Wolfgang Werth: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Wahrheit einigt“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Die Wahrheit einigt“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Die Wahrheit einigt

Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie!
Nicht wie fliehende müde Cäsaren: „Morgen kommt Mehl!“

So wie Lenin: Morgen abend
Sind wir verloren, wenn nicht…
so wie es im Liedlein heißt:

aaaaaBrüder, mit dieser Frage
aaaaaWill ich gleich beginnen:
aaaaaHier aus unsrer schweren Lage
aaaaaGibt es kein Entrinnen.

Freunde, ein kräftiges Eingeständnis
Und ein kräftiges WENN NICHT!

 

Sozusagen zu innerem Gebrauch

Nicht selten spricht Brecht in Gedichten deren Adressaten als „Freunde“ an. So auch in dieser Buckower Elegie aus dem trüben Sommer, der dem Aufstand vom 17. Juni 1953 folgte. Doch hier wendet sich der Dichter an „Freunde“ unter denen er kaum Freunde hat: an die Mitglieder der DDR-Regierung und an die des SED-Zentralkomitees. Nur für sie soll dieses Gedicht bestimmt sein – „sozusagen zu innerem Gebrauch“, wie es in dem als Begleitschreiben verfaßten Brief an den ZK-Sekretär Paul Wandel heißt. „Die Wahrheit einigt“ gehört nicht zu Brechts großen Gedichten – aber es ist einzigartig. In der politischen Lyrik deutscher Sprache findet sich nichts, was ihm zu vergleichen wäre. Seine Vorgeschichte und sein Zweck bestimmen die poetischen Mittel und den Ton. Es ist Brechts dritter (und letzter) Versuch, die Machthaber der DDR zum dringend Notwendigen zu ermutigen: zum „kräftigen Eingeständnis“ ihrer politischen Fehler und zu der Anstrengung, das Vertrauen des Volkes zu gewinnen. Wenn ihnen das nicht gelingt, hat die DDR, davon ist Brecht überzeugt, keine Zukunft. Als totalitärer Funktionärsstaat kann sie sich nicht halten. Sie muß endlich werden, wofür sie die Propagandisten nur ausgeben: eine vom Volk getragene sozialistische Demokratie.

Die große Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus wird zu einer Sichtung und einer Sicherung der sozialistischen Errungenschaften führen.

Schon am Morgen des 17. Juni hat Brecht dem „werten Genossen Ulbricht“ diesen Wink zukommen lassen – und zynischen Dank dafür geerntet. Nur der Schlußsatz seines Telegramms ist, am 21. Juni, im Parteiorgan Neues Deutschland zusammen mit zahlreichen Ergebenheitsadressen abgedruckt worden – so als habe auch Brecht „in diesem Augenblick“, also nach der Niederschlagung des Aufstandes, nur das „Bedürfnis“ gehabt, „die Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei auszudrücken“. Eine „Erklärung“, in der er noch einmal die „große Aussprache“ anmahnt, wird am 23. Juni unter der Sammelüberschrift „Für Faschisten darf es keine Gnade geben“ im ND veröffentlicht.
Nun also, doppelt düpiert, entschließt sich der Dichter, den unfreundlichen „Freunden“ hinter vorgehaltener Hand ins Gewissen zu reden, und es sieht so aus, als zwinge er sich zur Erfolgszuversicht, an deren Berechtigung er zweifelt.
„Die Wahrheit einigt“, aber Brecht fordert nicht: Sagt sie! Statt des Imperativs wählt er den Irrealis, die Aussageweise der Unwirklichkeit, und seufzt:

Freunde, ich wünschte, ihr wüßtet die Wahrheit und sagtet sie!

Unmögliches schiene der Dichter zu begehren, wenn er „wünschte“, die „Freunde“ wüßten, was sie nicht wissen, und sagten, was sie mangels Wissen nicht sagen (können). Doch das schlichte Wörtchen „und“ verlangt eine andere Lesart des Satzes. Die Wahrheit wissen und sie sagen – das gehört zusammen! Denn wer sie weiß und sie nicht sagt, der unterdrückt sie und verrät damit, daß er sie fürchtet wie vor ihr „fliehende müde Cäsaren“, die um die „große Aussprache“ herumzukommen meinen, indem sie den murrenden Massen kleine Versprechungen für morgen machen.
Nein, Brecht wirft den „Freunden“ nicht vor, sie machten diesen Fehler, er „wünschte“, sie vermieden ihn, so wie es, in ähnlich aussichtslos erscheinender Lage, Lenin getan hat. Ihm, den sie als ihren unfehlbaren Lehrmeister feiern, müßten sie doch folgen! Und zur Aufmunterung könnte ihnen das „Liedlein“ taugen. Brecht hat es in einem jener sowjetischen Aufbauromane gefunden, welche die „Freunde“ den Massen als Kraftquelle empfehlen. Es sind Verse des damals noch unbescholtenen Alexander Twardowskij.
Doch das kräftige Eingeständnis und das kräftige WENN NICHT sind ausgeblieben. Sie wären auch ausgeblieben, wenn die „Freunde“ das Gedicht gelesen hätten. Der Wille zur Zuversicht, mit dem Brecht es schrieb, scheint ihm alsbald abhanden gekommen zu sein. Im Nachlaß seiner 1974 gestorbenen Mitarbeiterin Ruth Berlau fand sich das Original des erwähnten Begleitbriefs. Wie die meisten Buckower Elegien ist „Die Wahrheit einigt“ 1967 erstmals veröffentlicht worden, elf Jahre nach dem Tod des Dichters. Weitere 22 Jahre später kam es doch noch zum Eingeständnis der Wahrheit. Zu spät. Sie einigte zwar, aber nicht in der von Brecht gewünschten Weise.

Wolfgang Werthaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2002

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