Weite der Wirkung überragt er alle Vorläufer. Für 39 von den knapp 300 der ,Gesammelten früheren Gedichte‘, davon für 29 zum erstenmal, und für 20 von den fast 190 der ,Gesammelten späteren Gedichte‘, für alle 20 ohne Vorgang, gewann der handliche, preiswerte Suhrkampband einen festen Platz in der modernen deutschen Übersetzungsliteratur. Die nüchternen Zahlen geben an, was geschafft und was noch zu schaffen ist, selbst wenn man deutsche Leser nur an den Teil von Williams’ lyrischem Gesamtwerk heranführen will, der bis 1950 reicht.
Schon aus dieser Fülle ist die Auslese bedacht getroffen. Alle großen Gedichtsammlungen, die ihr Verfasser in The Collected Earlier Poems aufgenommen hatte, und selbst zwei kleinere Bestandteile, „Fish. Romance Moderne“ und „Morning. The Crimson Cyclamen“, sind in Gedichte / Amerikanisch und deutsch vertreten. Bei der Auswahl aus The Collected Later Poems hat sich Enzensberger ebenfalls an die beiden großen, ursprünglich selbständigen Sammlungen, The Wedge (1944) und The Clouds (1948), gehalten; aus den hier viel zahlreicheren, insgesamt zehn, kleineren Gruppen von Gedichten, die Williams in Zeitschriften erstveröffentlicht hatte, sind vier vertreten. Eine Auslassung fällt auf: „Choral: the Pink Church“ (1949).
Der Spürsinn des Deutschen Enzensberger für die Eigenart des Amerikaners Williams ließe sich überzeugend nachweisen, wenn man die ausgewählten Gedichte auf ihre stellvertretende Gültigkeit für die Einzelsammlungen und -gruppen der beiden ,Collected Poems‘-Bände befragte und man den Übersetzer bei der Arbeit beobachtete. Diese methodischen Gesichtspunkte verdienten ihre Erprobung in einer Spezialstudie. Hier muß es genügen, auf Enzensbergers Eindeutschung von „To Waken An Old Lady“ und „The Yachts“ als besonders lehrreiche Beispiele seines Verständnisses für Williams, vor allem für seine Bild- und Verskunst, aufmerksam zu machen.
Der Übersetzer hat seiner zweisprachigen Ausgabe ein „Nachwort“ mitgegeben.215 Wie erinnerlich, hat er es der Zeit zu auszugsweisem Vorabdruck überlassen; ferner hat er es in seinem Essayband Einzelheiten (1962) als „William Carlos Williams (1961)“ vollständig wiederabgedruckt216 und im gleichen Band auch außerhalb des Wiederabdrucks Williams zweimal erwähnt.217 Folglich hat man genügend Möglichkeiten, den Williams-Kenner im Übersetzer am Williams-Kenner im Kritiker zu überprüfen. Auch dieses Spezialthema kann in einer Chronik der deutschen Gesamtrezeption lediglich gestreift werden.
Über die besonderen Anforderungen, die der amerikanische Text an den deutschen Übersetzer stellt, hat sich Enzensberger im „Nachwort“ nur einmal, in den anderen zugehörigen Aufsätzen überhaupt nicht ausgelassen. Der Passus des „Nachwortes“ lautet:

Die Gedichte wirken auf den ersten Blick eher unscheinbar. Der Grad von Verdichtung, den sie erreichen, wird erst beim genaueren Zusehen deutlich. Jeder Versuch, Williams zu übersetzen, ist die Probe aufs Exempel. Seine Knappheit ist im Deutschen unerreichbar. Unserer Poesie, ja unserer Literatur überhaupt, ist die Umgangssprache fremd. … der Versuch, der selbstverständlichen Sprache des Alltags habhaft zu werden, wird als Obskurität verstanden.218

Noch bevor die Rezensenten von William Carlos Williams / Gedichte / Amerikanisch und deutsch Stellung nahmen, hatten Höllerer und Fleischmann, also Praktiker des Übersetzens, sich zu einschlägigen Fragen geäußert. Die Schwierigkeiten, die sie gemerkt, und die Maßstäbe, die sie aufgestellt hatten, können zusammen mit Enzensbergers eigener Ansicht dabei helfen, seine Übersetzungsleistung gerecht zu werten. In seinem redaktionellen Essay „Akzente stellen vor: Junge amerikanische Literatur“ (1959) hatte Höllerer erklärt:

Daß die anderen, weniger rhapsodischen „Saiten“ der jungen amerikanischen Literatur gezeigt werden können: die kurzen, gedrängten Gedichte, wird der Anstrengung des Übersetzers noch mehr abverlangen als die oben zitierten Beispiele es taten. Das amerikanische Englisch hat eine Schlagfertigkeit einsilbiger Worte, präziser kühler Satzformulierungen, die ohne Nebengeräusch kaum ins Deutsche herüberzubringen ist. Allzuleicht schwingt in der deutschen Formulierung „der Dinge romantisches Herz“ mit, wo im Amerikanischen die Satzgesten über die Oberfläche gleiten und so eine ,beteiligte Distanz‘ halten. …
Das Deutsche muß einige Anleihen bei der Umgangssprache aufnehmen, um dieser Tonart
(von Robert Creeley’s „The Dishonest Mailmen“) auf die Spur zu kommen.219

Konzentriert sich Höllerer – wie Enzensberger – auf Wortkürze und Sprachebene, dazu auf Ton, so sammelt sich Fleischmann in seiner Miszelle „Translation Problems Related to Rendering the Work of Certain Contemporary American Poets into German“ (1962)220 auf Rhythmus und bildersprachlichen Stil, ferner wiederum auf Ton als Erschwerungen einer angemessenen Eindeutschung. Anders als Höllerer bezieht er Williams’ Lyrik unmittelbar und nicht nur mittelbar ein:

The translator of this verse [of the San Francisco Group], then, is faced with special problems… he must seek to communicate… the violent, jazz-like, flow of language, the brutal image-contrasts, and the almost reportorial conversational tone which characterize the lyrics of the San Francisco Group. For the anticipation of these features in American verse, he may, of course, look back… to William Carlos Williams… but only in part. For… there is a gentleness of tone in Williams’ poetry, even where he uses highly outspoken language, that he has not passed on to those members of the San Francisco Group who acknowledge him as master.221

Von den genannten fünf Schwierigkeiten für deutsche Übersetzer hat Enzensberger die umgangs- und vulgärsprachliche Gebrauchsebene, den Ton und den – wohldosierten – bildersprachlichen Stil seiner amerikanischen Vorlage am besten gemeistert. Wortkürze und Rhythmus, die besonders eng mit dem Bau des amerikanischen Englisch der Gegenwart zusammenhängen und im Deutschen keine unmittelbaren Entsprechungen besitzen, waren auch von einem geübten Lyriker wie Enzensberger nicht oft und, wenn überhaupt, nur um den Preis wortinhaltlicher oder syntaktischer Verzerrung zu erreichen. Für den ,Übersetzer‘ nicht nur ,der San Francisco Lyriker‘,222 sondern auch ihres „Lehrmeisters“223 Williams gilt, was Fleischmann in seiner Miszelle speziell für die Wiedergabe moderner amerikanischer Prosodie in Rechnung gestellt hat:

While themes of private and social protest have been stated in German poetry of the last seventy years (I think here within the framework first of the naturalist, then of the expressionist school), their statement has not been tied to the concomitant development of an experimentalist tradition in prosody, as is the case for French and American verse.224

Obwohl also Enzensberger solche Spezialfragen deutscher Williamsübersetzer im „Nachwort“ und in den übrigen Prosaschriften ingesamt nur einmal berührt, leisten diese Schriften dennoch gute Dienste. Sie helfen nämlich tiefer verstehen, warum er bestimmte Gedichte für seinen Übersetzungsband ausgewählt hat und welche Auffassung er von Williams überhaupt besitzt. Hierin am hilfreichsten ist natürlich das „Nachwort“. In ihm verbinden sich Linien fast aller vorausgehenden, teils aus dem Ausland eingeführten, teils erst in Deutschland entstandenen Williamsbilder mit neuen Zügen aus Enzensbergers eigenem Beobachten, Deuten und Werten.
Seine Ausgangsposition:

Gibt es eine spezifisch amerikanische Poesie? ein dichterisches Idiom, das dem Norden Amerikas eigentümlich und mit dem englischen nicht zu verwechseln wäre?225

bezeugt durch ihre Formulierung als Frage, daß Enzensberger typische Denkgewohnheiten des deutschen, ja des europäischen ,literarisch Gebildeten‘ kennt. Die Antwort:

Der Landarzt William Carlos Williams… hat diese Frage für alle Zukunft entschieden: er ist der Doyen und Erzvater einer Poesie, die sich von der europäischen Abhängigkeit gelöst und über den ganzen Kontinent, von New York bis San Francisco, ausgebreitet hat226

erinnert als literarhistorische Wertung, wenn man ihren kategorischen Ton mildert, an die Standpunkte Bentleys und Laughlins, Schirmers und McCormicks, Liptons und Kenners. Auch das zugehörige literarhistorische Schema zweier gegensätzlicher Lyrikergruppen, der Europanachahmer und der Nativisten, ist der deutschen Williams-Rezeption längst vertraut. Sie ist freilich seit Bentley und Laughlin zu hellhörig geworden, um die Exilamerikaner Pound und Eliot lediglich als europäisierte Kontrastfiguren zum ,Amerikaner‘ Williams hinzunehmen. Ein Urteil wie

Aber auch die bedeutenden Geister [Eliot, Pound], ja gerade sie, waren hypnotisiert von der literarischen Tradition; sie bezahlten ihre literarischen Revolutionen mit dem Verlust ihrer amerikanischen Identität227

scheint, soweit es sich gegen Eliot richtet, beeinflußt von einer langlebigen Verbitterung über ihn, die der  a l t e  Williams immerhin gelegentlich überwand.228 Insofern es Pound betrifft, widerspricht es einem Tatbestand, den Donald M. Allens The New American Poetry 1945–1960 hervorgehoben hat:

Following the practice and precepts of Ezra Pound and William Carlos Williams, it [a large body of work written by these younger poets] has built on their achievements…229

Die alte Praxis der ,deutschen Rezeption der amerikanischen Rezeption‘ fortsetzend, beruft sich Enzensberger gerade auf Allen, wenn er Williams als „Lehrer“ „eine(r) ganze(n) Generation von jungen Dichtern“ bezeichnet.230 Die andere Seite der Medaille, die bei demselben Allen das Bildnis  P o u n d s  zeigt, übergeht Enzensberger ohne Angabe von Gründen.
Die literarhistorische Traditionslinie ,Von Whitman zu Williams‘, die Schirmer in die deutsche Rezeption eingebracht hat, kehrt bei Enzensberger wieder:

Auch Williams hat die Grashalme gelesen, als Student.231

Das nachgesetzte, wohl einschränkend gemeinte ,als Student‘ ist irreführend. Die Auseinandersetzung mit Whitman pflegt selbst noch der 72jährige!232

Wo Enzensberger Williams’ lyrisches Schaffen nicht mehr primär literarhistorisch, aber immer noch genetisch betrachtet, wo es ihm freilich nicht mehr um das Werten, sondern um das Verstehen dieses Schaffens geht, verfährt er ebenfalls traditionell: auch er zieht den ,Arzt‘ und den ,Provinzler‘ in Williams heran. Was Schirmer, Matthiessen und Kenner knapp skizziert hatten, malt Enzensberger, durch Gedichtsproben und Zitate aus The Autobiography of William Carlos Williams veranschaulichend, breiter – und meistens feinfühlig – aus.233 Bei dem etwas strapazierten Gegensatz von Provinz und Weltstadt (Rutherford und New York) sollte man nicht vergessen, daß diese Art ,Provinz‘ – wie Enzensberger in anderem Zusammenhang selbst erwähnt – nur „zehn Meilen“ von Manhattan entfernt lag234 und daß Williams mit den Kliniken einer Großstadt wie Paterson eng verbunden war.
Von einem weiteren, nicht unbedingt genetischen Mittel zum tieferen Erfassen des Werkes, Williams’ Ansicht von Dichtung und Dichter, hatte die vorausgehende Rezeption ziemlich selten Gebrauch gemacht. Michaud, McCormick, gefolgt von Matthiessen, Lipton und Cunliffe, hatten Enzensberger hier und da vorgearbeitet; aber er ist der erste, der Williams’ „Auffassung von der Poesie“ umfassender und zusammenhängender, in „einige(n) Sätze(n)“, „in denen“ sie „mustergültig scharf und deutlich wird“, darlegt.235 Die ,Wissenschaftlichkeit‘ – genauer übersetzt: ,Naturwissenschaftlichkeit‘ – von Williams’ „Methode“ hatte bisher niemand deutschen Lesern nahegebracht.236 Dabei geht Enzensberger durchaus kritisch vor:

Williams, von jeher ein pragmatischer Kopf, hat es nie verstanden, seine Einsichten zu einer Poetik zu verfestigen. Jede ideologische Fixierung ist ihm zutiefst zuwider. Seine theoretischen Äußerungen sind oft widersprüchlich, zuweilen hilflos;237

Warum allerdings Williams’ „A Note on Poetry“ unbeachtet bleibt238 und nicht wenigstens einer seiner vielen Essays zur Sprache, besonders zur Prosodie, der Dichtung analysiert wird, erfährt der Leser des „Nachwortes“ nicht. Mustergültig kritisch und darin über McCormick und Cunliffe hinausführend ist Enzensbergers Stellung zu Wallace Stevens’ gernzitierter Außerung „his (Williams’) passion for the anti-poetic“:239

Daran ist etwas Wahres; doch gründet die Kraft, aus Schutt und Asche Poesie zu machen, nicht in einem programmatischen Vorurteil, oder gar in einem moralischen parti pris. Williams legt es keineswegs darauf an, einem – übrigens recht wohlfeilen – Begriff des Poetischen mit dessen bloßer Negation zu begegnen. Der Abfall ist zunächst weiter nichts als eine empirische Tatsache, und der Dichter begegnet ihm mit jenem unbefangenen, jenem ,ersten Blick‘, der ihm eigen ist.240

Enzensbergers Kommentar macht die Abneigung, die Williams noch im Alter gegen Stevens’ Formel empfand.241 schon erheblich begreiflicher.
Wenn Enzensberger Williams’ Lyrik nicht mehr mithilfe ihrer Entstehungsbedingungen oder der Poetik des Autors zu erfassen sucht, entwickelt er, bewußt oder unbewußt, Ansätze der zweiten Aufnahmespanne weiter. Wie Höllerer verwendet er Joyces Bezeichnung „Epiphanien“, um den „blitzartigen Zugriff“ der „meisten Arbeiten Williams’“ zu benennen und als charakteristisch für moderne Dichtung zu erweisen.242 Wie Jarrell gewahrt er die Wiedergabe des „Detail“ und die „Kunst des Aussparens“ in Williams’ Gedichten.243 Wie Cunliffe nutzt er den werkerhellenden und den lebenbeschreibenden Wert der Autobiography. Cunliffes Einsicht:

Er (Williams) entwickelte eine intime, liebevolle Menschenkenntnis, ohne je gefühlsselig zu werden. Menschen wurden für ihn nie ,Das Volk‘. 244

begegnet sich mit Enzensbergers Wahrnehmung:

Williams hat sich nie für ,die Menschheit‘ interessiert. … Er kümmert sich lieber um die Leute.245

Aber es blieb Enzensberger vorbehalten, diese  I d e e  vom Menschen in  d e r  F o r m  von Williams’ Lyrik, in ihrer Vorliebe für das „Porträt“-Gedicht, wiederzuerkennen.246
An dieser Stelle geht Enzensbergers Wiederentdeckung oder Entfaltung von Einsichten seiner Vorgänger unmerklich in eigene, neue Leistung über. Sie bewährt sich nicht nur wie hier in der Interpretation des Werkes, sondern auch in seiner Wertung und geschichtlichen Einordnung, dazu in der Darstellung seiner – amerikanischen – Wirkung.
Die Kunst des vergleichenden Sehens als Hilfsmittel des Interpreten, eine Kunst, die Enzensberger übrigens schon unter der Perspektive des ,Dichter-Arztes‘ an Williams, Celine und Benn beweist,247 bezeugt sich dort erneut, wo er, wie Lipton in der amerikanischen Originalausgabe von The Holy Barbarions, auf Williams’ malerisch-dichterische Doppelbegabung aufmerksam wird und über Lipton hinaus Ähnlichkeiten mit „ostasiatische(n) Graphiken, besonders in ihrer genauen Ökonomie“ gewahrt248 oder Williams’ Art des „Ding-Gedicht(s)“ gegen die dem deutschen Leser vertrautere des Rilkeschen Ding-Gedichts abhebt.249 Er nimmt darin ein Problem vorweg, das erst jüngste amerikanische Forschung wiederaufgegriffen hat.250
Er dürfte auch der erste sein, der in Williams’ Lyrik „die Zerstörung als durchgängiges Thema“ in allen seinen drei Spielarten, als „Krankheit“, „Alter“ und „Tod“, wahrgenommen hat.251 Williams’ „untrügliches Ohr … für Stimmen“, „seine Fähigkeit, Tonfälle und Gesten dichterisch zu transponieren“,252 zählen zu den feinsten Beobachtungen, die ein Ausländer zur Eigenart eines modernen amerikanischen Dichters machen kann. Um so befremdlicher wirkt es, daß Enzensberger von hier aus nicht zu einer Kennzeichnung von Williams’ lebenslangen prosodischen Experimenten und seinen Versuchen der 1950er Jahre mit der „triadic line“ fortgeschritten ist. Der Gesichtspunkt, Enzensbergers Auswahlband beschäftige sich nur mit Williams’ lyrischer Entwicklung bis 1950, kann diese Auslassung – genauso wie die Auslassung des Spätwerkes überhaupt – nicht entschuldigen; denn gerade das Bemühen, die Lyrik in den Zusammenhang des Gesamtwerkes zu stellen, bildet einen weiteren wesentlichen Teil von Enzensbergers eigenständiger Interpretationsleistung. Aus seiner Feder stammt Deutschlands erste eingehende Analyse von Paterson, zugleich der Versuch, dessen „spezifisch modern[e]“ Form mit der bewährten Hilfe des Vergleichs zu bestimmen:

Das Werk ist am ehesten mit Pounds Cantos, mit Nerudas Großem Gesang, mit Majakowskis Wirbelsäulenflöte und den weittragenden Gedichten von Saint-John Perse, der Anabasis oder den Seemarken, zu vergleichen.253

„Vergleichen“ bezweckt hier nicht Abhebung von Eigenartigem, sondern Einordnung in übergreifende Zusammenhänge.
Die Zusammenhänge, die Enzensberger als erster Deutscher gewahrt oder zu gewahren vermeint, betreffen nicht allein die literarische Form von Paterson, sondern auch die Stellung seines Schöpfers zur amerikanischen Gesellschaft und das Verhältnis seiner Gestaltung des scheiternden Menschen zur „Geschichte der Künste in Amerika“254 Gründlich überlegtes und Geistesblitzartiges lösen einander in Passagen wie der folgenden ab:

Williams ist der geborene Demokrat; die Demokratie ist für ihn weniger eine Überzeugung als ein Lebenselement, zugleich unentbehrlich und selbstverständlich. Das Christentum ist ihm fremd, wie jede Anbetung der Autorität. … Schier unabsichtlich und kaum je politisch in einem handgreiflichen Sinn, reflektiert sein Werk doch auf das Empfindlichste die kollektiven Chocs der amerikanischen Gesellschaft: den Eintritt in die große Weltpolitik, die roaring twenties mit ihren Stummfilm- und Prohibitions-Gespenstern, den großen Boom und die große Krise, den New Deal Roosevelts und die Verdüsterung der Welt durch den Zweiten Krieg und seine Folgen.255

An dieser Stelle glaubt man die eigentümliche Empfangsbereitschaft des damals 32jährigen Enzensberger für Williams, jene Wahlverwandtschaft zwischen dem jungen, an seinem Nachkriegsdeutschland leidenden Autor und dem an seinem Amerika ähnlich leidenden Dichter-Arzt, am tiefsten zu spüren. ,Nonkonformisten‘ und von manchem allzu billig als „Linksintellektuelle“ verschrien sind sie beide, der Geburtshelfer aus dem Vorortgebiet von New York und der deutsche Schriftsteller „auf einer Insel“ vor den Toren Oslos.256

Nicht ausschließlich ein brillantes Apercu ist auch folgende Bemerkung, die Williams’ Erinnerungsbild einer gescheiterten Künstlerin aus seinem deutsch-amerikanischen Bekanntenkreis kommentiert:

Seit Edgar Allan Poe ist die Geschichte der Künste in Amerika – soweit sie sich nicht der Reklame in einer ihrer hundert Formen verschrieben – eine Geschichte der tragischen Untergänge gewesen.257

Hier mag europäische Freude mitschwingen, das ,tragische Amerika‘ entdeckt zu haben, aber sie kann sich auf einen Einheimischen wie Robert Lowell berufen. Sein von Enzensberger angeführtes Urteil über den Aussagewert von Paterson über Amerika enthält nämlich auch das Wort von „Amerika“ als „einem Schauplatz… der Tragödie“.258 So eng liegen selbst noch an dieser Stelle das Neue und das Alte, das Zehren der deutschen von der amerikanischen Williamssicht, in Enzenbergers Vorstellung beisammen.
Seit Jarrells übersetzter Rezension (1952) und Eva Hesses Übertragung (1959) von Pounds „Dr. Williams’ Position“ hatte die deutsche Rezeption kein ihnen gleichwertiges Eindringen in Williams’ Werk und seine literarischen, gesamtkünstlerischen, weltanschaulichen und nationalen Zusammenhänge erlebt. Erst mit Enzensbergers „Nachwort“ ist Vergleichbares erreicht.
Solches geistiges Aufholen zeigt sich schließlich auch darin, daß nunmehr dem literarischen Deutschland eine erste umfassende Skizze der amerikanischen Wirkung des Lyrikers Williams vorgelegt wird. Sie vergißt nicht wie Lipton, Höllerer und Hasenclever über den dichterisch-schöpferischen die kritischen Reaktionen auf ihn. Wo Enzensberger das literarische Ergebnis mit seinen kleinen Ursachen vergleicht, spürt man zwischen den Zeilen zum zweitenmal die innere Nähe des deutschen zum amerikanischen Lyriker, die unausgesprochene Funktion des tröstlichen Vorbildes, die Williams für ihn und andere deutsche Dichter der „Minorität“ übernommen hat:

Die Renaissance der amerikanischen Poesie, der scheinbar plötzliche Ausbruch dichterischer Energien, der in den fünfziger Jahren wahrzunehmen war, läßt sich auf die mühseligen und aussichtslosen Kämpfe einer winzigen Minorität zurückführen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren in Amerika an der Arbeit war.259

Das lyrische Werk, seine Entstehung, sein Aussagewert über Amerika, seine Wirkung, dazu ein kurzer Blick auf das dramatische und erzählerische Schaffen, ein längerer auf Paterson – alles dies war im knappen Rahmen von 28 Seiten Kleinformat geleistet. Was von einem 32jährigen vollbracht war, markierte zugleich das noch zu Vollbringende: die übersetzerische und die kritische Aufnahme der späten Lyrik, die Erforschung und Wertung ihrer Prosodie, das Abtasten des poetischen Gesamtwerkes auf seine schwachen Stellen, die Erkundung von Williams’ Anregungen für Enzensbergers eigenes Schaffen und das seiner deutschen Zeitgenossen.
Auf diese noch offenen Fragen gibt Enzensbergers Prosa außerhalb des „Nachworts“, soweit sie in dem Band Einzelheiten vorliegt, keine Antwort. Vielmehr rückt sie die Einzelgestalt Williams unter einen allgemeinen Gesichtspunkt, den der „Moderne“ in der Lyrik.260 Dabei greift sie teils auf das „Nachwort“ zurück, teils erweitert sie dessen Gedankengang. Im Aufsatz „Der Fall Neruda“ (1955; rev. 1962) dient neben Saint-John Perses Anabase und Pounds Pisan Cantos Williams’ Paterson dazu, „Ehrgeiz, Format und Atem“ von Nerudas Der Große Gesang vergleichbar zu machen,261 so wie umgekehrt im „Nachwort“ Nerudas Dichtung zusammen mit Perses und Pounds Werken – dort richtiger: den ganzen Cantos –, außerdem gemeinsam mit Majakowskis Wirbelsäulenflöte dabei geholfen hatte, die ,spezifische Modernität‘ von Paterson zu erhellen. Im Essay „Weltsprache der modernen Poesie“ (1960; rev. 1962) fungiert Williams nicht nur vergleichend-literaturwissenschaftlich, sondern auch literatur-g e s c h i c h t l i c h. Seine erste gedruckte Gedichtsammlung leistet Datierungsdienste für „eine neue Phase“ im „Prozeß der modernen Poesie“:

Das Jahr 1910 bezeichnet die Schwelle. Eine ganze Kette von literarischen Explosionen hat damals die literarische Öffentlichkeit aller führenden Länder erschüttert. 1908 erschien der erste Gedichtband von Ezra Pound, ein Jahr später kamen die ersten Verse von William Carlos Williams; ebenfalls 1909 publizierte Saint-John Perse die Images à Crusoé, gleichzeitig mit dem Futuristischen Manifest. 1910 trat mit dem Sturm und der Aktion in Deutschland der Expressionismus auf den Plan, in Rußland ließ Chlebnikow, in Alexandria Kavafis seine ersten Gedichte drucken. 1912 folgten Guillaume Apollinaire, Gottfried Benn, Max Jacob und Wladimir Majakowski, ein Jahr später Giuseppe Ungaretti und Boris Pasternak.262

Derselbe Williams, der bei uns bis 1945 Zeit gebraucht hatte, um deutschen (Schirmers) Augen im nationalen Kontext der neuen amerikanischen Lyrik zu erscheinen, begegnet hier, siebzehn Jahre später, im üppig entfalteten „internationalen Kontext“ der „moderne(n) Poesie“.263 Die in Enzensbergers „Nachwort“ nicht sehr gut weggekommene „Literaturgeschichte“ wird allerdings mit verzeihlicher Pedanterie darauf aufmerksam machen dürfen,264 daß der deutsche Kritiker bei der Lektüre der Poems (1909) – wohl als eines Teiles der Complete Collected Poems of William Carlos Williams 1906–1938 (1938) – deren Epigonentum übersehen hat. In die „Kette von literarischen Explosionen“ gehören Poems wirklich nicht, und „die literarische Öffentlichkeit aller führenden Länder“ wurde von ihnen nicht im geringsten „erschüttert“ – wie übrigens Enzensberger im „Nachwort“ mit völlig richtiger Nüchternheit dargelegt hat.265 Aber selbst noch solche Übertreibung des literarhistorischen Periodisierungswertes jener Erstveröffentlichung von „William C. Williams“ gehört zu den Symptomen eines Stimmungs- und Generationswandels der deutschen Williams-Einbürgerung, zu den liebenswürdigen Zeichen einer – noch – jugendlichen Begeisterung, die einen amerikanischen Bahnbrecher der ,lyrischen Moderne‘ spät entdeckt und dann sein Pioniertum zu zeitig beginnen läßt.
Aufs ganze gesehen, haben nicht die beiden zusätzlichen Stellen der Einzelheiten, sondern nur das „Nachwort“ jenes Williamsbild interpretierend erläutert und kritisch begründet, das durch die Auswahl des Übersetzers hindurch den Leser von Enzensbergers zweisprachigem Auswahlband anschaut.266

 

iii. 2. Ausstrahlungen von William Carlos Williams: Gedichte / Amerikanisch und deutsch

Die Wirkung, die von diesem Band, seinem „Nachwort“, dessen Vor- und Nachabdruck und den zwei anderen Aufsätzen des Sammelwerkes  E i n z e l h e i t e n  ausgegangen ist, läßt sich nicht immer in die Wirkung des Übersetzers und die des Kritikers aufteilen; mitunter vollzieht sie sich in den beiden Bezirken der Rezeption zugleich.
Unmittelbar zu greifen ist die Ausstrahlung der Übersetzerleistung am Nachdruck einzelner Gedichte aus Enzensbergers Auswahl. Fünf von ihnen nimmt noch im gleichen Jahr 1962 der schweizer Lyriker Hans Rudolf Hilty in seinen ebenfalls zweisprachigen, in München verlegten Sammelband documenta poetica / englisch / amerikanisch auf.267 Solche ,Auslese aus der Auslese‘ preßt Williams auf das epigrammatische „Breakfast“ aus der Gedichtgruppe „Recent Verse 1938“, auf drei Proben aus dem einst von Matthiessen kritisierten Band The Wedge (1944) – die klassische Gestaltung des Zerstörungsthemas, „Perfection“, das detaillierte, aber ,aussparende‘ Erinnerungsgedicht „The Purists“, das eine ganze kleine Poetik enthaltende „A Sort of a Song“ – und auf „Approach to a City“, ein Beispiel für die Gedichte auf die heimatliche Stadtlandschaft aus dem Zyklus „Incognito“ (ca. 1949?), also im ganzen auf ein Schaffen von knapp 12 Jahren, zusammen. In dieser Auswahl zweiter Hand erkennt man Schwerpunkte, die Enzensbergers „Nachwort“ gesetzt hat. Hiltys „Vorbemerkungen des Herausgebers“ dagegen wenden sich, ohne daß Enzensbergers Name fiele, gegen den Titel des Suhrkampbandes, der Gedichte / Amerikanisch und deutsch ankündigt:

Da heute das Schwergewicht der englischsprachigen Literatur in Amerika liegt, hat man neuestens bei deutschen Übertragungen zu formulieren begonnen: „aus dem Amerikanischen“. Diese Übung ist nicht unbedenklich. Die Angelsachsen selber unterscheiden höchstens zwischen „American English“ und „British English“; daß auch die Sprache der Vereinigten Staaten Englisch ist, bleibt ihnen jedoch so selbstverständlich, wie es den österreichischen Autoren unzweifelhaft ist, daß sie deutsch schreiben. Und insofern sich im „American English“ sprachliche Eigengesetzlichkeiten gegenüber dem „British English“ ablesen lassen, fallen sie für die Lyrik am allerwenigsten ins Gewicht. Die geistigen Wechselbeziehungen waren da immer eine Selbstverständlichkeit. …268

In der Terminologie ist Hilty zuzustimmen, obwohl die besonders von Mencken propagierte Bezeichnung „The American language“ unter den amerikanischen ,Angelsachsen‘ keineswegs selten ist, nicht einmal unter Wissenschaftlern. In der Sache, d.h. hier in der Ansicht, „sprachliche Eigengesetzlichkeiten“ fielen „für die Lyrik am allerwenigsten ins Gewicht“, wäre Hilty zu raten, etwas weniger auf die „geistigen Wechselbeziehungen“, etwas mehr auf die gerade für die Lyrik wichtige Prosodie zu achten. Dann würden ihm die Unterschiede so sehr auffallen wie Williams und unter seinen Interpreten besonders McCormick.269 Die Enzensbergers „Nachwort“ einleitende Frage „Gibt es… ein dichterisches Idiom, das dem Norden Amerikas eigentümlich und mit dem englischen – Enzensberger hätte besser gesagt: britischen – nicht zu verwechseln wäre?“ hatte Hilty also durchaus zum Aufmerken gebracht; beantwortet hat er sie im konservativen Sinn der älteren europäischen Gebildeten. So verschieden  h ö r e n  zwei Lyriker der jungen Generation aus benachbarten Landschaften des gesamtdeutschen Sprachraums – Hilty, 1925 in St. Gallen geboren, ist nur vier Jahre älter als der aus dem Bayerischen Allgäu stammende Enzensberger – die Verse des Amerikaners Williams.
Hiltys Bild von ihm setzt jedoch nicht nur Enzensbergers, sondern auch Höllerers Sicht voraus. Dessen Bemerkung im Nachwort zu Junge Amerikanische Lyrik: „William Carlos Williams, ein Freund der San Francisco Gruppe, unterstützte die Bestrebungen der jungen deutschen Lyrik“ kehrt in Hiltys „Vorbemerkungen“ wieder als „In Amerika wurde zum Beispiel William Carlos Williams…, einer der Väter des modernen Gedichts, zum Fürsprech der neuen deutschen Lyrik“.270 Aus der gleichen Anthologie druckt Hilty Charles Olsons Vorspruch zu seiner Elegie „The Death of Europe“ mit der einen ihrer zwei Anspielungen auf Williams ab.271 Jedoch einerlei ob auf Enzensberger oder auf Höllerer zurückgreifend, Hilty ist in beiden Fällen mehr den Anthologisten als den Kritikern in ihnen verpflichtet. Hinter seiner Ansicht:

… Cummings, Stevens, Williams haben sich mehr als Eliot und Pound als Amerikaner gefühlt und haben auch später nach Europa auszustrahlen begonnen. Heute ist ihr Einfluß lebendig und fruchtbar272

steht die Konvention des Bildes zweier gegensätzlicher Gruppen, eine Konvention, der zwar selbst Enzensberger gehuldigt, die er aber nicht geschaffen hatte. Der Übersetzer in ihm durfte Hiltys Lob jener „treffliche(n) Ausgaben deutscher Sprache…, die in den letzten fünfzehn Jahren entstanden sind“, auch auf sich beziehen.273
Nicht so eindeutig wie Hiltys Auswahl von drei übersetzten Williams-Gedichten läßt sich die Übertragung von zwei seiner  D r a m e n  durch Kurt Heinrich Hansen als Nachwirkung von Enzensbergers Sammelband verstehen. Wie erinnerlich, hat Hansen schon 1956 unabhängig von Enzensberger mindestens ein Gedicht von Williams in seine Anthologie Gedichte aus der Neuen Welt aufgenommen. Mit demselben Mut, mit dem er sich an die Wiedergabe der Alterslyrik herangewagt hat, packt er die Eindeutschung von zwei Stücken aus Many Loves and Other Plays (1961) an. Er wählt das Titelwerk „Many Loves“ (geschr. ca. 1940, aufgef. 1959) und „The Cure“ (begonnen 1952, beendet 1960) aus und übersetzt sie als „Alles Liebe“ und „Die Heilung“. Hansen bevorzugt ein technisch und ein thematisch interessantes Drama aus den insgesamt fünf Werken des Bandes Many Loves and Other Plays. „Many Loves“ ist nach dem musikalischen Muster ,tema con variazioni‘ gebaut: das Thema ,Liebe‘ wird in vier Abwandlungen durchgespielt; der Wechsel von Prosa und Vers sorgt für verschiedene Instrumentierung. „The Cure“ rückt einen Motorradunfall zweier junger Menschen und seine Folgen unter einen bestimmten medizinisch-psychologischen Aspekt: den des Verhältnisses von Krankenschwester und Patient. Gewiß sind beide Stücke nach Hansens mündlicher Angabe später als Enzensbergers lyrischer Auswahlband erschienen – 1963 –, dazu Alles Liebe sogar im gleichen Frankfurter Verlag (Suhrkamp). Hansens zwei Rollenbücher – denn nur als solche sind die beiden Übertragungen erhältlich – mögen dieser Gunst der Lage einiges verdanken; man wird sie jedoch höchstens als durch Enzensbergers Suhrkampband gefördert, nicht aber von ihm verursacht ansehen können.
Die Dramenübersetzung hat bisher keine Nachfolge und anscheinend auch keine aufführungsbereite Bühne gefunden. Anders als Hilty ist Hansen diesmal ausschließlich  Ü b e r s e t z e r, nicht Anthologist und Kritiker (wie er es 1956 gewesen war). Deshalb kann Enzensberger nur insofern auf ihn eingewirkt haben, als er Hansens schon längst vorhandene Übersetzerinteressen an Williams’ Werk verstärkt hat.
Die augenfälligsten Spuren der Wirkung, die Enzensberger als Williams’  K r i t i k e r  hervorgerufen hat, ziehen sich durch die zahlreichen Besprechungen seines Auswahlbandes. Eine vollständige Auswertung dieses Materials würde hervorragende Einblicke in den Stand deutscher Williams-Kenntnis und -Schätzung um 1962 wie überhaupt in die deutschen Reaktionen auf moderne amerikanische Lyrik gewähren. Die publizistische Variationsbreite sei hier durch die Auswahl von zwei auseinanderliegenden Punkten gekennzeichnet, deren Zusammenrücken unter dem Gesichtswinkel der deutschen Williams-Einbürgerung auch den nüchternsten Chronisten heiter stimmen könnte: Colloquium: Eine deutsche Studentenzeitschrift und Film und Frau. Zusammen mit Die Zeit und ihrem Vorabdruck von Enzensbergers „Nachwort“ haben diese beiden Organe für die größte, aber auch flüchtigste Verbreitung eines deutschen Eindruckes von Williams gesorgt.
Kim Landers Colloquium-Beitrag „Go home. Write. Compose / Der Lyriker William Carlos Williams“ (1963) ist nur unausgesprochen eine Rezension Enzensbergers, teils dessen Echo, teils dessen Gegenstimme.274 Auffälliger als der Gegensatz ist zunächst die Ähnlichkeit der beiden Williamssichten. In keiner von beiden fehlen der Abriß der langsamen Rezeption – mit obligater Rüge der Literarhistoriker -, die Heraushebung des „Provinzlers“, der literaturhistorische Hintergrund des erst allmählichen Entstehens einer eigentümlich amerikanischen Lyrik. Dahingestellt bleibe, ob Lander seinem Vorgänger Enzensberger den Ansporn oder mindestens zusätzlichen Ansporn zum eigenen übersetzen verdankt. Aus dem schmalen Gedichtheft The Broken Span (1941) überträgt er, Enzensbergers und Hiltys Rezeptionslinie des poetologischen Mahngedichtes fortführend, „die Leitthese“, deren zwei Strophen er allerdings in eine zusammenzieht:

But today
the particulars
of poetry
that difficult art
require
your whole attention.

Aber heut:
die Besonderheiten
der Lyrik,
der schwierigen Kunst,
verlangen
deine ganze Aufmerksamkeit
.275

Die Gegenposition zu Enzensberger hebt sich erst allmählich schärfer und schärfer ab. Sie beginnt wie bei Hilty damit, die Ausgangsthese des „Nachworts“, die behauptete Existenz eines „eigentümlich“ amerikanischen „Idiom(s)“ in der modernen Lyrik der Vereinigten Staaten, in Frage zu stellen; sie schreitet fort zur Aufdeckung echter oder vermeintlich schwacher Stellen in der Poetik und im Werk: „banal“ klingender „Sprachlegierungen“ von Deutsch und Englisch, „bei allzuvielen Wiederholungen recht billig“ wirkender Verwendung der „Apparate unserer Zivilisation“, z.B. des Telefons und der Stimme des telefonierenden Menschen, „als Effekthintergrund“.276 Einen besonderen Streitpunkt bildet der ,pragmatische‘ Zug von Enzensbergers Williams-Deutung, seine Vorstellung von Williams als „von jeher ein pragmatischer Kopf“.277 Ein Satz wie „Erst die Kritiker, und unter diesen die deutschen, führten uns das niederträchtige Klischee vom Pragmatismus vor“ beleuchtet blitzartig, wie der schon in Enzensbergers „Nachwort“ beobachtete Stimmungswechsel von der zweiten zur dritten Rezeptionsphase einen neuen, groben Ton annimmt.278 Immerhin verdankt der Leser dem Widerstand Landers gegen Enzensbergers ,Pragmatiker‘ eine notwendige Berichtigung seines Williamsbildes und seiner Auswahl aus Williams’ Werk. Der Abdruck von drei Schlußstrophen des 2. Buches von Paterson eröffnet den Zugang zu jenem „man with a sentimental side“, den schon Stevens ein Vierteljahrhundert zuvor hinter Williams’ Neigung zum ,Anti-Poetischen‘ gespürt hatte.279 Freilich ist das ,Sentimentale‘ – was Lander vergißt – im Stimmungsganzen von Paterson II nur eine, kunstverständig eingesetzte Einzelstimmung.
Die Würdigung von Enzensbergers Übersetzungsleistung ist positiv, wenn auch summarisch-behauptend:

Im übrigen sind die Nachdichtungen von Enzensberger gut. Einfach und schlicht: gut. Sie stimmen, sie fangen Atmosphäre ein (über die Wahl einiger Wörter ließe sich natürlich streiten).280

Um so negativer äußert sich Lander zur getroffenen Auswahl aus Williams’ Schaffen:

Gegeben wird… der „hübsche“ Williams, der häßliche wird weitgehend verschwiegen. Die Übertragungen, in kleinen Mengen, bieten uns nur den entschärften Dichter. Das ist Williams ohne Ecken und Kanten, das ist der Allerwelts-Williams, nicht der echte. Da fehlt das Gedicht, das kreuz und quer über die Seite gedruckt ist (Lander holt dies mit dem Abdruck „eine(r)“, übrigens der einzigen, „kreuz und quer gedruckt(en)“ Seite aus Paterson III nach), da fehlt die Variation von Poesie und Prosa, es fehlt das Experiment, es fehlt vor allem „Paterson“. Die Entdeckung von Williams steht den Deutschen damit noch bevor.281

Im großen und ganzen war es für die deutsche Williams-Rezeption heilsam, daß Enzensbergers Williamsbild, das Bild eines Dreißigers, von einem ebenfalls Jungen, wahrscheinlich sogar Jüngeren, korrigiert wurde, indem es sich inhaltliche Ergänzungen und eine geringere Wertung gefallen lassen mußte. Die Methode der Kritik allerdings, das Herausgreifen des Einzelnen statt der Betrachtung des Ganzen, das knapp andeutende Vergleichen mit motivgleichen Gedichten von Eliot und Pound, ohne vorher die Angemessenheit solchen Vergleichens zu prüfen, die apodiktische Behauptung nicht selten ohne Beweis, die Blindheit für Williams’ entscheidenden Einfluß auf die junge amerikanische Dichtung – „schattenhaft, wie der Ruhm zu seinen Lebzeiten war, ist er auch nach dem Tod“ –,282 mindert die Glaubwürdigkeit der trotz der mangelhaften Begründung oft richtigen Ergebnisse. Stärker als mit Hilty wirkt mit dem jungen Lander, vom Ton abgesehen, die geistige Position in der dritten Rezeptionsphase nach, die in der zweiten am eindrucksvollsten Cunliffe vertreten hatte. Weder Enzensbergers zweisprachiger Auswahlband noch Williams’ Tod (4. März 1963), der zu ruhigerem Urteil hätte Anlaß geben können, haben jenes rückwärtsgewandte, an Eliot und Pound ausgerichtete Williamsbild erschüttert.
War der Artikel der Studentenzeitschrift eine unausgesprochene Rezension, mit einem leichten Einschlag des Nachrufs, so gibt sich der Kurzartikel in Film und Frau (1965) ganz offen als Rezension. Worauf die Hamburger Zeit durch Vorabdruck und redaktionellen Nachsatz Anfang Januar 1962 hingewiesen hat, bespricht die Hamburger Filmzeitschrift Ende November 1965 und zeichnet es für den eiligen Leser mit drei Sternen (= „sehr empfehlenswert“) aus.283 Im zwei Seiten umfassenden „Kulturquerschnitt“, der „Platten“, „Theater“, „Film“ und „Literatur“ berücksichtigt, kommt „,Gedichte‘, von W.C. Williams, amerikanisch und deutsch, Suhrkamp Verlag“ (o. J.) unter die Kritik des Films „Die Welt der Jean Harlow“ und neben die Besprechung von Elisabeth Mann-Borgese’s Geschichtenband Zwei Stunden zu stehen. Enzensbergers Anthologie setzt sich auch in dieser geistigen Mischlandschaft, die dem Autor von Paterson völlig bekannt war, durch und erhält zwei ,Sterne‘ mehr als der Hollywoodfilm um einen seiner frühverstorbenen „Sex-Star(s)“ und einen Stern mehr als die Erzählprosa von Thomas Manns jüngster Tochter!284 Die Angabe des „Inhalts“ klingt teils wie ein Widerhall des „Nachwortes“ bzw. seines Vorabdruckes in Die Zeit – das einprägsame Zitat vom Gedicht als ,Maschine‘ kehrt wieder –, teils wie ein Echo des Klappentextes zum Suhrkampband: das genauso einprägsame wie übertreibende Klischee vom „Armenarzt“ begegnet erneut. Der „Kommentar“ verfährt publikumsgerecht; unbewußt läßt er eine Seite der deutschen Empfangsbereitschaft für Williams erkennen, die gerade auf das „Anti-poetische“ seiner Lyrik anspricht:285

Das ist die Poesie für den, der Gedichte „an sich nicht mag“. Enzensbergers Nachwort liefert denn auch keine Erklärungen – Williams bedarf ihrer nicht –, sondern stellt nüchtern die Möglichkeiten dar, als Dichter in einer Welt zu bestehen, die nicht so ist, wie der Dichter und der Leser sie sich wünschen. Wer Trost sucht, findet ihn heute nicht mehr im Abendrot.286

Die Teilansicht vom ,anti-poetischen‘ Williams, gegen welche die Studentenzeitschrift den Williams des „alte(n) romantische(n) Thema(s) ,Liebe“‘ ins Treffen geführt hatte,287 behält in geschmacksgeschichtlich aufschlußreicher Verkehrung der Fronten gerade in Film und Frau das letzte Wort. Immerhin bildet auch dieser literarisch gar nicht unergiebige Aspekt von Enzensbergers Weiterwirken ein notwendiges Steinchen in einem echten Gesamtmosaik des deutschen Aufnahmevorganges.
Seine Neigung, von 1962 an weitere Kreise zu ziehen, neue, größere Lesergruppen hinzuzugewinnen, setzt sich bei Kritikern und Anthologisten auch dann fort, wenn nicht mehr Enzensbergers „Bibliothek Suhrkamp“-Band im Mittelpunkt steht. Im gleichen Jahr, in dem die Auswahl des amerikanischen Lyrikers durch einen deutschen Lyriker erschien, erschien im gleichen Frankfurt eine Auswahl britischer, irischer, amerikanischer und aus dem Commonwealth stammender Lyrik englischer Sprache durch zwei verdiente Pädagogen, The Word Sublime / Poetry of the English-Speaking Communities / Selected and edited by Hans Combecher and Gustav Schad.288 So öffnet sich dem 79jährigen Williams, ein Jahr vor seinem Tod, das deutsche Klassenzimmer. Als Verfasser von „Pastoral“, dem einen der beiden Gedichte gleichen Namens aus Al Que Quiere (1917), und von „Red Wheelbarrow“289 aus Spring and All (1923) wird der Williams der frühen Lyrik Gast im deutschen Englisch-Unterricht. „Of poets about whose lives and thoughts etc. every good handbook offers abundant information only the names are mentioned“ verkündet der Erläuterungsteil der Schulanthologie.290 Zu jenen arrivierten „poets“ gehört Williams 1962 noch nicht. Deshalb bedarf nicht Barockpoet Edward Taylor, sondern Zeitgenosse Williams einer besonderen Einführung:

WILLIAM CARLOS WILLIAMS is a medical doctor in his birthplace Rutherford, New Jersey; since his 26th year he has written (sollte zutreffender heißen: published) as much poetry as his medical profession would allow him. His poems present common things of everyday American life in a language that is at once colloquial and refined. His influence on recent American poets may be called great.291

Wesentliches ist bündig mitgeteilt; die Bemerkungen über die Doppelseitigkeit von Williams’ Dichtersprache sind besonders treffend. Sie verraten eine Einsicht, die dem jüngeren der beiden Anthologisten, Hans Combecher, aus eigener Interpretationsarbeit erwachsen ist. Proben aus ihr legt er ein Jahr später in Deutung englischer Gedichte / Interpretationen zur Sammlung „The Word Sublime“ (1963) vor.292 Der Band enthält eine Auslegung des einen von den zwei Williams-Gedichten der Anthologie, und zwar des schwierigeren. „Red Wheelbarrow“ fordert mit seiner scheinbar banalen Selbstverständlichkeit und seiner vermeintlichen Prosa den Schüler und nicht nur ihn heraus.
Combecher ist der erste Deutsche, der ein Ganzwerk von Williams ausführlich deutet. Selbst Enzensberger hatte im „Nachwort“ nur hier und da explizit Teilinterpretationen versucht und sonst implizit, durch seine Art zu übersetzen, Einzelgedichte ausgelegt. Angesichts einer Lehreraussage wie

Dazu würde ich persönlich mir als Hilfe Beiträge und Referate wünschen (mehr, als bisher angeboten wird), außerdem auch über… die bei uns zu Unrecht ziemlich vernachlässigte amerikanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. 293

begreift man den Wagemut und den Wert eines Williams-Interpreten wie Combecher.
Daß in Lehrerzeitschriften eine gewisse Empfänglichkeit für die amerikanische Versdichtung unseres Jahrhunderts herangewachsen ist, bezeugt 1965 ein „ständiger“, an der Universität Kiel wirkender „Mitarbeiter“ von Praxis des neusprachlichen Unterrichts. In seinem Beitrag zu den „Forum“-Spalten der Zeitschrift empfiehlt Richard G.C. Martin für die Wertung von Robert Frost u.a. die methodische Frage:

How does Frost compare, as a poet, not as a thinker or philosopher, or as a social historian, but as a poet, with the „best“ of his contemporaries?294

Mr. Martins Antwort bezieht Williams ein:

To some extent a mere listing of these other writers is answer enough: Eliot, Pound and Yeats as the leading group, with Carl Sandburg, Wallace Stevens and William Carlos Williams making a sufficiently formidable second string.295

Williams dient hier lediglich als Mittel zum kritischen Zweck. Die behauptete, nicht begründete Rangordnung tradiert, soweit sie amerikanische Autoren betrifft, teilweise die Gruppierung und Wertung, die Mr. Martins Landsmann Marcus Cunliffe im Kap. 12 von The Literature of the United States vorgenommen hat. Dieses verdienstliche Buch wird im Text des „Forum“-Beitrages ausdrücklich erwähnt.296 Aufschlußreicherweise sind für den jungen britischen Beobachter E.A. Robinson, Lindsay und Masters, die besonders in der ersten, schwächer schon in der zweiten Spanne der deutschen Williams-Aufnahme zu seinen gleichrangigen Zeitgenossen zählten, selbst schon aus der „zweiten Mannschaft“ verschwunden. Im Grunde vertritt Martin wie sein deutscher Altersgenosse Lander das bei europäischen Gebildeten übliche Wertungsschema, in dem die amerikanischen Gasteuropäer oder Europaheimkehrer Eliot und Pound die Spitzenstellung einnehmen. Der Art nach gehört solche kritische Aufmerksamkeit noch zur zweiten, dem Grad nach schon zur dritten Rezeptionsphase.
So zehrt ihr erstes Hauptmerkmal, die gesteigerte Regsamkeit deutscher Übersetzer, Kritiker und Anthologisten, mindestens in der Schulzeitschrift ein wenig auch von jener britischen Anteilnahme, die mit Bentley und Cunliffe das Williamsbild der zweiten Phase mitgeformt hat.

 

iii. 3. Aufgeschlossenheit und Verschlossenheit deutscher Lyriker als Kritiker von Williams

Wie dieses erste Merkmal in ein zweites, in die wachsende  A u f g es c h 1 o s s e n h e i t  d e u t s c h e r  lyrischer Dichter für Williams’ lyrisches Werk, übergeht, war schon an Enzensberger abzulesen. Streng genommen, veranschaulichte er nicht die Empfänglichkeit eines Dichters für einen Dichter, sondern eines Dichter-Kritikers für einen Dichter, stellenweise auch für den Dichtungstheoretiker in ihm. Karl Krolow und Helmut Heißenbüttel sind weitere Beispiele für den deutschen Lyriker-Kritiker der 1960er Jahre auf dem geistigen Weg nach Rutherford, N. J.
Auf ihm scheint der jüngere Enzensberger der Vorläufer, der ältere Krolow sein Nachfolger, manchmal sogar sein Schatten. Der in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte Nachruf auf Williams entleiht schon die Überschrift „Poetische Momentaufnahmen“ dem kritischen Handwerkskasten Enzensbergers.297 Die von ihm „besorgte Auswahl“ aus Williams’ Werk rühmt Krolow ausdrücklich als „vorzüglich“. Von Enzensberger stammen ferner die Termini „ Verfall und Zerstörung“, „Detail“, „Lakonismus“, „Miniatur“, „Porträt- und Dinggedicht“, mit denen er Themen, Stil und Formtypen des lyrischen Werkes zu fassen gesucht hatte.298 Aus derselben Quelle, Enzensbergers „Nachwort“ oder seinem Wiederabdruck in Einzelheiten, fließen die Auskünfte über Leben, Gesamtschaffen, Schätzung und Einfluß des verstorbenen amerikanischen Autors. Aber was Krolow aus diesen Entlehnungen gemacht hat, erreicht an einigen Stellen bemerkenswerte Prägnanz.

Williams jagte im Gedicht der kleinen Zeiteinheit nach, die er festhält, indem er sich ungerührt stellt

trifft mit „sich stellt“ denselben Punkt, die Schutzmaske, hinter der Stevens den „man with a sentimental side“ erkannt hatte.299 Aber genauso wie mit dieser Bemerkung stempelt Krolow mit der folgenden:

Die schonungslos gesehenen Kleinigkeiten sind Bruchstücke größerer Hinfälligkeit, Zeichen einer schleichenden Destruktion, die in der Banalität sichtbar gemacht werden…

Williams durch solche Überbetonung des Wechsels zu einer Art stoischen Elegikers. Die  D a u e r  im Wechsel, die Bedeutung der geschichtlichen Tradition und der ,Metamorphose‘ im Weltbild des Gesamtwerkes, hat Krolow nicht gesehen, wie es überhaupt kennzeichnend ist, daß er weder Williams’ In the American Grain noch The Metamorphic Tradition in Modern Poetry, die Monographie der in The Selected Letters of William Carlos Williams vertretenen Bernetta Quinn,300 zur Hand genommen hat. Aus Enzensbergers kurzer Aufzählung übernimmt er alle erwähnten Formtypen von Williams’ Gesamtwerk, nur nicht „ein großes Fresko der amerikanischen Geschichte“,301 eine übrigens nicht sehr glückliche Metapher für In the American Grain.
Eines an diesem Kleinporträt des Toten gehört zu den Zeichen der Zeit: das Interesse am Gedicht über die Dichtung. Wenn Krolow gegen Ende seines Nachrufes „Eine Art Lied“ („A Sort of a Song“) aus Enzensbergers Sammlung abdruckt, teilt er mit ihm, Hilty und Lander die Aufmerksamkeit für Williams den Poetologen.
Noch ein zweitesmal, freilich in sehr anderer Rolle und Umwelt, nicht mehr als Nachrufverfasser in einer großen deutschen Tageszeitung, sondern als Referent auf dem „Berliner Kritiker-Kolloquium 1963“, als Gast der „Akademie der Künste in Berlin, Abteilung Dichtung“,302 nimmt Krolow das Wort zu Williams. Die Situation ähnelt ein wenig der Höllerers auf dem Komparatisten-Kongreß von 1958. Aber wo Höllerer noch eine in das ausgehende 19. Jahrhundert zurückreichende „Verbindung“ der „modernen deutschen Lyrik… mit der modernen abendländischen“ erblickte, gewahrt Krolow, mit Blickrichtung auf „nach 1945“, eine höchst andere Szene:

Es (unser Gedicht) wurde überschüttet von der Fülle einer verpaßten Entwicklung, von jener Unmenge einer bei den anderen schon längst wieder historisch gewordenen Entwicklung moderner Poesie, die es spätestens seit Mallarmé und Apollinaire, seit Pound und William Carlos Williams, seit Jiménez oder Lorca gab. Die vereinzelten Begegnungen zwischen 1910 und 1930 waren vergessen. Sie waren zudem vergeblich, weil für unsere Lyrik unergiebig geblieben. So stand nun alles auf einmal bevor: das aufreibende und wenig rühmliche Geschäft des Nachholens und die Konfrontierung mit den Folgerungen einer seit mehr als einem halben Jahrhundert währenden lyrischen Moderne.303

Williams erscheint also nicht mehr wie fünf Jahre zuvor bei Höllerer als Parallele, sondern als Gegenüber und als lyrische Nachholaufgabe, übrigens nicht als einzige, sondern als eine von mehreren Aufgaben. Zugleich hat sich – für die Wandlungen des vergleichenden Sehens und Wertens aufschlußreich – eine jahrzehntelange Art literarischer Gruppenbildung verändert: anstelle des Paares  E l i o t – P o u n d, mit Williams als Gegenüber, einem Gegenüber meistens mit gebührendem Abstand, selten wie bei Enzensberger genau umgekehrt mit betontem Vorrang, ist das Paar  P o u n d    W i l l i a m s  getreten; über Eliot wird hinweggeschwiegen. Die neue Konstellation entspricht der, die der von Enzensberger erwähnte Donald M. Allen im Vorwort zu The New American Poetry 1945–1960 umriß, als er „the practice and precepts of Ezra Pound and William Carlos Williams“ als Grundlage der neuen jüngeren Poeten bezeichnete.304
Krolow ist nicht der einzige, der unter dem Rahmengesichtspunkt „Zur Kritik der Lyrik“ Williams als Beispiel ins Treffen führt.305 Helmut Heißenbüttel geht ihm auf dem gleichen Berliner Kritikerkongreß mit einem Referat, „Kriterium für den Begriff des Gedichts im 20. Jahrhundert“, voraus.306 Unter den zwei „Typen, die eine gewisse Beispielhaftigkeit zu haben scheinen“, bestimmt er den einen dahin:

Das ist einmal das zyklische Gedicht des 20. Jahrhunderts, von Arno Holz’ Phantasus, Ezra Pounds Cantos, Guilléns Cantico bis zu Williams’ Paterson und Olsons Maximus…307

Auch Enzenbergers „Nachwort“ war an Paterson nicht vorbeigegangen und hatte dessen Eigenart ebenfalls durch Seitenstücke aus der modernen Dichtung, darunter gleichfalls Pounds Cantos, zu bestimmen gesucht. Das ,Zyklische‘ als gemeinsames Merkmal dieser „spezifisch modern(en) und keine erzählerische Absicht verfolg(enden)“ „poetischen Großform“ hatte es freilich nicht herausgestellt.308
Rainer Maria Gerhardt, Williams’ frühester deutscher Übersetzer, ist 1927, Walter Höllerer, Williams’ erster deutscher Dichter-Kritiker, 1922 geboren; wie sie gehören auch Enzensberger (geb. 1929), Hilty (geb. 1925) und Heißenbüttel (geb. 1921) zur deutschen Lyrikergeneration des dritten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts. Krolow (geb. 1915) reicht als Einziger unter Williams’ deutschen Dichter-Kritikern in das zweite Jahrzehnt zurück. Die Grenze ihrer Empfangsbereitschaft für den Gast aus Amerika scheint dort gezogen, wo ihr Jahrgang 1913, vertreten durch Hans Egon Holthusen, in das Berliner Kolloquium eingreift, aber sich über Williams ausschweigt,309 so wie er sich in den Jahren zuvor, in den Aufsätzen des Sammelbandes Der unbehauste Mensch / Motive und Probleme der modernen Literatur (1951), über ihn ausgeschwiegen hatte.310 Auch das „Namenregister“ der „dritte(n), erweiterte(n), neubearbeitete(n) Auflage 1955“ nennt Williams nicht. Holthusens Wahlverwandte unter den angelsächsischen Dichtern der Gegenwart sind Eliot und Auden.311 Die Nähe ihrer Religiosität zu der Holthusens mag verbindend, die – nicht immer gleiche Ferne vom Christentum, die Williams’ Weltbild kennzeichnet, mag trennend gewirkt haben. ,A poets‘ poet‘ ist der amerikanische Gast also auch ab 1962 in Deutschland nicht geworden, obwohl seinen zwei Gastfreunden der zweiten Rezeptionsphase, Gerhardt und Höllerer, nunmehr vier weitere, Enzensberger und Hilty, Krolow und Heißenbüttel, gefolgt sind. Diese Seite des deutschen Williamsbildes, der ,Williams der deutschen Dichter-Übersetzer und Dichter-Kritiker‘, ist bisher nur in Amerika, noch nicht in Deutschland aufgefallen. Schon im „Winter 1963“ enthielt The Massachusetts Review einen Artikel über „William Carlos Williams and Some Young Germans“.312

 

iii. 4. Aufmerksamkeit für Williams’ Beziehungen zu Deutschland

Bei dieser Diskrepanz zwischen amerikanischem Wissen und deutschem fast völligem Nicht-Wissen von Williams’ Beziehungen zu deutschen Dichtern ist es nicht verwunderlich, daß die nun allmählich wachsende Aufmerksamkeit für  D e u t s c h l a n d  i n  W i l l i a m s’  L e b e n  u n d  W e r k den unscheinbarsten unter den neuen Zügen der dritten Aufnahmespanne bildet. Hugh Kenners Beitrag zu Herders Lexikon der Weltliteratur im 20. Jahrhundert hatte Williams’ Deutschlandkenntnis kurz vermerkt, Höllerer war über ein Schillermotiv in „Choral: the Pink Church“ hinweggeglitten. Enzensberger dagegen, der für sein „Nachwort“ The Autobiography ausschöpft, verwendet Einzelheiten aus ihrem ,Kapitel 19: Leipzig‘, um Williams’ „außergewöhnliches Erinnerungsvermögen“ zu belegen.313 Aus Enzensbergers ungenauer Angabe: „Im Jahre 1909 hat er ein paar Monate lang in Leipzig studiert“314 wurde in Krolows Nachruf:

Wenig bekannt ist, daß der junge Medizinstudent [– in Wahrheit hatte er schon über zwei Praktikanten- bzw. Assistentenjahre an zwei New Yorker Krankenhäusern hinter sich –] einst sich in Leipzig immatrikulierte.315

Auch die unmittelbar folgende Auskunft, daß dieser „Medizinstudent“ „überhaupt lange Zeit in Frankreich, England, Deutschland und in der Schweiz lebte“, ist ungenau, insofern sie kürzere Besuche im Anschluß an die Leipziger Fortbildungszeit verwechselt mit längeren Aufenthalten der Schülerzeit und zwei späteren Europareisen der Rutherforder Praxiszeit.
Immerhin ist dieses Wissen von ,Deutschland im Leben des Autors‘ besser als die Kenntnis von ,Deutschland in seinem Werk‘. Landers Colloquium-Artikel ist bisher der einzige, der auf deutsche Sprachbeimischung zum Stil von Williams’ Lyrik hingewiesen hat:

Aus seinen Erfahrungen mit Deutsch-Amerikanern hat Williams ein Gebilde hingestellt, das man nur widerwillig lesen kann, wenn man mit dem Sprachfrevel von Yorkville, USA, längeren Kontakt gehabt hat. …

Vienna the Volk iss very lustig,
she makes no sorry for anything! usw
.316

Der erklärte Eliot- und Pound-Bewunderer kann sich auch hier eine Zurücksetzung von Williams nicht verkneifen:

Wenn T.S. Eliot oder Ezra Pound ähnliche Sprachlegierungen unternehmen, klingt das meistens weniger banal.317

Es wäre sachgerechter gewesen, das  g a n z e  Gedicht samt seiner deutschen Überschrift „Lustspiel“ anzuführen und auf sein Verhältnis zu den umgebenden Gedichten des gleichen Zyklus „The Rat“ zu prüfen.318 Außerdem kannte Williams nicht nur Deutsch-Amerikaner, sondern auch waschechte Wiener. Der knapp sechsmonatige Aufenthalt von Dr. und Mrs. Williams in Europa (Januar bis Juni 1924) schloß auch Wien ein, „where I spent a valuable month studying at the famous university there“.319 Zwei Briefe aus Wien, der eine an Marianne Moore, der andere an Kenneth Burke, nehmen in scharf gesehenen Einzelheiten das Thema „Vienna the Volk“ des wohl über zwanzig Jahre späteren Gedichts „Lustspiel“ vorweg,320 und schließlich schildert „Reitschule“, eines der besten Kapitel in Williams’ Roman A Voyage to Pagany, den Besuch einer Vorstellung der Wiener ,Spanischen Reitschule‘.321
So steckt dank Enzensberger, Krolow und Lander die deutsche Kenntnis von Williams’ autobiographischer und literarisch gestalteter Sicht des deutschsprachigen Europa ab 1962 nicht mehr völlig, aber doch noch weithin in den Anfängen. Trotz aller inneren Nähe zu Deutschland ist dieses dritte Merkmal der neuen Rezeptionsphase schwächer ausgebildet als die beiden anderen Wachstumszeichen, die gesteigerte Regsamkeit der Übersetzer, Kritiker und Anthologisten, die größere Offenheit deutscher Dichter für den Lyriker und Epiker aus Übersee. Es beschließt die kurze Reihe der Anhaltspunkte, die sich seit 1962 für einen Wandel des Rezeptionsverlaufs ergeben haben.

 

iii. 5. Anhaltendes und gebrochenes Schweigen mancher Literaturwissenschaftler über Werk und Mensch

Zu ihnen treten, ergänzend und zwischen der zweiten und dritten Phase Kontinuität verbürgend, gewisse Anzeichen beharrlich fortwirkender Tendenzen. Die einzige von ihnen, die der Aufnahme von Williams ungünstig ist, besteht im fortgesetzten Schweigen mancher Literaturkritiker über Verfasser und Werk, obwohl die Sache und die Situation ein Reden nahelegten. Je ein Beispiel aus dem germanistisch-literaturvergleichenden, dem amerikanistischen und dem ,Weltliteratur‘ (der Gegenwart) darstellenden Fachschrifttum mögen genügen.
Helmut Motekat, der vom  g e r m a n i s t i s c h e n  Blickpunkt Experiment und Tradition / Vom Wesen der Dichtung im 20. Jahrhundert (1962) geschrieben hat, wählt T.S. Eliot aus, um „Tradition als Voraussetzung und als Ergebnis des Experiments“ zu erkunden.322 Er ist sich bewußt, daß „eine Untersuchung der Lyrik Ezra Pounds… zweifelsohne wertvolle zusätzliche Einsichten… in die Eigenart und die Wirkungsweise von Experiment und Tradition in der Dichtung der Moderne“ „eröffnet“ hätte.323 In einem Kapitel seines gedankenreichen Buches, in „Variationen in Blau“, bezieht er Wallace Stevens ein und deutet feinfühlig dessen „Gedichtszyklus“ The Man with the Blue Guitar;324 mindestens in Anmerkungen gedenkt er Marianne Moores;325 ein ganzes weiteres Kapitel gehört Gottfried Benn. So nahe ist mithin Motekat Williams’ Gegentypus – Eliot –, Williams’ amerikanischem Bekannten- und Freundeskreis – Stevens, Pound und Marianne Moore – sowie seinem deutschen dichtenden Berufsverwandten – Benn – gekommen; Williams selbst begegnet er dennoch nicht. Ein merkwürdiges Verfehlen, wenn man daran denkt, daß Experiment und Tradition im gleichen Jahr und am gleichen Ort verlegt wurde wie Enzensbergers Übertragungen und ihr „Nachwort“. Motekat ist wie Höllerer Germanist, wie dieser komparatistisch interessiert, 1958 Teilnehmer am gleichen Kongreß in Chapel Hill, auf dem Höllerer auch über Williams und sein Verhältnis zur neueren deutschen Lyrik referierte. Die vielberufene ,Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ bewahrheitet sich tatsächlich in der verschiedenen Auswahl, die zwei deutsche Literaturhistoriker, teils Williams hervorhebend, teils ihn unabsichtlich oder absichtlich übersehend, aus der amerikanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts treffen. Bei Motekat noch ausschließlicher als bei Holthusen fällt nach wie vor der Schatten Eliots über das Werk des Arztes aus Rutherford.
Noch symptomatischer ist der entsprechende blinde Fleck in unserem  a m e r i k a n i s t i s c h e n  Beispiel, der „zweite(n), neubearbeitete(n) und erweiterte(n) Auflage“ von Henry Lüdekes Geschichte der amerikanischen Literatur (1963).326 Der große Schweizer Gelehrte deutsch-amerikanischer Herkunft hatte, wie erinnerlich, im „Vorwort“ zur Erstauflage (1952) Williams unter den „Gestalten“ genannt, die „der Kenner… vermissen“ werde. Er hatte hinzugesetzt:

Aber die Hauptzüge der Literatur bis zum Jahre 1940, mit welchem unsere Betrachtung schließt, dürfte wohl durch den Ausfall nicht verschoben worden sein.327

Die Neuauflage „schließt“ nicht mehr mit dem „Jahre 1940“; trotzdem geht sie, die „neubearbeitet und erweitert“ ist, wiederum an Williams vorüber. Das völlig neue Schlußkapitel „Epilog“ findet für einen einzigen Lyriker Raum, für Wallace Stevens:

In der Schar der Dichter, die heute unmittelbar hinter der Führungsgruppe Eliot, Pound und Jeffers stehen, tritt die bisher recht nebulose Gestalt des Wallace Stevens wohl an erste Stelle.328

Was für den altgewordenen Gelehrten „heute“ und was für den zum Europäer gewordenen Amerikaner „nebulos“ war, war es, mindestens teilweise, nicht mehr für Amerika. Schon drei Jahre vorher hatte es – mit komplementärer Übertreibung – drüben geheißen:

As it has emerged in Berkeley and San Francisco, Boston, Black Mountain, and New York City, it has shown one common characteristic: a total rejection of all these qualities typical of academic verse. Following the practice and precepts of Ezra Pound and William Carlos Williams, it has built on their achievements and gone on to evolve new conceptions of the poem. These poets have already created their own tradition, their own press, and their public.329

Man braucht jenes europäische Zitat von 1963 nur mit diesem amerikanischen von 1960 zu vergleichen, um die – wohl auch vom Generationsunterschied bedingten – ungleichen Chancen eines Verständnisspielraums für Williams zu erkennen.
Gleiche Chancen sind auch dort noch nicht vorhanden, wo man sie nach Enzensbergers, Krolows und Heißenbüttels Abstechern in  w e l t l i t e r a r i s c h e s  Vergleichen erhoffen würde: in einer Geschichte der Weltliteratur der Gegenwart, wie sie Hermann Glaser „dargestellt in Problemkreisen“ 1965 bietet.330 Obwohl es sich um eine „5., wesentlich erweiterte Auflage“ handelt, fehlt im Teil „Kleines Lexikon der Autoren“ Williams’ Name. Der Vorsprung Hugh Kenners in Herders Lexikon der Weltliteratur im 20. Jahrhundert ist auch 1965 noch nicht eingeholt.
Die drei negativen Beispiele sind jedoch nicht ohne ihr positives Gegenstück. Daß man nämlich trotz des Wandels der literarischen Generationen und des wachsenden Eigenabstandes zur jungen Generation sein Bild der modernen amerikanischen Poesie nicht veralten zu lassen braucht, daß man auch als älterer Wissenschaftler ein Verhältnis zu Williams gewinnen kann (der übrigens immer noch älter bleibt als man selber ist!), bezeugt schon ein Jahr nach Lüdeke ein anderer Schweizer Historiker der amerikanischen Literatur: Heinrich Straumann. Obgleich seine Ansicht in England gedruckt worden ist, gehört sie als Urteil eines Gelehrten aus dem deutschen Sprachraum in die Geschichte der deutschen und nicht nur der britischen Williams-Aufnahme. Straumanns Buch American Literature in the Twentieth Century warf in der Erstauflage von 1951 keinen Blick auf Williams. Das Vorwort zur „Revised Edition“ (1962) weist ausdrücklich auf „additional sections… on Wallace Stevens, William Carlos Williams, Richard Eberhart and Robert Lowell“ hin.331 Mit Motekat und Lüdeke stimmt Straumann in der Einbeziehung von Stevens überein; er geht über sie hinaus, indem er zwei Jüngere und einen ihrer Lehrmeister, Williams, hinzunimmt.
Die Verflechtung herkömmlicher und neuerer Sehweisen läßt sich in Straumanns Übersicht über Williams’ Schaffen, so knapp sie ist, ausgezeichnet beobachten, zumal Straumann den Wandel der Beurteilung in seiner Kurzstudie ausdrücklich vermerkt. Man glaubt sich über dreißig Jahre zurück und fühlt sich an Michaud erinnert, wenn man liest:

There was a time when his poems were considered too frank, if not even crass,…

Aber Straumann fährt fort:

but now it is the honesty of the sensibility behind them that appeals to many readers.332

Herkömmlich ist der Vergleich von Williams mit Sandburg, weniger traditionell – nur mit McCormick und Kenner als Vorläufer – die Erwähnung des Essaywerkes, herkömmlicher wieder, weil schon von Schirmer, Quinn, McCormick, Höllerer, Lipton und Cunliffe vorweggenommen, die Gruppierung mit Hart Crane:

like Hart Crane he tries to concentrate on specific symbols chosen from everyday life…,333

typisch neu die Hervorhebung von Patterson (sic), die Straumann mit Lipton, Enzensberger, Lander und Heißenbüttel teilt. Die Kurzanalyse dieses vielschichtigen Gebildes ruht eingestandenermaßen auf der, die Babette Deutsch in Poetry in Our Time (1952) versucht hat:

Patterson is a poem concerned with communication and the forces obstructing or debasing it…334

Damals lagen weder Paterson V – es erschien erst 1958 – noch die posthum veröffentlichten „four pages of notes and drafts for Book 6“ vor.335

Wie Straumann beweist, ist also auch die ungünstigste unter den Tendenzen, welche die zweite an die dritte Rezeptionsphase vererbt hat, jenes ,Ignorieren‘ von Williams durch „die offiziellen Hüter der Literatur“ (wie es Enzensberger genannt hatte),336 mitten im Prozeß der Selbstberichtigung.

 

iii. 6. Ein beharrendes Motiv: ,Williams als Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik‘

Alle anderen beharrenden Tendenzen fördern, jede auf ihre Weise, den Fortgang der geistigen Einbürgerung. Sprach schon Straumann von einem „appeal to the younger generation,“337 den er Paterson wegen seines „communication“-Themas zuschrieb, so dürfte solcher ,Reiz‘ bei der Jugend noch dadurch gewinnen, daß Williams auch nach 1961 weiter als „Ahnherr“ der „beats“ erscheint. Enzensberger vermerkt diesen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang erst fast am Schluß seines „Nachworts“, Krolow schon fast am Anfang seines Nachrufs, Hilty sogar im allerersten Satz der „Vorbemerkungen“ zu seinen documenta poetica / englisch/amerikanisch.
Durch Beat, Eine Anthologie (1962) dringt, nicht zuletzt dank ihrer Veröffentlichung als „Rowohlt Paperback“,338 das alte Motiv ,Williams und die beats‘ sicher in noch weitere Kreise als durch Liptons Die heiligen Barbaren.
Der Herausgeber der Anthologie, Karl O. Paetel, hatte sich seit 1958 in Presse und Rundfunk wiederholt mit seinem Gegenstand auseinandergesetzt,339 eine Auseinandersetzung, in die 1960 Enzensberger eingegriffen hatte.340 Die Bedeutung, die in ihr Williams zukommt, formuliert Paetel zunächst als bloße Auskunft:

Zu den wenigen älteren Dichtern, die das Auftreten der Beats freudig begrüßt haben, gehört vor allem William Carlos Williams, der Veröffentlichungen aus ihrem Kreis mehrfach mit beifälligen Einleitungen versah.341

In der gewinnenden, leicht sentimentalen Rolle des ,alten Mannes, der als einer von wenigen die moderne literarische Jugend versteht‘, hatte sich Williams in der Vorstellung junger deutscher Menschen seit Höllerers redaktionellem Essay (Akzente, 1959) allmählich festsetzen können. Paetel sorgt nun für weitere Festigung.
Diese Rolle schränkt er an einer zweiten Stelle, an der die amerikanische Traditionslinie der beats ins 19. Jahrhundert – Whitman – zurückverfolgt und innerhalb des 20. – Pound, Williams, Henry Miller, Wolfe – verbreitert wird, ein wenig ein:

Auch im Literarischen selbst bekennt man sich zu gewissen Autoren und weist auf bestimmte Verwandtschaften hin, wobei allerdings alle zitierten Bildungselemente noch keine formale oder geistige Abhängigkeit beweisen.342

Erst an einer dritten Stelle wird dem deutschen Leser begreiflich gemacht,  w a r u m  Williams und mit ihm zusammen Pound den beats als Vorbilder gelten. Der Grund liegt aufschlußreicherweise nicht in dem, was beide Dichter sind, sondern was sie nicht sind, nämlich nicht-akademisch:

Gregory Corso scheint nur das auszudrücken, was viele junge und poesiebegeisterte Amerikaner heute denken, wenn er sagt: „Die amerikanische Dichtung ist seit diesen beiden Dichtern (Pound und Williams) in die Hände der Akademiker gefallen…“343

Durch diese aus Amerika importierte Frontstellung gegen ,die Akademiker‘ erhält das Motiv ,Williams und die beats‘ eine in der zweiten Aufnahmespanne unbekannte Verschärfung. Seine publizistische Breitenwirkung dürfte der in der zweiten Phase erzielten keineswegs nachstehen; denn der deutsche literarische Journalismus, von der kleinen Zeitschrift bis zu den Massenmedien, nahm sich auch nach 1961 dieser amerikanischen ,Jugendbewegung‘ eifrig an.
Die studentische Jugendpresse macht darin selbstverständlich keine Ausnahme, wie ein Artikel von Jeanette Seyppel im gleichen Colloquium bezeugt, in dem ein Heft zuvor (Juni 1963) Kim Lander Enzensbergers Williams kritisiert hatte. Die Beiträgerin hält folgende literarische Auskunft bereit:

Daß die Beats kunstbewußt sind, beweisen ihre Zitate. Dante, Rimbaud, Blake, William Carlos Williams werden genannt, teils aus Assoziationsfreude, teils aus Hingabe. Walt Whitman, Ezra Pound machten diese Generation amerikanischer Lyriker frei. James Laughlin, schon einer der verhältnismäßig ,älteren‘ Autoren der Corso-Höllerer-Anthologie (Jahrgang 1918), war mit William Carlos Williams bekannt; er leitet den avantgardistischen Verlag New Directions.344

Die Verbindungen dieses kleinen Stückes der dritten Rezeptionsstrecke mit der zweiten liegen auf der Hand. Die Rolle von Williams im Traditionsbewußtsein der beats ist mindestens seit Lipton fester Bestandteil importierten literarischen Wissens. Trotz aller seiner Schicksale, die ihm literarische Zuordner in bunter Fülle bereitet haben, trotz seiner eigenen Anspielung auf Dante im Vorwort zu Ginsbergs Howl, das Fleischmanns Übersetzung zugänglich gemacht hatte, trotz Pounds – von Eva Hesse übertragenen – Verweises auf Rimbaud als Modell des jungen dichtenden Arztes ist Williams bisher noch in keiner Zuordnung erschienen, die ihn mit Dante und Rimbaud und außerdem noch mit Blake in ein und dieselbe wirkungsgeschichtliche Reihe gestellt hätte. Die Nennung der „Corso-Höllerer-Anthologie“ (1961) läßt das Weiterwirken des Williamsbildes von Charles Olsons „The Death of Europe“ und von Höllerers Nachwort erwarten. Die Erwähnung Laughlins stellt Beziehungen zu den frühen 1950er Jahren her; Jeanette Seyppel scheinen sie allerdings 1963 nicht oder nicht mehr gegenwärtig zu sein. Williams wird nämlich nur als ,Bekannter‘ Laughlins vorgestellt, nicht als dessen Verlagsautor, für den Laughlin in jener ersten Nummer der Perspektiven so rührig geworben hat. Die jungen Träger der dritten Rezeptionsphase wissen wie so oft nichts oder nichts mehr von den Grundlegern der vorangegangenen.
Wie bei ,Kim Lander‘ der ganze Name, so legt auch in diesem Beitrag zu Colloquium mindestens der Vorname der Autorin – Jeanette – Zweifel nahe, ob hier ein In- oder Ausländer zwischen deutschen Lesern und amerikanischer Literatur vermittelt. Der ausländische Zwischenträger ist inzwischen erheblich seltener geworden als in der ersten und zweiten Spanne der Williams-Einbürgerung. Daß er aber auch in der dritten zweifellos an der Schärfung der deutschen Williamssicht mithilft, wird dort sichtbar, wo das Thema von Jeanette Seyppels Beitrag aus der Studentenzeitschrift in die literaturwissenschaftliche Abhandlung transponiert wird. Der amerikanische Gastprofessor vor deutschen Englisch-Lehrern: die Situation, in der am 20. Mai 1955 McCormicks Berliner Vortrag über „Understanding American Prose Through American English“ seinen Platz hatte, wiederholt sich in bayrischer Umgebung am 26. April 1962. Es wiederholt sich ferner die Form, in der Williams vor den deutschen Hörern auftaucht: als Name unter Namen. Doch ein symptomatischer Unterschied fällt auf: 1955 begegnete „William Carlos Williams. Collected Poems“ in einer angehängten Bibliographie empfohlener Lesestoffe,345 1962 trifft man den Namen des Autors mitten im Vortragstext als Mittel zum literaturgeschichtlichen Zweck; Williams soll das traditionell Amerikanische und nicht das außergewöhnlich Moderne an diesen „Young Voices on the American Literary Scene“, hier vor allem an Ginsbergs Howl, verdeutlichen:

The poem is a protest and a credo. … As protest, it is hardly new: as far back as Twain and Thoreau, Melville and Whitman, as modern as Eliot and Dreiser, Dos Passos and Fitzgerald, as contemporary as Mailer and Salinger, Faulkner and Williams, two generations of American writers have challenged the condition of society.346

Trotz der Perspektive ,amerikanische Tradition des beat-Protests‘, ein Blickwinkel, der McCormick 1955 noch nicht geläufig sein konnte, schließt Marvin Spevacks vergleichendes Sehen außer Mailer und Salinger nur Autoren ein, die auch McCormicks Bibliographie enthält. Williams ist hier wie dort dem literarhistorischen Kanon einverleibt.347 Bei Spevack ist er sogar festschriftreif geworden. „Young Voices on the American Literary Scene“ und mit ihnen der inzwischen typisch gewordene Hinweis auf ihren Vorläufer Williams wurden in die Festschrift zu Ehren von Senator James William Fulbright (1962) aufgenommen. Der dichtende Kinderarzt und Geburtshelfer hatte den ,Abstieg‘ in Matthiessens Fußnote überdauert, er überdauerte den ,Aufstieg‘ in die Festschrift.

The descent beckons
aaaaaaaaaas the ascent beckoned.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaMemory is a kind
of accomplishment,
aaaaaaaaaa sort of renewal
aaaaaaaaaaaaaaaaaeven
an initiation.
348

beginnen die Verse aus Paterson II, die ihrem Autor seinem eigenen Wort zufolge besonders nahe standen. Für den Aufzeichner von Williams’ Rezeption in Deutschland sprechen sie eine ungeahnte Wahrheit aus.

 

iii. 7. Der Dichter-Arzt‘ im deutschen Williamsbild

Älter und weniger auf der modischen Oberfläche liegend als die Ahnherrn- oder Vorläuferrolle im Verhältnis zur jüngsten Lyrik, findet die  P e r s o n a l u n i o n  v o n  A r z t  u n d  D i c h t e r  in Williams, also ein Aspekt seines Wesens, auch nach 1961 ab und zu aufmerksame Beobachter. Schirmer, Matthiessen und Lipton im zweiten, vor allem Enzensberger im dritten Stadium der Rezeption hatten auf den Arzt im Poeten zu achten begonnen. „Armenarzt“,349 „Landarzt“,350 „praktischer Arzt… in einem amerikanischen Provinznest (und nicht in Berlin oder Paris, wie Gottfried Benn oder Céline)“,351 „Kleinstadtarzt, von bescheidenen Verhältnissen umgeben“352 lauteten, bedroht von der Gefahr, ins Klischee abzusinken, die einschlägigen Formeln für die medizinisch-biographische Seite dieser Personalunion. Aber Enzensberger war bereits auf Kernstellen von Williams’ Autobiography zum Thema ,Arzt und Dichter‘ gestoßen und hatte sie übersetzt, darunter jene entscheidende:

Immer werde ich gefragt, wie ich es anstelle, mit zwei Berufen auf einmal fertig zu werden. Die Leute begreifen nicht, daß der eine die Ergänzung des anderen ist, daß diese beiden Beschäftigungen nur zwei Ansichten ein und derselben Sache, nämlich des Ganzen sind.353

Eine Studie, die solche „zwei Ansichten… des Ganzen“ in sich vereinigte, steht noch als Aufgabe vor der internationalen Forschung. Innerhalb der deutschen Rezeption ist ihr Chronist schon froh, überhaupt mitteilen zu können, daß wenigstens der Tod jenes außergewöhnlichen Dichter-Arztes in der medizinischen Fachpresse Anlaß zu einem ,fachlichen‘ Williamsbild gegeben hat. H.E. Roemer-Hoffmanns Gedenkaufsatz „Die Poesie der Pflaumen im Eisschrank / Lyrik eines Arztes in der Kleinstadt / Zum Tode des amerikanischen Dichters William Carlos Williams“ gehört unter die rührendsten, bei aller Rührung zugleich komischsten Beiträge zur deutschen Sicht des überseeischen Autors.354 Das Hintereinander der drei Nachrufe, der Feuilletonartikel Krolows in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 7. März 1963, der Aufsatz in Ärztliche Mitteilungen vom 30. März, der Beitrag Kim Landers zu Colloquium im Juni des gleichen Jahres 1963, ergeben ein kleines Spektrum deutscher Haltungen zu einem modernen amerikanischen Dichter.
Der Artikel der medizinischen Fachzeitschrift fußt dort, wo er drei Gedichte zweisprachig abdruckt, auf Enzensbergers Anthologie. Das kritische Williamsporträt ihres „Nachwortes“ schimmert ebenfalls an vielen Punkten durch: im literaturgeschichtlichen Hinweis auf Williams’ Stand in der Tradition Whitmans, in der Art, wie von Enzensberger übersetztes autobiographisches Material für die Schilderung der Rutherforder Umwelt und der Einheit von Dichter und Arzt benutzt wird, im Lob des Auges für die bezeichnende Einzelheit, ja Kleinigkeit, in der Betonung des Ohres für die feinen Schattierungen der Umgangssprache, in der Übernahme der Termini „Porträtgedicht“ und „Dinggedicht“, ja selbst noch im Beachten des Themas „Zerfall“ und in der Einschätzung von Williams’ Sprache als „schwer zu übertragen“.355 Im Abschnitt „Ein deutscher Dichter über Williams“ erhält der Enzensberger des „Nachworts“ ausdrücklich das Wort.356
Eigen dagegen ist das Bemühen, das bei Enzensberger Gelesene oder das Selbstgefundene unter medizinischen Blickwinkel zu rücken. „Praxis des Arztes – Praxis des Dichters“, „Die Berufung zu zwei Berufen“ lauten zwei von den Abschnittsüberschriften.357 Die Auswahl aus Enzensbergers übersetzten Gedichten und den im „Nachwort“ angeführten übersetzten Stellen aus der Autobiography folgt medizinischen Interessen: die drei Gedichtsproben schließen neben dem anscheinend unvermeidlichen „The Red Wheelbarrow“ – es begegnet nunmehr zum fünftenmal! – das Krankenhausgedicht „Between Walls“ und die Totenbettverse „The Last Words of My English Grandmother“ ein.
H.E. Roemer-Hoffmann hat Williams’ Dichter-Kritiker Enzensberger für deutsche Ärzte mit unüberhörbarem medizinischem Akzent verdolmetscht. Die Dichter-Arzt-Union ist dabei nicht immer der Gefahr entgangen, sich zu einer Hegemonie des Arztes über den Dichter auszuwachsen:

Williams ist sich der Gegenwärtigkeit von Leben und Tod stets bewußt gewesen… Der Beruf des Arztes hat die Dichtung Williams’ entscheidend gefördert…
Die ärztlich geschulten Sinne und der ärztlich geschulte Intellekt haben die so besondere Lyrik Williams’ ermöglicht
.358

Als Gegengewicht gegen ein ausschließlich werkimmanentes oder ein literaturgeschichtliches Verständnis seines Schaffens ist dieser Nachruf eines medizinischen Fachorgans, der den ärztlichen Beruf des Autors nachdrücklich betont, durchaus von Nutzen.

 

iii. 8. Williams als Zeuge im ,Pornographie‘-Prozeß der Gesellschaft gegen die Kunst

Ein  e c h t e s  a l t e s  Motiv der deutschen Williams-Rezeption, die Personalunion von Dichter und Arzt, trat 1963 in neuer publizistischer Umwelt, der Umwelt der medizinischen Fachpresse, auf. Über zwei Jahre später findet es sein Widerspiel in einem  s c h e i n b a r  n e u e n  Motiv in alter publizistischer Umgebung. Akzente, dasselbe literarische Organ, das Williams nach dem kurzlebigen Vorspiel von Rainer M. Gerhardts fragmente und nach dem amerikanischen Zwischenspiel der Amerikanischen Rundschau und der Perspektiven 1959 als erste deutsche Zeitschrift vorgestellt hatte, lädt ihn im Juli 1965 in neuer Eigenschaft ein: als Zeugen in einem der periodisch wiederkehrenden ,Pornographie‘-Prozesse zwischen Kunst und Gesellschaft.359
Straumanns zunächst auf  A m e r i k a  bezogener ruhiger, aber frühere Unruhe andeutender Rückblick und Umblick:

There was a time when his poems were considered too frank, if not even crass, but now it is the sensibility behind them that appeals to many readers. 360

erhält drei Jahre danach plötzlich eine merkwürdige  d e u t s c h e  Aktualität. „Herausgeber und Verlag der ,AKZENTE‘“ lassen den Texten des Juliheftes, die um „Thema: Pornographie?“ geordnet sind, eine „Anmerkung“ folgen:

Einige Anzeichen in der unmittelbaren Gegenwart, Gesetzesänderungsvorschläge, Aktion ,saubere Leinwand‘ usw. lassen es einer Literaturzeitschrift geraten erscheinen, daran zu erinnern, daß Autoren, die keineswegs der Niedrigkeit verdächtig sind, zu diesen Fragen sich äußerten; ferner ins Gedächtnis zu rufen, welche Urteile von Juristen gefällt wurden und daß Urteile wie Vorurteile revidiert werden mußten. Die Dokumentation in diesem Heft führt mit Wolfgang Maier, Bulatović, William Carlos Williams und dem Genet-Komplex bis in unsere Tage. Es erweist sich dabei: es gibt kein Motiv, das nicht literaturfähig wäre, wenn es von der literarischen Komposition und Konsequenz bewältigt wird; es kann kein Motiv aus der Literatur grundsätzlich ausgeklammert werden, wenn diese ihre Aufgaben, gerade auch die gegenüber der Gesellschaft, erfüllen will.361

In dieser „Dokumentation“ ist Williams mit zwei Kurzgeschichten vertreten, mit „Die Messer der Zeit“ („The Knife of the Times“) und „Der Sohn des Matrosen“ („The Sailor’s Son“). Beide stammen aus Williams’ erstem Kurzgeschichtenbuch The Knife of the Times and Other Stories (1932)362 und gestalten Erfahrungen, die ihr Autor während der Depressionszeit im heimatlichen Rutherford sammelte. Es sind Erfahrungen des Arztes mit weiblichen und männlichen gleichgeschlechtlichen Beziehungen.363
Aus aktuellem literarisch-juristischem Anlaß und zu literarisch-juristischem Zweck setzt also Williams’ Kurzgeschichtenwerk seine bisher nur kurze Laufbahn in deutscher Übersetzung fort. Dreizehn Jahre waren seit ihrem sehr viel zahmeren Beginn, der Übertragung von „Comedy Entombed“ (Perspektiven, 1952), verflossen. Über diese zweckgebundene Wiederaufnahme ist die Eindeutschung der short stories bis zum Ende des Jahres 1965 nicht hinausgediehen.364
Nicht nur die Einbürgerung der Kurzgeschichte, sondern überhaupt die der Prosa ist, aufs ganze gesehen, hinter der Eindeutschung der Versdichtung zurückgeblieben, obwohl sie beträchtlich eher begonnen hatte. Die Übertragung der Prosa hatte – dank Michaud und seinem Übersetzer – schon 1931 mit Passagen aus Kora in Hell angefangen. „Die Zerstörung der Stadt Tenochtitlan“ als Probe aus In the American Grain (Perspektiven, 1952), ein längerer Passus aus dem Essay „The American Background“, den McCormick 1956 hatte verdeutschen lassen, durch Eva Hesse 1959 von Ezra Pound übernommene Zitate aus Williams’ Essay über „George Antheil and the Cantilene Critics“, der gesamte Wortlaut der „Einführung“ zu Ginsbergs Howl (übers. 1959), einige Stellen aus der Autobiography, die Enzensbergers „Nachwort“ (1962) als Zitat verwendet, zwei Dramen als Rollenbücher (1963) – das ist alles, was die deutsche übersetzende Rezeption aus Williams’ umfassendem kritischem Prosaschaffen sowie aus seiner Erzählprosa außerhalb der Kurzgeschichten bislang zugänglich gemacht hat. Mit Stellen, die das literarische und moralische Rebellentum des jungen Künstlers bezeugen sollten, hatte die Übersetzung des Prosaikers 1931 eingesetzt, 34 Jahre später steht sie im „Thema: Pornographie?“-Heft der Akzente abermals bei der Wiedergabe von Prosa, immerhin nunmehr von zwei kleinen Ganzwerken, nicht von Auszügen, jedoch abermals bei einer Wiedergabe zu dokumentarischem Zweck.
Dokumentationen pflegen sich nicht auf einen, sondern auf viele Belege zu stützen. So gerät Williams am vorläufigen Ende seiner deutschen Einbürgerungsgeschichte in eine Gruppierung hinein, die an literarischer Reichweite und Buntheit selbst jene schlägt, die in Pounds – übersetztem – literarischem Essay und unter der Perspektive von „Williams und die beats“ bei Lipton und Jeannette Seyppel begegnet waren. Das Juliheft der Akzente gliedert ihn einem weltliterarischen Zusammenhang ein. An literarischen Texten schließt er Aristophanes’ Lysistrate und Petronius Arbiters Begebenheiten des Enkolp, Christian Reuters Die Geschichte mit der Ratte, zwei ,Venezianische Epigramme‘ Goethes, sein Gespräch mit Eckermann „Über das Tagebuch“ und sein Gedicht „Das Tagebuch“ genauso ein wie Thomas Manns Stellungnahme zu Femmes et amis von Verlaine, Teile aus den Prozeßakten zu Baudelaires Les Fleurs du Mal, Flauberts Madame Bovary, Schnitzlers Der Reigen, Joyces Ulysses und Genets Notre-Dame-des-Fleurs. Die Kurzprosa des 20. Jahrhunderts ist neben den beiden short stories von Williams durch Jean Genet, Miodrag Bulatović und Wolfgang Maier vertreten.
Die Fülle und der Wandel der literarischen Kontexte, denen Williams hier eingegliedert ist, sind gewiß ein Zeichen seiner gewachsenen Bekanntheit und seiner Verflochtenheit mit Literatur und Kultur unseres Abendlands, vom antiken Athen des Aristophanes bis zum modernen Paris Genets. Freilich sind sie auch ein Zeichen dafür, daß die geistige Gegenwart von Williams’ Werk in Deutschland noch nicht völlig auf diesem Werk als Selbstzweck ruht, sondern als Mittel zum – literarisch-juristischen, apologetischen – Zweck. Noch immer lebt Williams im deutschen literarischen Bewußtsein zu einem guten Teil nicht als schöpferischer Einzelautor, sondern als Glied verschiedenster Reihen.
Diesen Tatbestand hat die dritte Rezeptionswelle weder mit graduell neuen noch mit alten Zügen ihres Williamsbildes geändert. Ihre größte, sie von ihren Vorgängerinnen unterscheidende Leistung beschränkt sich darauf, daß nunmehr überwiegend deutsche Initiative in beiden Formen des Williams-Verständnisses wirksam geworden ist: in der Annäherung an das Werk und seinen Autor um ihrer selbst willen, in der Einreihung der sprachkünstlerischen Individualität in literarische, gesamtkünstlerische und gesamtkulturelle, ja selbst noch literarisch-juristische Zusammenhänge.

 

iv. Ein idealtypisches Stufenmuster literarischen Rezipierens und seine Gültigkeit für die deutsche Williams-Aufnahme

„Yes, they have heard of me“ schrieb Williams 1924 aus Wien.365 „Die Entdeckung von Williams steht den Deutschen… noch bevor“ meinte 1963 Kim Lander in der Berliner Zeitschrift Colloquium: Der rückblickende Beobachter der deutschen Williams-Rezeption in allen ihren Verästelungen wird weder der einen noch der anderen Aussage bedenkenlos zustimmen. Das ,Kennen vom Hörensagen‘ hat um 1924 herum nirgendwo im deutschsprachigen Europa belegbare Spuren hinterlassen, was nicht ausschließt, daß man solche Belege doch noch finden könnte. Das harte Urteil von 1963 geht etwas zu großartig an über dreißig Jahren deutscher Bemühungen um Williams vorüber. Fast alle Stufen geistiger Annäherung an ihn zeichnen sich nämlich für das Auge ab, das vom Juliheft der Akzente (1965) langsam zu jener deutschen Fassung (1931) von Michauds Panorama de la littérature americaine contemporaine zurückschaut. Da ist das bloße Kennen des Originals vom Hörensagen oder durch Lektüre der Übersetzung und/oder des Urtextes, ein Kennen von Ganzwerken oder von Teilstücken, ja manchmal nur von bloßen Zitaten. Da ist die höhere Stufe des gründlichen Verstehens oder mindestens des Bemühens darum, eines Verstehens, das sich der Werkdeutung, des Vergleichens, des Einordnens, selten der ,wechselseitigen Erhellung der Künste‘ bedient. Da ist die wertende Stellungnahme, die manchmal auf die Vorstufe des Verstehens verzichten zu können glaubt. Da ist schließlich die tätige Reaktion auf das ausländische Werk. Sie beginnt als Übersetzung. Andere Formen wie zum Beispiel die freie Nachdichtung, die parodistische oder travestiehafte Nachahmung fehlen. Die Einschmelzung Williamsscher Anregungen ins eigene Dichtwerk ist wahrscheinlich in der deutschen Literatur der Gegenwart belegbar, aber noch nicht erforscht. Ähnliches gilt auch vielleicht von einer weiteren schöpferischen Reaktion auf Williams, der Ausbildung eines eigenen Stils, nachdem man durch das Kennenlernen eines dichterischen ,Gegentypus‘ seiner selbst um so sicherer geworden ist.
Dieses idealtypische Stufenmuster literarischen Rezipierens,366 das sich auch in der deutschen Begegnung mit Williams erkennen läßt, ist selbstverständlich primär systematisch, nicht chronologisch zu verstehen. Immerhin fängt die deutsche Einbürgerung des amerikanischen Gastes als Wissen – Wissen aus zweiter, ausländischer Hand – an; doch schon in diesem  e r s t e n  S t a d i u m  (1931–1945) wird höheren Rezeptionsstufen vorgearbeitet, dem übersetzen, dem Verstehen durch Vergleichen und Einordnen.
Die  z w e i t e  P h a s e  (1948–1961) verbreitert das Wissen aus zweiter Hand und fügt eigenes hinzu. In ihm verbindet sich Kenntnis der Werkeigenart und der Werkursprünge – in inner- und außer-amerikanischen Traditionen, in persönlichen Erfahrungen – mit Kenntnis der Werkwirkung. Diese zweite Spanne zeitigt auch die ersten Übersetzungen, vor allem aus dem lyrischen und erzählerischen Schaffen, erheblich weniger aus dem essayistischen, überhaupt nicht aus dem dramatischen, biographischen und autobiographischen. Von kurzen Zitaten abgesehen, bleibt Paterson ebenfalls unübersetzt. Auf der Stufe des Werkverstehens gedeihen das Vergleichen und Einordnen beträchtlich besser als das Interpretieren. Das Werten hält sich hinter dem Wissen- und Verstehen-Wollen zurück.
Dieses Verhältnis der verschiedenen Rezeptionsstufen ändert sich erst in der  d r i t t e n  P h a s e  (ab 1962). Das Werten drängt vor, das übersetzen steigt rasch an, bevorzugt aber wiederum am stärksten das lyrische Werk, aus dem freilich die späte Lyrik völlig ausgespart wird. Das übertragen der erzählenden Prosa gewinnt vier weitere Kurzgeschichten hinzu, traut sich jedoch nicht an die Romane heran. The Autobiography of William Carlos Williams wird nur durch übersetzte Zitate zugänglich. Dafür wird die dramatische Leistung, mindestens durch zwei Stücke vertreten, zum erstenmal eingedeutscht. Nach wie vor wagt sich aber kein Übersetzer an Paterson, keiner an das biographische Porträt der Mutter,367 keiner an die Essays zur Musik, Malerei, Dichtung, Poetik, insbesondere zur Prosodik. So bleibt ein Gutteil von Williams’ Seh- und Formungsweise unbegriffen und ungewürdigt. Zum Verstehen der Eigenart seines Schöpfertums geht man zwar immer noch am liebsten die Wege des Vergleichens und des literarischen Einordnens; dennoch wächst der Mut zum Interpretieren von Einzelwerken. Nicht „die Entdeckung von Williams steht den Deutschen… noch bevor“, wohl aber die Weiterentdeckung und die gründlichere Erforschung des schon Entdeckten.
Was an diesem aus vielen kleinen Steinchen zusammengesetzten Mosaik der Williams-Aufnahme in Auswahl und Übersetzen, in Verständnis und Mißverständnis, in Schätzung und Ablehnung eigentümlich deutsch ist, läßt sich aus dem Mosaik selbst nur unvollständig beantworten. Hier wird der Vergleich der deutschen Empfangsbereitschaft für Williams mit der anderer Länder Europas368 eine vollkommenere Antwort vorbereiten können. Diese Möglichkeit am Beispiel der britischen und der italienischen Rezeption wahrzunehmen und die Auswahl jener beiden Aufnahmeländer zu begründen, fällt Teil II dieser Studie zu. Sie hofft, die Forschung auf einem Gebiet des amerikanisch-deutschen Literaturaustausches wiederanzuregen, das seit den Untersuchungen zur Rezeption Whitmans fast keine größeren Anstrengungen mehr unternommen hat, um die Aufnahme neuerer amerikanischer Lyriker in Deutschland zu erkunden.369 Der geistige Gewinn wäre nicht nur ein amerikanischer; denn wie jede Rezeptionsgeschichte ist auch die Geschichte der deutschen Rezeption amerikanischer Lyrik ein doppelseitiger Vorgang: die oft besinnlich-allmähliche, manchmal intuitiv-rasche, nicht selten auch Irrwege gehende Wesenserschließung des aufgenommenen ausländischen Gesamtwerks erhellt, sofern sie durch die komparatistische Methode gesichert ist, zugleich das Wesen der aufnehmenden einheimischen Kultur.370

Hans Galinsky, aus Hans Galinsky: Wegbereiter moderner amerikanischer Lyrik. Interpretations- und Rezeptionsstudien zu Emily Dickinson und William Carlos Williams, Carl Winter Universitätsverlag, 1968

 

 

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Willliam Carlos Williams: die Demokratisierung der Metapher
Die Tat, 15.9.1973

Fakten und  Vermutungen zum Autor + IMDbPennSound +
MAPS 1, 2 & 3 + Internet Archive + Poets.org + Kalliope
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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William Carlos Williams – Eine kurze biographische Dokumentation.

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