Les Murray: Der schwarze Hund

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Les Murray: Der schwarze Hund

Murray-Der schwarze Hund

ERINNERUNGEN AN DAS VERHÄLTNIS
VON GRÖSSE ZU GEWICHT

Ich war Übersetzer am Institut, damals,
als Dichter sein bedeutete,
daß man Texte gegen Vietnam unterschrieb.
Das billige Angebot verachtend, weigerte ich mich.

Und das Institut war hinter mir her,
sieben Zähne und fünf Stone zu verlieren,
wegen der Gesundheitsprüfung. Drei Jahre wich ich aus,
bot dann unter Drohung der Entlassung die Zähne an.

Von fünf bis neun, in der warmen Lane Cove,
und nochmals nachts von fünf bis neun,
mühte sich ein jährzorniger Karpatenruthene
mit ethnischen Zähnen ab. Er behauptete, der Biß

eines Menschen bestimme seine Intelligenz.
Mehr Knirschkraft schicke dem Hirn mehr Blut.
Ungarisch, jiddisch oder serbokroatisch
las er gefühlvollen Pelzschneiderinnen die Leviten,

klapperte mit einem scharnierten Schädel in der Hand
und schickte sie gesichtsbetäubt und glänzend an die Arbeit.
Das war der Familienzahnarzt meiner Frau. Er
blickte in meinen Mund, erbleichte vor dem, was er sah,

stellte mich mit seiner Okklusionstheorie in den Schatten
und kämpfte und zog. Dann hielt er ein, um eine Wolke
Rauch auszustoßen, biß sich auf seine einzige
akzentfreie Zunge und tauchte wieder ab,

um meine schwarze Flotte von Zuckerbarken zu heben,
die so verankert waren, daß er Tennisarm davon bekam.
Sieben Zähne gab ich her, um unsere Babys zu ernähren,
während Studenten riefen: Make Love! Hey Ho!

Doch es gab eine Linie, die Größe zu Gewicht hieß
und eine Parallele zum Thema Vietnam. Als ein Dozent
der Politik alle durchfallen ließ, die diese querten, und nicht
dafür entlassen wurde, waren Gelehrte wieder bei Heiliger Schrift.

Vierzehn Pfund waren ein Stone und das schon ewig,
doch der Arzt, zu dem ich als nächstes ging, war frei vom Schulhof:
Der geborene Gewichtheber! Kommen Sie in mein Fitneßstudio!
Sonette aus Fleisch konnten meinen Torso immer modellieren.

Der Modernismus ist nicht modern: Er ist Polizei und Verzweiflung.
Ich trage ihn als Fett, und er hat mein  Haar abgeknabbert,
als meine Schreibmaschine über Klüfte und Birkenauen klickte,
wo das Passiv Abnormität und Gesichter verhüllte.

Aber als das Institut von neuem meine Stelle
zu umkreisen begann, machten wir uns nach Europa davon
und gaben den letzten Sixpence für einen Schweinskopf aus.
Jeder Job ist ein Abstieg, dort, wo ich aufwuchs.

 

 

 

Der Schwarze Hund

ist ein mutiger und schonungsloser Essay über Les Murrays Kampf gegen die Depression, mit Gedichten, die der Autor aus dieser Krise heraus schrieb und seinem Essay beigegeben hat, um das Zusammenspiel von Reflexion und schöpferischem Ausdruck zu erhellen. Seit seiner Veröffentlichung im Jahre 1997 wurde das Buch um ein Nachwort und mehrere Gedichte erweitert. Auch für die deutsche Ausgabe hat Les Murray die Auswahl leicht verändert. Der Autor beschreibt, wie seine Familiengeschichte, seine Erfahrungen mit Mobbing und sein Asperger-Syndrom in einem Zusammenbruch mündeten, und wie er die Kraft fand, aus diesem inneren Dunkel heraus Gedichte zu schreiben und zugleich mit Medikamenten und Gedanken gegen es anzukämpfen. Mit der Zeit überfiel der Schwarze Hund ihn immer seltener und weniger heftig. Kein Buch des Australiers hat mehr Leser gefunden, vielleicht, weil selten ein Mensch offener zeigte, wie zerstörerisch dieses Leiden sein kann und welche Wege aus ihm herausführen.

Edition Rugerup, Klappentext, 2012

 

Der Koloss von Banyah

− Der große australische Dichter Les Murray liest in Freiburg aus seinem neuen Band. −

Der Mann ist ein Koloss, und der Dichter Joseph Brodsky sagte von ihm, er sei „einfach der Mann, in dem die Sprache lebt.“ Und so ist auch sein Werk von einer imposanten Größe, Überfülle und Wucht, aber auch Zartheit und Verletzlichkeit, dass es den Leser und mehr noch den Zuhörer Staunen macht, diese fein knarrende, ein wenig vernuschelte Stimme, ihren in einer gewissen Scheu und zugleich großer Offenheit eingebetteten Humor zu hören. Denn zweifellos haben die leidvollen Erfahrungen eines Außenseiterlebens sich tief in dieses reiche Lebenswerk – mit vielen Preisen ausgezeichnet, immer wieder für den Literatur-Nobelpreis „gehandelt“ – eingeschrieben.
Es ist zu erahnen, dass der Australier Les Murray, einer der bedeutendsten englischsprachigen Dichter der Gegenwart, der Wilde Mann ist, der nur in der Sprache überlebt: 1937 in Bunyah im australischen Outback von New South Wales als Sohn verarmter Milchbauern geboren und aufgewachsen, wird das „Down under“, das „unten drunter“ in vielerlei Hinsicht zum schwer lastenden Leitmotiv seines Lebens. Der frühe, schuldhaft empfundene Tod der Mutter, der vom Schicksal gebrochene Vater, Schulmobbing, Asperger-Syndrom sind Markierungen eines Weges, in dessen dunkelsten Zonen ihm dann der „Black Dog“, „Der Schwarze Hund“ der Depression „an die Gurgel geht“, Panikattacken ihn lähmen, die ihm alle Energie rauben.
Doch weiß er sich nicht allein:

Ich verstand nach und nach, daß der Grundton des Totalitären Zeitalters, das womöglich gerade zu Ende geht, einer klinischen Depression gleicht. Sie ist der heimliche, vereinnahmte Treibstoff vieler Guter Zwecke, und sie wird nicht enthüllt als das, was sie ist, weil sie auf der einen wie der anderen Seite des politischen Spektrums gleich gewöhnlich, gleich gut auszubeuten ist.

Was sich im Untertitel als „Eine Denkschrift über die Depression“ ausweist, transzendiert deshalb konsequent an vielen Stellen das Leiden des Individuums hinein ins Gesellschaftliche, ohne eine heilsbringende Ideologie zu beschwören. Selbst wenn Les Murray als bekennender Katholik seinen Glauben thematisiert und in seiner Dichtung reflektiert, bleibt kein fader Geschmack. Nein, es ist vielmehr eine beinah antikische Idee vom „katholikós“, vom „Allgemeinen und Universalen“, die in dem Verhältnis Religion/Dichtung die Machtverhältnisse invertiert, ja geradezu dialektisch aufhebt.

Religionen sind Gedichte. Sie bringen
unseren Tages- und Traumgeist in Einklang,
(…)

in das einzig vollkommene Denken: die Dichtung.
Nichts ist gesagt, bis es in Worten hinausgeträumt wird
und nichts ist wahr, was nur in Worten wahr ist.

Beide entspringen – inmitten der Welt und dem Universum – einem wechselseitigen Spannungsverhältnis von Überfülle und Mangel, von Schönheit und Dreck.
Und doch: Dieser Poet öffnet sich und seine Sprache mit erotischem Furor einer Welt, die ihn selbst zu zerreißen droht. Und kaum einer singt mit solcher Kraft und so schonungslos gegen jede Form von Establishment und jede Zerstörung der inneren und äußeren Natur an. Von nichts und niemand lässt er sich vereinnahmen, reißt die rhetorischen Masken auch dem Politisch-Korrekten vom Gesicht, nur um dahinter erneut das Gesicht der Macht und der Mächtigen zu entdecken. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass er lange vom offiziellen Literaturbetrieb seines Heimatlandes mit Missachtung und Anfeindungen abgestraft wurde und seine größte Akzeptanz vor allem im englischsprachigen Ausland, durch Übersetzungen dann auch international gefunden hat – um über diesen Umweg auch zuhause Beachtung zu finden.
In seinen Gedichten ist große Geschichte ebenso bewahrt wie das abseitig Alltägliche, das Heilige wie das Profane, bäuerliche Erfahrungen, Demütigungen in den Bildungsanstalten, Krankheiten und immer wieder die Natur, mit ihren sprachlosen Geschöpfen – alles löst in ihm eine Sprache aus, die in ihren Bildern von einer körperlichen Sinnlichkeit durchdrungen ist: drastisch und verstörend, vage und verletzlich – offenbar. Rettung vielleicht.
Indem er in seinen Gedichten über die vielen, oft widersprüchlichen, ja miteinander scheinbar unvereinbaren Welten in der Welt nachdenkt, sich der Sprache für die Dinge anvertraut, wird Murray zum Vermittler und Übersetzer, der dafür, dass er die so schrecklichen wie schönen Wundmale benennt, den Preis der Einsamkeit bezahlt.
„Erst der Tod“, sagt Les Murray, „ist die Pille, die den Geist reinigt.“
Mitten im Leben sollte nicht die Gelegenheit versäumt werden, diese kolossale Stimme von anderen Enden der Welt zu hören und einem Gespräch beizuwohnen, an dem die wunderbare Übertragungsarbeit der Übersetzerin und Verlegerin Margitt Lehbert mit ihrer Edition Rugerup einen großen Anteil hat. Es wird in diesen Tagen viel von geistigem Eigentum und Freiheit geredet: wenn einem solch sorgfältig gearbeitete schöne Bücher in die Hände geraten und man Dichter und Übersetzerin und Verlegerin als Beteiligte einer gemeinsamen Arbeit begreift, weiß man, dass diese Arbeit honoriert werden muss. Weil sie uns Glück verspricht – und hält.

Andreas Kohm, Badische Zeitung, 12.5.2012

Eine Krücke namens Poesie

− Dunkles Schöpfertum In einem großartigen Essay raubt der australische Lyriker Les Murray seiner Depression einen Teil ihres Schattens. −

Als Les Murray in diesem Mai gemeinsam mit seiner Übersetzerin Margitt Lehbert hierzulande sein Buch Der Schwarze Hund vorstellte, lobte er die Übersetzung des Originaltitels Killing the Black Dog. Nach Erscheinen des Originals im Jahr 1996 habe er nämlich bitter erfahren müssen, dass man „diesen Hund“ niemals töten könne (als „black dog“ hatte Winston Churchill seine Depression umschrieben). Auch Murray litt unter Depressionen, was man sich kaum vorstellen kann, wenn man den gestandenen älteren Herren erlebt, der immer wieder als Nobelpreiskandidat gehandelt wird und dessen Verse in Australien jedes Schulkind kennt.
Der Essay und die 24 Gedichte in Der Schwarze Hund sprechen aber eine andere Sprache. Als der Autor Ende der achtziger Jahre von Sidney in seinen ländlichen Geburtsort Bunyah zurückgekehrt war, schien zunächst alles gut. Doch nach einer Lyriklesung in der Umgebung sprach ihn eine alte Klassenkameradin mit seinem Spitznamen aus Schulzeiten an. Dieser Name legte in Murray einen Schalter um: „Innerhalb von zwei Tagen begann ich zu zerfallen.“ Angststörung, diagnostizierten die Ärzte dürr. Es folgten Jahre der Hilf- und Antriebslosigkeit, begleitet von Angstanfällen und durchwachten morgendlichen Dämmerstunden in der „Dunkelheit vor Tagesanbruch, in der man aufwacht und schlaflos auf den Sonnenaufgang wartet, während Sorgen und Ängste sich mit Begeisterung über einen hermachen“, wie Murray im Essay schreibt. Dass es ihm gelang, in der Depression weiterhin zu dichten, ist erstaunlich, doch die Poesie ist die Krücke, die ihn immer wieder aus der Dunkelheit führt. Poesie verlange nicht nur Disziplin, sie sei eine, sperre sich gegen Ungleichgewicht und Geschwollenheit. Er schildert das Fortleben seiner Kreativität, den Beginn seiner Arbeit am Versroman Fredy Neptune, schildert aber auch die dunklen Seiten, die Rhythmen der Erkrankung, die Kindheit als einziger Sohn einer Mutter, die nach seiner Geburt nur noch Fehlgeburten erlitt, wofür er sich die Schuld gab. Er schildert die Hänseleien, denen er als dicklicher Schüler ausgesetzt war, die Prügel, die er als Familienvater an seine beiden älteren Kinder weitergab.

Schockierende Vergleiche
Murray ist schonungslos (aber das Wort tippt sich so leicht): Durch die Erkrankung hatte er begriffen, „dass Selbstbetrachtung nur dann funktioniert, wenn man die ganze Wahrheit sagt, nichts unterdrückt.“ Indem Affekte wie Schuld und Wut, die Scham über seine bäuerliche Herkunft, seine komplexbeladene jugendliche Sexualität als Ursachen der Depression zur Sprache kommen, offenbart sich auch deren gesellschaftliche Bedingtheit. Sie gründet auf der Enge und Prüderie des ländlichen Australien der vierziger und fünfziger Jahre, auf jeglicher Form von Gruppendruck. Die Spuren der Depression lassen sich auch in dem Gedicht „Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen“ ahnen: „Der Mann, den wir umringen, dem keiner sich nähert, / weint einfach und verbirgt es nicht“. Er gleicht dem Einsamen auf Dürers Kupferstich Melencolia I, doch anders als dieser ist er umgeben vom Schweigen einer Menge, das ihn als Außenseiter stigmatisiert.
Beim Lesen wird man schockierende Szenarien und Vergleiche entdecken. Das dem Bauplan des Sonetts folgende Rockmusik beginnt provokant: „Sex ist ein Nazi. Wo du zur Schule gehst / wissen alle“, und beschreibt die Ausschlussmechanismen durch genormte Körperbilder, die Überheblichkeit der Schönheit gegen die Abweichung, den Schmerz des abgewiesenen Abweichenden. Das Gedicht Brennendes Verlangen spricht sogar vom „Erozid“ als einer „Zerstörung allen Geschlechtsgeistes“.
Wut und Empörung durchziehen diese Gedichte. Nicht von ungefähr wählte J.M. Coetzee die Überschrift „The Angry Genius of Les Murray“, als er 2011 die Bände Taller When Prone und Killing the Black Dog rezensierte. Coetzees Feststellung, dass Leute, die Murrays Lyrik aufgrund seiner konservativen politischen Überzeugungen verschmähten, das Nachsehen hätten, muss an dieser Stelle ergänzt werden. Dieses Buch sollten auch diejenigen lesen, die annehmen, man könne mit medizinischem Vokabular am besten beschreiben, was eine Depression bedingen und bedeuten kann.

Beate Tröge, Der Freitag, 14.8.2012

Les Murray – Der schwarze Hund

Les Murray berichtet vom Schwarzen Hund, seiner Depression. Er tut das in einem Essay der nichts auslässt und dennoch nur etwas mehr als 40 Seiten lang ist. Vom Tod der Mutter, dem Aufwachsen auf dem Land, Schule und Mobbing, katholisch sein und das Verhältnis zum Sex, und mehr, untersuchend, ob dort Ursachen zu finden sein könnten für seine Depression. Die Depression, die ihn bis zu einem völligen Zusammenbruch mit großer Gewalt und Macht beherrscht hat. Dann kommt tatsächlich Erlösung, Heilung, aber auch die Erkenntnis, dass sie nie ganz gehen wird, aber, dass er sie beherrschen kann, so weit, dass leben möglich ist. Immer hat er aber auch Gedichte geschrieben, eine Notwendigkeit und sicher auch häufig als Rettung, Rettungsanker, Rettungsmöglichkeit. Diese Gedichte finden sich im zweiten Teil des Buches. Es sind keine Krankheitsgeschichten, es ist lebendige Lyrik, die zwar als Hintergrund die Krankheit haben mag, die aber viel mehr ist als Krankheitsberichte, sie wären sonst ja kaum interessant für Lyrik-Leser. Und über das merkwürdige Land Australien erfährt man auch eine Menge! Ich habe Les Murray immer sehr geschätzt als Lyriker und mit diesem Buch zeigt er ein paar der Quellen seiner Gedichte, der Anlässe und Anstöße. Ich kann’s kaum sagen, Superlative sind ja immer (außer in Zeitungen, im Fernsehen, bei Straßenumfragen, in Gesprächen im Zug, im Bus, in der Werbung…) etwas vorsichtig zu gebrauchen, aber hier soll’s sein: er ist einer der größten Dichter der Gegenwart.

Siegfried Völlger, hugendubel.de, 21.9.2012

Seelenarbeit

An den auslösenden Moment erinnert er sich genau: Im dritten Jahr nach seiner Rückkehr in sein australisches Heimatdorf, bei einer sehr gut besuchten Lesung, traf der Lyriker Les Murray, Familienvater und Hausbesitzer, auf eine ehemalige Klassenkameradin.

Diese Frau erinnerte mich fröhlich an einen der Spitznamen, die sie mir mehr als dreißig Jahre zuvor gegeben hatte, und innerhalb von ein, zwei Tagen begann ich zu zerfallen.

Panikattacken und Weinkrämpfe, Stupor und ein wiederkehrender „writer’s block“ lösten sich von nun an bei ihm ab. An jedem Tag, manchmal mehrfach,

kündigte ein Kupfergeschmack in meinem Mund, den ich „intensive Geschmacklosigkeit“ nannte, eine Periode hilflosen, bodenlosen Elends an, bei der ich in Embryonalstellung auf dem Sofa kauerte, während mir Tränen aus den Augen sickerten, mein Hirn vor einem Wirrwarr von Dingen überkochte, die es sich nicht lohnt, Gedanken oder Bilder zu nennen: Er erinnerte eher an in reinem Schmerz marinierten, gehäckselten Seelentang.

Der Fachbegriff dafür heißt: Depression. In seinem erzählerischen Essay, ergänzt durch 24 Gedichte, schildert der Dichter Les Murray, 73, der seit Jahren als Kandidat für den Literatur-Nobelpreis gilt, den Umgang mit seinem „Schwarzen Hund“ – ein Name, den auch Winston Churchill seiner Gemütskrankheit gab, der sich aber bis ins Mittelalter zurückverfolgen lässt. So präzise Murray in der dichten Beschreibung ist, so offen zeigt er sich bei der Suche nach den Ursachen des Phänomens: Biografische Herleitungen und physiologische Überlegungen dürfen nebeneinander bestehen, und wo die Grenzen der Prosa erreicht sind, fängt die Lyrik an. Das gibt dem kurzen Buch eine stimulierende Balance und zeigt zugleich die Möglichkeiten der Dichtung. Denn wo man nicht erklären kann, da kann man doch begreifen.

Der Spiegel, 27.8.2012

Die Augen des Polizisten

− Echo der Depression: Der australische Dichter Les Murray stellt in Berlin sein Buch über den „schwarzen Hund“ vor. –

Als er am Dienstagabend in der Berliner Literaturwerkstatt gefragt wurde, ob er diese weltberühmten, brillant-einfältigen Gedichte vom anderen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nur deshalb habe schreiben können, weil er über zwei Jahrzehnte an Depression litt, oder ob es nicht eher andersrum sei, dass die Krankheit also daher rührte, dass er zu viel wahrnehme, zuckte der große australische Dichter Les Murray mit den Schultern. Klar, vielleicht, einerseits, andererseits, Henne, Ei. Schließlich sagte er, dass die Depression wahrscheinlich einfach „ein Erbe der Poeten“ sei, „die meisten von uns sind deprimiert“.
Das könnte der letzte Satz gewesen sein, den Les Murray, Verfasser des gewaltigen Versepos, Fredy Neptune und Urheber der klarsten, einsichtigsten Naturlyrik seiner Zeit auf einer deutschen Bühne gesagt hat. Danach schloß er die Versammlung mit versagender Stimme. Es hätte noch lange weitergehen können, das Publikum bebte vor Neugier, aber man sah dem 1938 Geborenen die Mühe an, die ihn dieser Termin kostete. Am meisten Kraft, und das mag für sein Leben ebenso gelten wie für sein Werk, schien ihn das Lachen zu kosten.
Les Murray hat sein wahrscheinlich letztes Buch Der schwarze Hund vorgestellt, es wird in Deutschland im August in der Edition Rugerup erscheinen. Dieser Prosa-Band enthält die Aufarbeitung der schweren Depression des Dichters, „meine Memoiren dieser Krankheit, mit Gedichten illustriert, nicht mit Bildern, die hätte man nicht veröffentlichen können“.
Les Murray, der auf einer Farm im australischen Busch geboren und aufgewachsen ist, kam erst mit 16 Jahren mit der modernen Welt in Berührung, als er begann, die Highschool im nächst größeren Städtchen zu besuchen. Es folgte die schlimmste Zeit seines Lebens: Er war der dicke Junge vom Land, der dieses hinterwäldlerische Idiom sprach und doch intelligenter war als alle anderen und es sie auch spüren ließ. Heute kann er sich nicht erinnern, dass ihn seine Mitschüler auch nur ein einziges mal anders angesprochen hätten als mit einem der zahlreichen Spottnamen für Übergewichtige.
Jahrzehnte später – er hatte in Sidney moderne Sprachen studiert und war längst als Literaturredakteur und Dichter erfolgreich – kehrte er zu einem Klassentreffen an den Ort des Schreckens zurück. Als ihn eine ehemalige Klassenkameradin beiläufig an all die Spottnamen erinnerte, brach die Krankheit aus, in all ihrer Gewalt. Beim Autofahren hätten ihn plötzlich unerklärliche Weinkrämpfe geschüttelt, irgendwann habe er sein Leben nur noch in Embryonal-Stellung auf dem Sofa liegend aushalten können. Er habe Tage gebraucht, um die Kraft zu sammeln, ein Buch aus einem anderen Zimmer zu holen. Die einschlägigen Medikamente hätten fast gar nicht gewirkt, geholfen habe nur das Schreiben.
Vers für Vers hat er sich den ursprüngen seiner Krankheit genähert, jedes Gedicht erschien ihm als ein Schritt zurück ins Licht, dann kam der Durchbruch: Nachdem er „Burning Want“ („brennendes Verlangen“) geschrieben habe, sei die Depressin nie wieder mit derselben Kraft zurückgekommen. Ganz verschwinden werde sie wohl nicht mehr, er werde lernen müssen, mit dem „Schwarzen Hund“ zu leben.
Vielleicht hat er das Schlimmste hinter sich: Auf dem Tiefpunkt, erzählt Murray, sei er in seinem Auto einmal von einem Polizisten angehalten worden, weil er den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte. Den „Schlagrington“ des Beamten habe er kaum aushalten können. Er habe dem Polizisten in die Augen gesehen und gesagt: „Erschießen Sie mich. … Mir hängt das Leben zum Hals raus. Pusten Sie mich mit Ihrer Kanone einfach weg.“ Der Polizist sei auf sein Motorrad gestiegen und wortlos davongefahren. Einige Jahre später habe er es wieder versucht, als Trick, aber dieses mal habe der Polizist es nicht geschluckt. Es gab einen Strafzettel. Es muß der Blick gewesen sein. Selbst ein Jahrhundertdichter kann den bitteren Kupfergeschmack, den frostigen Hauch echter Todessehnsucht nicht nachstellen. Er kann sie nur schreibend vertreiben.

Felix Stephan, Süddeutsche Zeitung, 10.5.2012

Den schwarzen Hund kann man nicht töten.

Les Murray in Lana

Im kleinen Lana las am 15. Mai ein ganz Großer aus seinem neuen Buch: Les Murray. Der Lyriker, der 1937 in New South Wales geboren wurde, wird immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Seine deutsche Verlegerin Margitt Lehberg übersetzte Killing the Black Dog, das in Australien, der Heimatstadt des Poeten zum Bestseller wurde, behutsam ins Deutsche. Im Rahmen der Veröffentlichung der deutschen Neuerscheinung unternahm Murray mit seiner Verlegerin eine Lesereise – und der Verein der Bücherwürmer holte den Dichter, der vor allem mit seiner Naturlyrik beeindruckt, nach Lana.

Waren die vergangenen Bände von Murray der „Repoetisierung der Welt“ gewidmet, wie ein Kritiker schrieb, erhellt das neue Werk zu einem großen Teil das Schaffen und Leben von Les Murray selbst. Sein immer wiederkehrender Begleiter – der Murray auch zum Schreiben antrieb – war der „black dog“, auch Depression genannt. „Man könne leicht über das Schreiben als Therapie die Nase rümpfen“, sagte der Dichter einmal, „doch seien sie einmal krank genug, dann ist es vorbei mit dem Snobismus“. Schonungslos offen erzählt er in seinem Essay über seine Krankheit. Murray schafft es in seinem Werk, der Krankheit Depression, die dem Leidenden Ausdruck und Klarheit nimmt, sie gewaltsam entzieht, im Nachhinein eine Form, eine Sprache zu geben, die eine Brücke schlägt zwischen der Isolation des Depressiven und der Außenwelt. „Mein Hirn“ so beschreibt der Autor seine depressiven Phasen „kochte mit einem Wirrwarr von Dingen über, die es sich nicht lohnt, Gedanken oder Bilder zu nennen: Es erinnerte eher an in reinem Schmerz marinierten, gehäckselten Seelentang.“ Und weiter: „Es gab Tage, wo ich den gesamten Vor- oder Nachmittag mit dem Versuch verbrachte, die Energie aufzubringen, um im Nebenzimmer ein Buch zu holen.“
Mit Xanax und der Poesie als klare Disziplin hält Murray auf  Lesereisen seinen „schwarzen Hund“ auf  Distanz, Scheinherzattacken und Tobsuchtsanfälle gehörten zu seinem Leben. In seinem Essay geht er den Ursachen der Depression auf den Grund, spürt Schritt für Schritt die verschütteten Quellen des Schmerzes auf, der immer wieder an die Oberfläche quillt, mal als dünnes Rinnsaal, mal als gewaltige Flut.
Der zweite Teil des Buches besteht aus Gedichten, die düster sind, aber auch erhellend. Die einen Lichtkegel werfen auf das Schaffen und Leben dieses Meisters englischer Sprache und auch deshalb wichtig und notwendig waren. Der Dichter schreibt in seinem Essay, der englische Titel Killing the black dog sei schlecht gewählt, weil man den Kampf gegen den schwarzen Hund nicht gewinnen kann. Doch vielleicht kann man in bannen, ganz so wie in den Märchen dadurch, dass man den Namen des bösen Zauberers ausspricht und ihm damit ein Stück seiner Macht nimmt. Murray hat diesen Schritt gewagt und macht damit vielen anderen Mut, es ihm gleich zu tun.

Christine Kofler, franz, 17.5.2012

Den schnappenden Hund anbellen

− Der australische Lyriker Les Murray schreibt ein Bekenntnisbuch über seine Depression. −

Man kann wohl nur ansatzweise ermessen, welche Überwindung es den australischen Dichter Les Murray gekostet haben mag, als literarische Instanz und öffentliche Person mit solch schonungsloser Ehrlichkeit über seine psychische Erkrankung und deren Ursachen und Folgen zu schreiben. „Ich wusste nicht, dass ich mich auf den Heimweg machte, damit ich dort verrückt werden sollte“, fasst Murray die Situation eingangs sehr lakonisch zusammen, um anschliessend verblüffend sachlich zu beschreiben, wie ihn dieser Zustand innert kürzester Zeit überrumpelt hat.
Nach dem Umzug von Sydney zurück auf das heimatliche Anwesen im ländlichen Bunyah litt Murray „lediglich unter der üblichen latenten Depression des Schriftstellers, dazu kam die gereizte Abwehrhaltung, die aus der erbitterten Spaltung der literarischen Welt entstanden war“. Doch bei einer Lesung im Jahre 1988 sollte sich alles schlagartig verschlimmern, Murray traf eine ehemalige Klassenkameradin, die ihm seinen früheren Spitznamen in Erinnerung rief. Abrupt stellten sich verschiedene körperliche und psychische Symptome ein, an deren Ende die Einlieferung in die Notaufnahme stand. Dort konfrontierte man Murray „mit einem kleinen Vortrag über die Gehirnchemie einer krankhaften Depression“.
Schlicht und ohne falsche Larmoyanz schildert Murray, wie er versucht, diese hormonelle Funktionsstörung in den Griff zu bekommen. Dabei legt er sein Innerstes gnadenlos offen und lässt nichts aus: die Wutausbrüche, die ihn schon von Kindheit an begleitet haben, die Perioden, in denen er in Embryonalstellung auf dem Boden kauert, die ungeheure Mattigkeit, bei der es ihm kaum gelingt, ein Buch aus dem Nebenzimmer zu holen, die Scheinherzinfarkte und die Panikattacken. Bei seiner Selbstinspektion muss sich Les Murray auch der eigenen Vergangenheit stellen, dem Gefühl, schuld zu sein am Tod der Mutter, den erduldeten Demütigungen und schulischen Schikanen, den selbstzerstörerischen Impulsen, den Unzulänglichkeiten als Erzieher und Ehemann.
Neben familiärem Zuspruch war die Poesie das Instrumentarium, den Ursachen der Depression auf den Grund zu gehen. Murray gesteht, es seien einige „verkrampfte, unklare Gedichte“ gewesen, die dabei entstanden, und erst die Übersetzungen aus der Natur von 1992, in denen er den Tieren und Pflanzen eine Stimme verleiht, hätten ihm geholfen, Abstand vom eigenen Selbst zu gewinnen. In diese Zeit fällt auch der Beginn des ungeheuren Versromans Fredy Neptune, doch anders als dessen mit übermenschlichen Kräften ausgestatteter Protagonist muss Murray sein nicht früh genug diagnostiziertes Asperger-Syndrom, den daraus resultierenden Mangel an sozialer Kompetenz und die sexuelle Frustration ganz allein mit den Mitteln der Dichtung verarbeiten. Murray spart an diesen Stellen nicht mit bissigen Seitenhieben auf die ungesunde Prüderie seiner Jugendtage und das gehässige Verhalten seiner Umwelt.
In einer Nachschrift gesteht Murray, dass es nicht möglich ist, den schwarzen Hund der Depression ein für alle Mal zu töten; man kann nur den Umgang mit ihm lernen. So ist das Buch ein Rechenschaftsbericht, aber auch eine Abrechnung mit Teilen des Literaturbetriebs und nicht zuletzt ein Trostbüchlein für alle Leidensgenossen. In der zweiten Hälfte des Bandes illustrieren 24 ausgewählte Gedichte die verschiedenen Depressionsphasen, und es spricht für den Autor, dass er sich nicht scheut, auch das eine oder andere jener „verkrampften, unklaren“ Gedichte aufzunehmen. Der Tonfall dieser Gedichte wechselt von der zarten Beschreibung eines Mannes, der mitten auf der Strasse weint, zu wütenden Klagen über das erlittene Unrecht, da ist etwa von „Erozid“ und „Herzhorror“ die Rede, von den Nöten und Ängsten, nicht einer bestimmten Schönheitsnorm zu entsprechen. Bei aller persönlichen Betroffenheit bleibt Les Murray auch hier stets ein Seismograf gesellschaftlicher Phänomene.

Jürgen Brôcan, Neue Zürcher Zeitung, 29.1.2013 

Hannibal Lecter als Psychiater

− Der große australische Dichter Les Murray legt in Der Schwarze Hund Zeugnis ab von seiner Depression. −

Die Dichter werden immer jünger, smarter, aufgeräumter, sind vielseitig einsetzbar und uneckig, sie sind gut gelaunt und gut vernetzt, gut, aber nicht zu gut, und beginnen ihre Lesung pünktlich mit viertelstündiger Verspätung. Schwachstellen können sie sich kaum leisten, wollen sie weiter mitmischen und in die Goethe-Institutswelt verschickt werden. Der Lorbeer ist außer Reichweite, der prekäre Mittelstand nah. Den Dichter gibt es aber auch in der Einzahl. Der Australier Les Murray gilt als einer der bedeutendsten Poeten der Gegenwart, als Nobelpreiskandidat. Sein Versepos Fredy Neptune hat eine Wucht und Tragweite, die noch nicht mal den Vergleich mit Homer oder Dante fürchten muss. Nun erscheint hierzulande seine Bekenntnisschrift Der Schwarze Hund: Les Murray ist depressiv. Seine Größe ist keine feste Größe, da ist nichts stabil.
Murray erzählt von seiner Rückkehr in die Heimat, nach Bunyah, in den Busch, und wie mit den Erinnerungen auch die Krankheit hochkam, nach einer Lesung, als eine frühere Mitschülerin ihn mit seinem alten Spitznamen ansprach:

Innerhalb von ein, zwei Tagen begann ich, zu zerfallen. Ich litt plötzlich an einem schmerzhaften Kribbeln in den Fingern, beim Fahren packten mich lange Weinanfälle.

Vom Beginn des Schubes bis zum vermeintlichen Ende der Krankheit, als er mit einem Leberabszess ins Krankenhaus eingeliefert wurde, schildert Murray alle Stationen der Depression, und wie sie aus der Verschattung seiner Schulzeit hervorging. Er erkundet die Dramen seiner Familie, die Lasten seiner Eltern und Großeltern, die er als dicklicher, gehänselter Jugendlicher mit sich trug, und windet sich noch einmal unter den Erinnerungen an all die Zurückweisungen, die er vor allem durch Mädchen erlitt. Hannibal Lecter aus Das Schweigen der Lämmer wird zu seinem zweiten Psychiater:

Er machte mir klar, dass Selbstbeobachtung nur dann funktioniert, wenn man wirklich die ganze Wahrheit sagt und nichts unterdrückt.

Diese Lehre gibt Murray weiter.
Der Schwarze Hund ist ein verstörendes Buch. Sein Verfasser outet sich als Paria, der seine Lesereisen mit Präparaten wie Xanax meistern musste, der in Embryonalstellung auf der Couch Panikattacken erlitt und an schlechten Tagen mit drei bis vier Scheinherzinfarkten rechnen musste. Indem er sich so ungeschützt zeigt, macht er anderen Mut, zu sich zu stehen, statt eine Identität über sich zu stülpen, die etwas hermachen soll. Aber die zweigeteilte Publikation aus einem Aufsatz und Gedichten zeigt nicht nur, was Murray zeigen will, sondern auch das, was er nicht sieht, was seinem Blick entgeht.
„Sex ist ein Nazi“, so beginnt sein Gedicht „Rockmusik“, „doch was“, fährt er fort, „ist ein Nazi mehr als Sex, hochgeschaukelt für die Massen?“ Die Kränkung des Heranwachsenden, der bei der sexuellen Selektion den Kürzeren zog, in allen Ehren, aber dem Dichter will die Verarbeitung nur bedingt gelingen. Der Pausenhof bleibt seine Vorhölle. Mit ihm verbindet er alles, was er verabscheut, „Dinge wie Demonstrationen, bei denen ich immer das Echo des Schulhofs höre, oder Radikalismus, der den Schulhof zu einer ganzen ideellen Welt vergrößert“. Auf die Generation der Achtundsechziger reagiert er allergisch, lässt aber ungeklärt, was er ihr vorhält. Murray wirkt, als würde sein Denken überschwemmt von seinen Verletztheiten und deren Eigenleben. Nicht alle Gedichte sind großartig, manche tragen nicht nur die Spuren seiner Kämpfe, sondern auch die seiner Kämpfchen und kommen nicht weiter. Na und? Wir könnten uns nun von Murray enttäuscht abwenden, aber das wäre schade. Denn die Lehre des Schwarzen Hundes könnte doch lauten, dass wir unvollkommen sein dürfen und dass wir dennoch großartig sind oder sein könnten, manchmal jedenfalls. Gleichbleibend groß sind nur Statuen.

Dieter M. Gräf, Die Zeit, 15.2.2013

Der Schwarze Hund

– Lyrischer Moment. –

Vor kurzem las der große australische Dichter Les Murray als Stargast einer langen Lyriknacht im Salzburger Literaturhaus, und er präsentierte sich so, wie ich es schon vorher von Freunden erzählt bekommen hatte: witzig, in die Breite gehend und behäbig, gut gelaunt und einem ordentlichen Abendessen nicht abgeneigt. Der langjährige Nobelpreiskandidat in ausgebeulter Hose und mit der ewig speckigen Baseballkappe auf dem Kopf beziehungsweise vor sich auf dem Lesepult erzählte in der Pause backstage Witze und brachte auf der Bühne eine spaßige Leierkastenbewegung an, wenn ihm die biografische Einführung seiner Übersetzerin Margitt Lehbert ein wenig zu lang geriet. Am Büchertisch kaufte ich mir ein Buch von ihm für die Rückfahrt, das ich noch nicht hatte, und Murray schrieb hinein: „für Silke. Mit meinen Gratuliere!“, „gratuliere“ groß geschrieben. Auf seine freundliche Nachfrage hin behauptete ich, hingerissen von diesem Mann, das sei grammatikalisch völlig korrekt.
Das Buch heißt Der Schwarze Hund. Eine Denkschrift über die Depression, und auf der sechs Stunden langen Rückfahrt im Eurocity verschlang ich es. Murray erscheint darin als feinfühliger, hoch sensibler – und zeitweilig sehr kranker Mann. Er schreibt über eine der kritischsten Phasen im Leben eines Menschen: die Depression. Über die Mühe, auf dem Land einen Rettungswagen zu bekommen, da die Ärzte immer gerne unterstellen, die Fahrzeuge würden als Taxen missbraucht, über Krankenhausaufenthalte, Blutabnahmen und Herzrasen und zuletzt den Psychiater Dr. Richardson, bei dem er vorsprach und der endlich die aus dem Lot geratene Gehirnchemie als Grund des Leidens erkannte. Der bei ihm eine schwere Depression diagnostizierte und mit ihm die übliche Versuchstour durch das Medikamentenangebot der Pharmaindustrie unternahm, bis zuletzt Fluoxetin half und der „Schwarze Hund“, wie Murray seine Krankheit inzwischen nannte, nicht besiegt, aber doch in Schach gehalten werden konnte. Das äußere Zeichen, dass dies gelang, ist selbstverständlich zuallererst die Tatsache, dass er ein Buch darüber schrieb, das seine Leser in der ganzen Welt in den Händen halten dürfen. Im Anhang der „Denkschrift über die Depression“ finden sich Gedichte, die Murray in Krankheitsphasen schrieb und die er selbstkritisch „überkonzentriert und untererklärt“ nennt, „auf eine Weise, die nichts mehr mit Experimentierfreude zu tun hat“. Sie heißen „Die Schuld“ oder „Panikattacke“, beginnen mit Albträumen oder Familiengeschichten und enden etwa so:

Entspann dich. Mit der Zeit wird
Dein Stundenglas wieder gewendet.

„Der Schwarze Hund“ ist übrigens der Ausdruck, den Winston Churchill für seine Depression benutzte und der sich zurückverfolgen lässt über den schwarzen Pudel bei Mephistoteles erstem Auftritt in Faust I bis zu Überlieferungen von bösen Geistern und Besessenheiten im Mittelalter. Murray schreibt, dass es ihm im Nachhinein vor allem um die viele Zeit leid tue, die er der Krankheit opfern musste, über Jahre hinweg immer wieder ganze Tage und Wochen, die er „in Embryonalstellung auf dem Sofa kauerte, während mir die Tränen in die Augen sickerten, mein Hirn vor einem Wirrwarr von Dingen überkochte, die es sich nicht lohnt, Gedanken oder Bilder zu nennen: es erinnerte eher an in reinen Schmerz marinierten, gehäckselten Seetang.“ Seine Frau pflegte ihn, doch die ländliche Umgebung hatte für „so etwas“ kein Verständnis, man nannte das mangelnde Selbstbeherrschung oder „sich aufführen“, so blieb Murrays „Schwarzer Hund“, wie viele psychische Krankheiten, lange sein Geheimnis. Aber er lernte eben auch, mit dem Hund umzugehen. Neben Dr. Richardson, schreibt er, wäre Hannibal Lector [sic!] im Film Das Schweigen der Lämmer sein Psychologe gewesen, von ihm habe er gelernt, dass Selbstbetrachtung nur dann funktioniert, wenn man die ganze Wahrheit sagt und nichts unterdrückt. Der Essay ist alles in allem ziemlich witzig geschrieben, ein Wunder bei dem Thema, und er ist allen zu empfehlen, nicht nur jenen, die das Hundemonster selbst kennen. Murray spricht darin über seine Sexualität, die Abweisungen durch Mädchen, die er als Schüler erfuhr, und zuletzt darüber, dass erst „schmerzgeplagtes Nachdenken vielleicht die Bedingung für eine tiefe innere Veränderung schafft“, dass die Schwarzen-Hund-Gedichte, mit denen er sich damals abmühte, ihn wieder in den Zauber des Schreibens führten.
Nachdem man lesend mit dem Dichter mitgelitten hat, bekommt die Lektüre etwa eines Murrayschen Sommergedichts wie „Der Traum, für immer Shorts zu tragen“ (das sich in seiner gerade auf Deutsch erschienenen und wieder von Margitt Lehbert wunderbar übersetzten Best-Of-Murray-Anthologie Aus einem See von Strophen findet) noch einmal einen neuen Reiz. Darin heißt es:

Nach Hause gehen und für immer Shorts tragen
auf den riesigen Weiden, in diesem warmen Klima,
dazu einen Pulli, wenn Winter das Gras tränkt,

auf ewig an den Flussbiegungen draußen
campieren, in Shorts, mit einem Taschenmesser,
einer Angelschnur und Streichhölzern,

oder dort, wo die Hügel enden, unter der Ebene,
abends entspannt in Shorts
auf der Holzveranda sitzen –

So träumt wohl nur einer, der die Schatten und Dämonen des Lebens kennt und bezwungen hat.

Silke Scheuermann, Volltext, Heft 2, 2014

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Elke Engelhardt: Der Hundebändiger
fixpoetry.com,  18.9.2012

Matthias Fersterer: Schwarzer Hund Depression
oya, Ausgabe #16/2012

 

Les Murray im Interview:

Christine Kofler: Ihr neues Buch Der schwarze Hund enthält ein sehr persönliches Essay. Ist es Ihnen schwer gefallen, so viele persönliche Details aus Ihrem Leben, Ihrer Kindheit und Jungend, ihrer Leidenszeit mit der Depression einem so breiten Publikum bereitzustellen? Und was hat Sie motiviert, dieses Essay zu schreiben und zu veröffentlichen?

Les Murray: Ich wollte darstellen, wie es mir und vielen anderen geht. Die Depression ist die am weitesten verbreitete Geisteskrankheit der Welt. Trotzdem glauben die Opfer der Krankheit oftmals ganz allein zu sein. Ich persönlich war froh, wenn man mir erklärte, dass ich nicht der einzige mit dieser Krankheit war – dass ich nicht allein bin. Obwohl ich als Einzelkind und Asperger-Erkrankter für die Einsamkeit gut ausgestattet war.
Ich habe zwei Phasen von Depression erlebt: Einmal im Alter von 20 Jahren, dann noch einmal mit 50 Jahren. Während der ersten Phase, die zwei Jahre gedauert hat, bin ich meine Bücher, meine Schreibmaschine und alles los geworden und zwei Jahre lang über das Land geschwebt, durch Australien getrampt. Die zweite Phase war sehr stark, es waren schlechte Tage. Es scheint so, dass die Krankheit viele Schriftsteller ereilt. Heitere Leute sind wir nicht.  Vielleicht, weil wir mehr sehen und unsere Vorstellungen von der Welt an der Wand des Lebens zerschellen. Wir Schriftsteller sind vielleicht dem Orakel am nächsten.

Kofler: Auf der Tare High School haben Sie ihre Lehrer mit australischer Poesie und englischer Literatur versorgt. Dadurch, schreiben Sie, „verschafften sie mir Eintritt zu einer Kunstform, von der sie vielleicht ahnten, dass sie mich retten könne, obwohl meine mir unbewusste Begabung dafür vielleicht meine Misere mit verursachte.“ Hat Sie das Schreiben gerettet? Ist es Fluch und Segen zugleich? Hilft Schreiben, die Angst zu vergessen?

Murray: Ja, das Schreiben hat mir geholfen. Ich habe zur Krankheit gesagt, du bringst mich zum Weinen, dann bringe ich dich auch zum Weinen. Ich ringe dir deine Geheimnisse ab. Während eines depressiven Schubes habe ich Freddy Neptune geschrieben. Es gab Gedichte – nachdem ich sie geschrieben hatte, ging es mir besser. Schreiben als Therapie wird oft belächelt – doch wenn es dir wirklich schlecht geht, wenn du verzweifelst, wenn in deinem Kopf nur mehr glänzende Scherben sind, dann nimmst du alles an, was dir helfen könnte.

Kofler: Nachdem Sie 1996 aufgrund eines Leberabszesses ins Koma gefallen sind, hat sich der schwarze Hund einige Zeit zurückgehalten…

Murray: Oh ja, ich habe drei Wochen im Koma verbracht. Das war ein Leben ohne Erleben. Ich dachte, eine halbe Stunde wäre vergangen. In Wirklichkeit waren es drei Wochen. Meine Frau hat drei Wochen an meinem Bett ausgeharrt, für sie war es eine lange Zeit. Als ich wieder zu mir kam, hatten sich meine Muskeln zurück gebildet. Ich fragte nach einer chinesischen Suppe. Meine Aborigines-Tante, die noch nie in einem chinesischen Restaurant war, brachte mir eine, später brachte mir meine Frau noch eine. Ich aß sie, und danach ging es mir besser.

Kofler: Seit wann schreiben Sie? 

Murray: Ich schreibe regelmäßig seit etwa 50 Jahren. Die Gedichte haben immer Vorrang, auch wenn auf meiner Farm andere Dinge zu erledigen sind. Die Tiere meines Verwandten weiden auf unseren Wiesen. Ich schreibe mit der Hand und ich tippe auf meiner Schreibmaschine. Es wird immer  schwieriger, die Bänder dafür zu bekommen.

Kofler: Margitt Lehbert, zugleich Verlegerin und Übersetzerin von Les Murrays Werke ins Deutsche, wie kamen Sie mit Les’ Werken in Kontakt?

Margitt Lehbert: Durch ein Stipendium des Hanser-Verlages konnte ich nach Australien reisen, um an der ersten deutschsprachigen Ausgabe von Murrays Gedichten zu arbeiten (1996). Les und seine Familie luden mich ein, bei ihnen auf der Farm zu wohnen. Durch das direkte Erleben von Les’ Umfeld und seiner Sprache, des australischen Idioms, konnte ich die Gedichte genauer und besser übersetzen. Ich blieb einen Monat auf der Farm und trampte dann noch ein wenig durch Australien. Dies hat mir sehr geholfen, Les’ Werke besser zu verstehen.

Kofler: Die deutsche Presse, beispielsweise Die Zeit, lobt Ihren Sprachfuror und Ihre Originalität bei jedem neuen Buch das erscheint, immer wieder in höchsten Tönen. Sie schreiben in Der schwarze Hund, dass Sie von den Intellektuellenkreisen in Australien regelrecht gehasst wurden. Der Chefredakteur der einzigen überregionalen Tageszeitung ließ von den eigenen Mitarbeitern Leserbriefe gegen Sie schreiben. Warum?

Murray: Ja, praktisch, nicht? Wenn man das gleich selbst macht. In Australien wollte man meine Gedichte dem großen marxistischen Epos unterordnen. Die Eitelkeiten einer neuen Elite wollten befriedigt werden. Die linke, weiße Aristokratie sah sich als legitime Nachfolger der weißen Siedler und nahmen für sich das alleinige Wort in Anspruch. Mir gefiel das nicht.

franzmagazine.com, 17.5.2012

Menschenopfer

– Les Murray im Gespräch mit Thomas Poiss über Dichtung und Religion, Europa und Australien, den Vers-Roman Fredy Neptune und den Schwarzen Hund. –

(…)

Thomas Poiss: In Ihrem Gedicht „The Trances“ entwickeln Sie eine ebenso knappe wie weitreichende Theorie des Dichters: Als Schamane kommt der Dichter aus der Eiszeit her, er ist Träger der ältesten Tradition, er deutet, ja er ermöglicht durch seine Sprache unsere tiefsten Erfahrungen – und zugleich bringt es Unglück, ihn dafür zu bezahlen, „it’s unlucky to pay him“. Dieser Satz durchkreuzt das Pathos des Textes höchst wirksam durch Verweis auf die prekäre wirtschaftliche Situation der Dichter. Können Sie die öffentliche Stellung des Dichters aus Ihrer heutigen Sicht kurz umreißen?

Les Murray: Unser Instinkt, heilige Dinge, letzte Dinge nicht zur Ware zu machen, ist sehr alt und sitzt tief. Er wird ein wenig seltener auf Dichtung angewendet als auf Priesterschaft und Klosterleben und sehr viel weniger auf die anderen Künste, die bis zu den letzten paar Jahrhunderten Zünfte waren und nicht erhabener Luxus wie Dichtung. Vor kurzem schrieb ich ein Gedicht, das den Grund heraushebt. Die Schlußstrophe lautet:

Wie konnte Geld das Leben wegschnappen
fort von Dichtung, Ideologie, Religion?
Es wollte nicht unsere Seelen.

Sehr viele Leute mögen Geld – nicht wegen seiner Macht, sondern auch wegen seiner Gleichgültigkeit, wegen seiner radikalen Kälte. Viele Menschen hassen es, eine Seele zu haben, und sind glücklich, wenn sie sie abgeschüttelt haben. Ein anderer Untertitel für Fred könnte daher lauten: „Der Mann, den man zwang, eine Seele zu haben“. Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen: Ich fürchte, unsere ökonomische Situation wird immer prekär bleiben. Immer neue Patrone erstehen, und alle wollen sie immer mehr oder weniger als das, was wir geben können. Sie wollen, daß wir die Welt mit ihren Augen sehen und Propaganda für ihre Interessen machen. Sogar die angeblich unabhängige Finanzierung durch einen Fonds, den unsere Regierung vor ungefähr dreißig Jahren gegründet hat, ist dem Geist des sowjetischen Schriftstellerverbandes erlegen. Die politische Kontrolle war sehr subtil, aber sie war da. Ich bin seit langem schon draußen, spiele keine Galionsfigur mehr und komme seit damals durch mit Lesungen, Tantiemen und den seltsamen plötzlichen Erträgen, die einem Schriftsteller bisweilen in den Schoß fallen. Ich finde, daß ich es eigentlich so mag. Es erinnert eher an ein Abenteuer, vor allem jetzt, da mich keiner mehr anstellen würde. Zu alt, zu exzentrisch, zu schlechter Ruf.

Poiss: In Arabien, heißt es, füllen Dichter Fußballstadien, in Australien werden Lyrikbände bisweilen in Auflagen von 15.000 Stück verkauft – in Europa dagegen lesen Sie eher vor Auditorien von einer Handvoll Literaturhaus-Besuchern: Können Sie die Marginalisierung von Dichtung in Europa erklären?

Murray: Ein Fußballstadion voll mit Fans von Dichtung wäre schrecklich für mich. Es käme der Stimmung auf einem Parteitag viel zu nahe. Für eine Zuhörerschaft dieses Ausmaßes muß man zu sehr vereinfachen, zu viel gutheißen. Eine große Leserschaft, das ist gut. Aber ich könnte mit dem Kontakt zu so vielen Menschen auf einmal nicht umgehen. Ich hatte schon – wenige Male – Auditorien von tausend Menschen, aber am glücklichsten bin ich mit der kleinen Literaturhaus-Größe von fünfzig bis zweihundert. Es sind die gleichen Menschen, in ihrem Aussehen und ihrer Haltung, ob man nun in Deutschland, in Australien oder in Amerika oder wo auch immer vor ihnen liest, die aus freien Stücken kommen und Dichtung wirklich mögen, dazu ein paar Freunde oder Studenten, die sie vielleicht mitgeschleppt haben und die vielleicht eben gerade bekehrt werden. Sie sind meine wahre Nationalität, die poetry people, und ihre aufmerksame Stille mitsamt den unbewußten Geräuschen ist eine beredte Kommunikation für den eigenen unbewußten Geist.
Ich glaube nicht, daß es irgendetwas Neues über Poesie-Blindheit zu sagen gibt, obwohl der natürlicherweise langsame Absatz von Gedichtbänden in letzter Zeit durch den marktgetriebenen Irrsinn der Verleger und Buchhändler mutwillig zerstört worden ist, die ein Buch sofort verramschen, wenn es keine gute performance bietet und Tausende Stück pro Woche verkauft. Unser tatsächliches Publikum war zu allen Zeiten klein; ich schätzte es einmal auf eine Million auf dem ganzen Planeten. Nichts kann – und braucht – in dieser Sache getan werden. Hektische Verkaufsanstrengungen vergraulen nur die Menschen; wie in der Schule.

Poiss: Traumbewußtsein und psychische Extremzustände spielen in Ihren Gedichten eine bedeutende Rolle: Haben Sie so etwas wie eine Inspirationstheorie?

Murray: Habe ich eine Theorie? Hm, das ist aber eine gefährliche Frage. Meine Theorie – ganz einfach ausgedrückt – lautet, daß Menschen drei Geistformen besitzen, d.h. das vernünftige Tageslichtbewußtsein, den träumenden Geist, der unter dem wachen Leben als Träumerei dahinfließt und zu sich kommt, sobald wir schlafen, und den Körper; unser körperliches Leben und die Sinne, wenn Sie so wollen. Inspiration – sofern sie nicht wirklich von Gott kommt – bezeichnet als Wort das, was geschieht, wenn diese drei Geistformen gleichzeitig am selben Material aktiv sind, indem sie es denken, es träumen, es als Geste und Tanz aufführen. Dieses Zusammenspiel der Impulse sucht eine Art von Verkörperung (incarnation) für sich selbst. Wir geben ihm einen realen Körper, der auch unser eigener sein kann oder ein äußerer, der für eine Zeitlang dauert, bisweilen sogar sehr lange, wie eine Skulptur, ein Gedicht oder ein Gemälde es vermögen. Ich glaube aber auch an göttliche Inspiration als eine seltene Auslöserin dessen, was ich gerade beschreibe; aber Menschen, die keinen Glauben haben, können die Idee eines Zusammenspiels menschlicher Eigenschaften akzeptieren. Ein tiefgehender Schock kann einen Menschen ganz gewiß im selben Maß auseinanderreißen, wie der schöpferische Vorgang die Geistformen integriert.
Ich kenne keinen Mythos, in dem ein Mann sich auflöst und weiterlebt. Ich mache da einen Unterschied, nur recht und billig, zwischen dem, was wir üblicherweise Gedichte nennen – kurze Texte, mit Reim und Metrum oder ohne – und den analogen, gedichtartigen Gebilden, die Menschen in ihrem Leben finden oder erschaffen, um sich mit Sinn und tiefer Befriedigung zu versorgen. Das kann ihre Berufung sein oder ihre Hochzeit oder ihre Politik oder ihre Hobbys. Denken Sie an all jene, für die die Dichtung des Lebens aus ihrem exakten Platz im Feudalsystem erwuchs und den Bräuchen und komplizierten Begrüssungsformeln, die von ihnen verlangt waren. Wie viele Menschen, die die Dichtung des Pferdes lebten, haben Nachfahren, die sich dem Porsche und dem Formel-1-McLaren hingeben? Viele dieser metaphorischen Gedichte sind gutartig, aber nicht alle. Hitlers Gedicht, Lenins Version von Marx’ Gedicht oder Maos Version. Millionen können daran sterben und dazu verpflichtet werden, dieses Faktum auch noch im voraus willkommen zu heißen. Eine gute Probe für jedes poetische Gebilde ist die Frage, wie viele Menschenopfer es verlangen könnte. Dichtung modelliert alle Bereiche menschlicher Kreativität, doch das ist die wichtige Grenzbedingung. Verlangt dein Gedicht Menschenopfer, und wenn ja, wird das immer so sein oder nur manchmal? Kann es dieses Erfordernis zuletzt abschütteln? So fragen wir: Wird dieses Gedicht meinen Leib erfordern und den von anderen, um Fleisch zu werden? Im Gegensatz dazu sind unsere kleinen, aus Versen oder Prosa gemachten Gedichte im allgemeinen vollständig, wenn wir sie beenden, und erfordern keine Hinzufügungen an die Körper, die sie erlangt haben.

Poiss: Sie sind ein belesener Autor. Allein das Vorkommen eines Rilke- und eines Mörike-Gedichtes in einem zentralen Passus der Handlung läßt ahnen, wie weit Ihre Kenntnisse reichen: Welche Autoren waren für Ihre eigene Entwicklung entscheidend?

Murray: Was Rilke und Mörike betrifft, so kennt sie jeder, der überhaupt irgendwelche deutsche Dichtung gelesen hat. Ich kam zu ihnen und dem übrigen deutschen Kanon durch das wunderbare alte Penguin Book of German Verse in den späten 50er-Jahren. Die Familie meiner Frau sang sogar Weihnachtslieder aus diesem Buch, zumindest solche, die sie nicht schon aus der Schweiz kannten; und es war auch das Buch, das mich den Wert der Dichtung in Dialekt lehrte, gegen welche die englische Tradition immer sehr abweisend gewesen war. Was meine maßgeblichen Einflüsse betrifft, so haben es Dichter im allgemeinen gar nicht gern, diese offenzulegen. Nicht zuletzt deshalb, weil jegliche Liste von Dichtern, die ich eingehend gelesen habe, immer angeberisch und stumpfsinnig wäre. Mein wirklich größter Einfluß war stets Anthologus, der Sammler von Gedichten aus vielen Händen und von überallher. Ich habe immer Gedichten den Vorzug vor Dichtern gegeben. Die Aborigines sagen, daß kein Traum-Lied einen Menschen zum Verfasser hat. Lieder, um sich selbst auszudrücken, Lieder von bekannten Autoren, heißen rubbish-songs bei ihnen.

Poiss: Fredy Neptune arbeitet als Statist in Hollywood, begegnet Marlene Dietrich und bekommt Einblick in die westliche Traum-Industrie: Welche Rolle spielt das Kino für Ihre Ästhetik?

Murray: Ich liebe Filme, und das, seitdem ich vier war und meine ersten sah. Ich glaube, einer der ersten war Anna Seghers’ Das siebente Kreuz. Filme sind Kunst für die einfachen Leute. Man muß sich nicht gut anziehen, wenn man hingeht, und auch nicht seine Redeweise anheben. Ich könnte mir allerdings nie vornehmen, selbst Filme zu machen: Sie kosten zuviel und brauchen weit mehr Zusammenarbeit von Menschen – bei der Herstellung noch mehr als danach –, als ein geborener Einzelgänger ertragen kann. Und: Film ist auch eine zusammengesetzte Kunstform, wie die Oper, ein Zusammenspiel verschiedener Kunstformen, während Dichtung all ihre Wirkungen sozusagen durch ein einziges schmales Rohr hindurch erzielt. Die Kraft in einem Kunstwerk kommt durch das völlige Eintauchen in die ästhetische Erfahrung, aber in Wirklichkeit flackert diese Erfahrung, da sie nicht lange Zeit auf einmal durchgehalten werden kann; wir fliehen davor und kehren zurück, von einem Augenblick zum anderen. Der Film stellt dieses Flackern dar und lebt davon.

Poiss: Sie haben sich einmal in die „böotische“ Tradition gestellt, die Tradition des endlosen Viehtrecks der Indoeuropäer, die schließlich auch Australien erreichten und dabei den Gegensatz Stadt–Land auch in der Dichtung mitbrachten. Böotien, das ist das kontrastierende ,Hinterland‘ zu Athen. Bezieht sich ,böotisch‘ nur auf diesen Kontrast oder auch direkt auf den böotischen Dichter Hesiod?

Murray: Ich habe einmal Hesiod geliebt, und sein Böotien war ein halbernstes Spiel, das ich mit dem Dichter Peter Porter vor mehr als zwanzig Jahren spielte. Dann fand ich heraus, daß andere es vor mir mit allem Ernst gespielt hatten, und so hörte ich auf damit. Ich wollte eine Argumentationslinie gegen die unausgewogene Über-Urbanisierung und das Abwerten aller sogenannten provinziellen Heimatorte. Die deutsche Kultur scheint wesentlich weniger anfällig für diesen Fimmel, kleine Orte und Gegenden zurückzusetzen zugunsten von Metropolen, wie Rom es war. Als Bundesstaat haben wir meines Erachtens mindestens zwei Paris in Australien: Sydney und Melbourne. Dazu noch vier kleinere in den vier anderen Bundesstaaten. Und alle Hauptstädte der einzelnen Bundesstaaten sind viel zu groß für ihr jeweiliges Hinterland und saugen diesem das Leben aus.

Poiss: Hat die antike Tradition für Sie (für Australien) noch Bedeutung?

Murray: So viel Bedeutung wie immer, aber einige wenige kennen sie oder suchen danach. Nicht verwunderlich in einem Land, dessen nördlichste Universität ihr Anglistik-Institut auflöste zugunsten von Indonesisch mit der Begründung, daß Indonesien näher liege!

Poiss: Ganz am Ende des Romans geschieht ja etwas Ungeheures, eigentlich Skandalöses: Fred vergibt den Schwachen, den Opfern – und Gott. Warum reiht Fredys innerer Dialog Gott unter die Schwachen?

Murray: Die Menschen denken, daß Gott entweder schwach und unfähig ist, sie zu retten, oder eben grausam dadurch, daß er dazu nicht bereit ist. Diese doppelte Anklage ist weit verbreitet, und es würde mich wundern, wenn sie nicht auch auf Fredy wirken würde. Man glaubt, daß die von Gott gewährte Wahlfreiheit unerträglich ist und daß man sie ihm zum Vorwurf machen kann. Auch ich selbst muß mir vorsagen, was wir für Marionetten und wie unwirklich wir wären, wenn Gott sich die meiste Zeit einmengte, um uns zu retten. Ich selbst mußte Gott vergeben. Wenn ich das anderen Christen erzähle, schockiert sie das sehr oft. Ich beneide dann ihren größeren Glauben, aber ich finde, ich bin besser im Hoffen als im Glauben.

Poiss: Im Jahr 2000 erschien in Australien eine große Biographie über Sie, aus der man Einblick in die Familiengeschichte, aber auch in ihre Position in der intellektuellen Landschaft Australiens gewinnen kann. Sie selbst haben in dem Band Killing the Black Dog (1997) Rechenschaft über den Kampf gegen schwere Depressionen und das Überstehen einer komatösen Krankheit abgelegt. Herr Murray, kann ein Leben, das 1938 begann, überhaupt glücken? Durch Dichtung? Sind Sie ein glücklicher Mensch?

Murray: Was den „Schwarzen Hund“ betrifft – Goethe? Faust? Nein, Winston Churchill! –, so habe ich mich darin geirrt, daß er je sterben könnte, aber er kann bedeutend weniger gefräßig werden und bisweilen hält er Winterschlaf … Glücklich? Glücklich bedeutet in meiner Sprache sowohl „happy“ als auch „lucky“, und ich glaube, im wesentlichen bin ich beides. Wozu mir Dichtung verholfen hat? Zu einer schwierigen Glückseligkeit.

Neue Rundschau, Heft 1, 2005

 

 

Eine Wanderung durch 22.514 Ziffern

(…)

Alex Rühle: In ihrem neuen Buch Die Poesie der Primzahlen versuchen Sie, die Mathematik und die Zahlen mit dem Leben und der Literatur in Verbindung zu bringen. Warum vergleichen Sie die Zahlen darin so oft mit der Poesie?

Daniel Tammet: Poesie ist für mich wie Mathematik, genauso elegant, extrem kompakt. Man kann auf den 14 Zeilen eines Sonetts ein ganzes Leben erzählen. Und gute Poesie ist so transparent wie Wasser. Lesen Sie mal die Gedichte von Les Murray!

Rühle: Ist das der Australier, dessen Werk Sie soeben ins Französische übersetzt haben?

Tammet: Ja, der war auch Autist und hatte wie ich von früher Kindheit an dieses seltsame Verhältnis zur Sprache. Les Murray zu übersetzen – das ist eine ähnlich irre Erfahrung, wie Pi auswendig zu lernen.

(…)

Süddeutsche Zeitung, 20.2.2014

 

Les Murray spricht beim 15. poesiefestival berlin mit Margitt Lehbert über sein Werk.

 

 

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Les Murray – Lesung eines seiner Gedichte aus dem Buch Killing The Black Dog.

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