Cyrus Atabay: Die Leidenschaft der Neugierde

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Cyrus Atabay: Die Leidenschaft der Neugierde

Atabay-Die Leidenschaft der Neugierde

HOMMAGE AN MALLARMÉ

Ich sah eines Abends mein Spiegelbild
im Fenster,
halb war’s ein Kind und halb ein Engel,
ich klammerte mich an alle Fensterkreuze,
wo man der Verzagtheit den Rücken kehrt,
mich mit den Schiffen wiegend
in einer großen, erinnerungsschweren Lässigkeit.
Ach, die Heimsuchung des Diesseits
dringt auch in diese Zuflucht,
das Erbrechen der Dummheit zwingt mich,
vor dem Azur mir die Nase zu halten.
Mein unverlierbarer Wahn – portant mon rêve
en diadème – ist das einzige Mittel,
das vom Ungeheuer beschimpfte Glas
zu durchbrechen, auf die Gefahr hin,
bis in alle Ewigkeit zu fallen.

 

 

 

Er ist da gewesen

Es gibt Gedichte, die mit eigenem Licht leuchten, autarke Gebilde, über denen man den Autor vergißt. Es gibt aber auch Gedichte, die über sich hinausweisen, Spuren sind einer Figur, die sich entzieht, zugleich jedoch in allerlei Abdrücken, Bildern, Transformationen zum Vorschein kommt. Sie gruppieren sich um eine Mitte, die halb ihr dunkles Geheimnis, halb ihre Lichtquelle ist. Von dieser Art sind die Gedichte des in Berlin aufgewachsenen, deutschschreibenden Persers Cyrus Atabay. Seit 1956, dem Erscheinungsjahr seines ersten Bändchens Einige Schatten – es war das Debüt eines 27jährigen –, schickt dieses merkwürdige Ich in ziemlich regelmäßigen Abständen lyrische Lebenszeichen aus – unaufdringlich, aber unüberhörbar. Nicht von der privaten Person ist die Rede, sondern von dem, dessen Sprache die Gedichte sind. Wie ein seltener und sehr scheuer Vogel, der dennoch die Gärten des täglichen Lebens von Zeit zu Zeit besucht, kehrt er verläßlich wieder. Man bekommt ihn nicht zu Gesicht, doch die Gedichte verraten: Er ist dagewesen.
Die Leidenschaft der Neugierde – das Subjekt, das sich hinter diesem Titel verbirgt, weiß auch unsere Neugier wachzuhalten – ist Atabays achter Gedichtband; er ist trotz der kurzen Prosatexte, die sich gelegentlich in seine Bücher eingesprengt finden, einer der wenigen ganz konsequenten Lyriker unserer gegenwärtigen Literatur (und gewiß der am wenigsten geförderte; Atabay hat bisher zwei kleine Preise erhalten, den letzten vor mehr als zwanzig Jahren).
Ich kann keine Entwicklungslinie feststellen, vermisse sie auch keineswegs: ein Vorwärts ist nicht Atabays Sache. Seine Gedichte variieren ein unerschöpfliches Thema: eine bestimmte Existenzweise, die man am genauesten poetisch beschreibt, die des Gastes, des Fremden, des Außenseiters.

Wo wohnt er denn nun eigentlich,
ganz oben im Dachzimmer
oder im Keller?

Man kann ihn in keiner Etage
unterbringen,
vielleicht hat er sich eigens
ein Zwischenstockwerk eingerichtet?

Man begegnet ihm manchmal flüchtig
im Treppenhaus,
es kann aber auch
ein Luftzug gewesen sein.

Bedeutet das nun, daß in dieser Lyrik ein einzelner nur mit sich selbst, mit seinen Schwebezuständen, mit Reichtum und Armut seiner Einzelgängerschaft beschäftigt ist? Die Gedichte widersprechen einem solchen Vorwurf von Unverbindlichkeit. Ihre Metaphern zielen auf einen Archetypus, der auch in der Seele der Seßhaften verborgen ist. Außerdem sucht sich die figure isolée ihre Doppelgänger – die lyrische Konsequenz heißt „Legenden“, heißt „Porträts“; zwei Abschnitte in dem Band sind so überschrieben und versammeln eine ebenso gemischte wie durch den Bezug zu ihrem Gastgeber überraschend zusammengehörige Gesellschaft. Schließlich: Je präziser einer seinen Sonderstatus zur Sprache bringt, um so schärfer zeichnen sich die Umrisse einer Welt ab, in der er nicht aufgeht:

Wozu wir leben:
wenn wir es jetzt nicht wüßten
wäre die Jahrhunderte alte Ratlosigkeit
und Empörung umsonst. Bedürftiger denn je
sind wir der Kenntnis unseres unverstellten Wesens.

Die existentielle Heimatlosigkeit sollte freilich nicht so weit gehen, daß ihre poetischen Verlautbarungen das Los ihres Dichters teilen. Es ist bedauerlich, daß Atabays Werk bisher keine feste Verlagsheimat gefunden hat. Das Erscheinen in der Eremiten-Presse bedeutet – nach Limes, Hanser, Claassen und Insel – wieder einmal das Auftauchen an einem anderen Ort (so der Titel des vorletzten Bandes).

Albert von Schirnding, Süddeutsche Zeitung 26./27.9.1981

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Karl Krolow: Sprechen mit halber Stimme
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.8.1981

 

Cyrus und die Eremiten

Es war Christa Reinig, die Cyrus 1980 zu uns „schickte“. Auf der Suche nach einem neuen Verlag nahm er von London aus Kontakt zu uns auf. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft: er paßte zu uns und wir zu ihm, und wir waren begeistert von seinen Texten, aus denen der erste Band entstand, „Die Leidenschaft der Neugierde (1981).
Es folgten dreizehn weitere Bücher, bis auf seine gesammelte Prosa Leise Revolten allesamt Erstausgaben. Verglichen mit seinen Anfangsjahren war Cyrus, der ständig mit seiner angeblich nachlassenden Schaffenskraft kokettierte, sich in Widmungen gar als „bankrotter Dichter“ bezeichnete, in den fünfzehn Eremiten-Jahren enorm produktiv. Nach unserem ersten Buch gab es übrigens leise Kritik vom Meister; das Format sei zu klein („Wie ein Taschenbuch!“) und keine Bilder! Daraufhin wurde für das zweite Opus Stadtplan von Samarkand (1983) ein Format mit fabelhaften Proportionen erdacht (22,7 x 14 cm) und kein Geringerer als der Maler Winfred Gaul mit der „Bebilderung“ beauftragt. Seitdem nennen wir dieses Format nur noch das „Atabay-Format“, und Gaul hat zu vier weiteren Büchern von Cyrus wunderschöne Bilder gemacht.
Winfred Gaul und seine Frau Barbara, mit denen wir seit Jahren gut befreundet sind, wurden Cyrus’ Freunde bis zu seinem Tod. Während seiner Besuche bei uns gab es auch fast immer eine Verabredung bei den Gauls (Atelierbesichtigung, privates Essen).
Für seine Übertragungen aus dem Persischen/Arabischen fanden wir vom ersten Band an (Omar Chajjam) einen ähnlich idealen Partner, Josua Reichert, der zu unserer großen Freude und aus Freundschaft zu Cyrus auch die Graphik zum letzten Buch geschaffen hat. Es handelt sich um einen zweiten Band mit Gedichten von Dschalal ed-din Rumi mit dem Titel Ich sprach zur Nacht.
Es muß an Cyrus gelegen haben, daß uns seine Bücher immer besonders gut gelungen sind. Er wußte sehr viel über Malerei und Kunst und war ein Ästhet, bei dem sich Klugheit und Charme in idealer Weise verbanden. Für ihn ein Buch zu gestalten, hat mich jedesmal aufs neue beflügelt.
Er blieb meistens eine Woche in Düsseldorf „seine“ Wohnung (die separate Gästewohnung in der dritten Etage unseres Hauses) stand bereit für ihn, er konnte kommen und gehen, wie’s beliebte (und wie er es liebte). Wenn wir arbeiten mußten, ging Monsieur flanieren. Alle Mahlzeiten wurden gemeinsam eingenommen, die Abende bis zum Schlummertrunk gemeinsam verbracht. Und wenn Cyrus uns nicht jedesmal in wirklich tolle, sehenswerte Filme geschleppt hätte (er war ja ein Film-Freak), wüßte ich schon seit Jahren nicht mehr, wie ein Kino von innen aussieht. Wir konnten mit ihm so herzhaft lachen und bis zur äußersten Ausgelassenheit herumalbern, wie es Menschen, die ihn nur flüchtig kannten, kaum geglaubt hätten. Cyrus, Friedolin und ich hatten viele Pläne, zum Beispiel „im Alten“ ein altes Haus im Süden Frankreichs zu kaufen (es gibt lediglich eine kleine Eremiten-Klause zwischen Sete und Beziers am Mittelmeer). Friedolin sagte nach der Nachricht von Cyrus’ Tod zu mir:

… und ich hatte mir so gewünscht, daß Cyrus uns noch ein Stück weiter begleiten würde…

Überglücklich war Cyrus beim Erscheinen des Prosa-Bandes Leise Revolten und schrieb mir, „übrigens ist diese Sammlung von Prosastücken doch recht aufschlussreich und durchaus ein Pendant zu den Gedichten. Mein Wortschatz hat einige sehr artikulierte Komponenten, das Wort Gaukler z.B. nimmt eine prominente Stellung ein, darum wird es einmal durch ein Synonym wie saltimbanques (in: „Das Weggehen“) kaschiert. … Irgendwo ist der Autor C. A. abgestürzt wie Ikarus, aber er hatte doch immerhin eine erstaunliche Höhe erklommen…“

Jens Olsson, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, Ch. Beck Verlag, 1997

 

Briefe an seine Verleger von der Eremiten-Presse

Lieber Herr Hülsmanns,                                                          z.Z. München, 22.5.80
lieber Herr Reske,

von London aus rief ich Sie in den letzten Wochen mehrfach an, ohne Sie zu erreichen. Jetzt, in diesen Tagen in München, ermunterte mich die wunderbare Christa Reinig wieder, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen. Endlich sprach ich mit Herrn Hülsmanns; plötzlich hatte ich den Eindruck, als hätte mein Schiff wieder einen Kapitän… (Auszug)

Lieber Herr Hülsmanns,                                                         London, den 29.5.80
vielen Dank für Ihren Brief vom 24. Mai. Ich freue mich, daß Sie meine Gedichte drucken wollen. Die Eremiten-Presse ist ein wetterfestes Obdach und die Nachbarschaft ist gut. (Auszug)

Der erste Band Die Leidenschaft der Neugierde erscheint im Frühjahr 1981; am 2. Mai 1981 stirbt Dieter Hülsmanns.

Briefauswahl von Jens Olsson

Cyrus – nicht von dieser Welt

Er war bereits ein Dichter von Rang, als ich seinen Werken begegnete. Damals bemühten sich viele Leute darum, ihn kennenzulernen, und oft waren es die falschen, die ihn gar nicht interessieren konnten. Ihn umgab die romantische Aura eines persischen Prinzen, der auch noch gute Lyrik schrieb, und darüber hinaus jene eines Neffen des Schah, der damals noch prunkvoll Hof hielt. An seiner hohen Abkunft und an der „kaiserlichen Hoheit“ lag ihm wenig. Er war zu sensibel, zu bescheiden und zu klug und letztlich auch zu sehr von einer anderen Welt, um dieses Kapital einzusetzen und zu nutzen.
Seine Dichtkunst haben Berufenere gewürdigt, so bleibt mir, von der Zeit zu berichten, die uns bis zu seinem Tod blieb, um eine Freundschaft zu beginnen und zu pflegen, und über die Eindrücke, die ich von seiner Person und von seinem Wesen bekam. Viele Jahre waren wir sicherlich oft auf größeren Veranstaltungen aneinander vorbeigegangen. Wir trafen uns dann bei einer gemeinsamen Freundin, die zusammen mit ihrem Gatten erlesene Soireen gibt. Cyrus und ich trafen fast gleichzeitig ein, schälten unsere Blumen aus den Papierhüllen, und die Gastgeberin empfing uns – strahlend, schön und elegant – und machte uns miteinander bekannt.
Was uns sofort verband, war gewiß nicht der „Coup de foudre“ oder irgendein oberflächliches Interesse an Name oder Profession. Es muß eine Art Seelenverwandtschaft gewesen sein.
Es war ein glanzvoller Abend in einem schönen, festlich geschmückten Ambiente, die Bewirtung war hervorragend, die Gäste anregend und angeregt, eine prickelnde Stimmung erfüllte den Raum. Cyrus war der einzige, der das alles offenbar nicht genoß und der verdrießlich war.
Ich fuhr ihn nach Hause, denn er hatte mir gestanden, daß er kein Auto besäße. Danach rief er mich fast täglich an, erkundigte sich stets formell, ob er störe, was zum Glück nie der Fall war, und dann hatten wir sehr lange Gespräche.
Seine Stimme klang stets müde, und fast immer fühlte er sich aus irgendeinem Grunde körperlich nicht wohl, kränklich oder krank. Seine Stimmung war meist gedrückt, und in Bezug auf größere Unternehmungen äußerte er nur noch Wünsche:

Ich würde gern wieder einmal verreisen, nach Sils Maria oder nach Italien, oder auch nach London. Aber es ist so mühsam. Ich brauche jedes Mal ein Visum, und ich ertrage es nicht, mich in den Konsulaten anzustellen.

Die Reisen fanden nie mehr statt.
Betroffen von dieser unwürdigen Situation seines Emigrantentums und auf Abhilfe sinnend, riet ich ihm, was sicher viele Freunde schon längst geraten hatten, nämlich sich um die deutsche Staatsbürgerschaft zu bemühen, die man ihm als verdientem Dichter und Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste sicher nicht abschlagen würde. Er sah die Notwendigkeit ein und unternahm nichts.
Da ich ihn sehr geachtet und geschätzt habe, wage ich es, über diese eine Seite seines Menschseins zu berichten, die meiner Meinung nach sein Leben ausgehöhlt hat und ihn schließlich – viel zu früh für seine Freunde und Bewunderer – eigentlich „an nichts“ hat sterben lassen.
Ein Großteil seiner Identität war die seiner Sendung als Dichter. Das Feuer dieser Begeisterung und die Befriedigung über die Arbeit mag ihn lange beflügelt haben, gegen Ende seines Lebens war es jedoch erloschen. Das machte ihn müde, energielos und verdrossen und hochempfänglich für vorbeischwirrende Krankheiten. Er fühlte sich einsam und verloren in dieser Welt. Diese Not mußte man erspüren, er teilte sie nicht direkt mit. Es mangelte ihm nicht an Menschen, die bereit waren, auch schwere Stunden mit ihm zu teilen. Aber er fühlte sich oft außerstande, auch ihm liebe Menschen zu treffen. Dann zog er sich zurück, litt allein und konnte oft Einladungen und schlichte Verabredungen nicht einhalten. Ich hatte den Eindruck, daß die Nähe via Telefongespräch für ihn schon eine Grenze war, eine Gelegenheit, ein wenig Kraft zu schöpfen, während wirkliche Präsenz ihn erschöpfte.
Er stellte sich nie in den Vordergrund und wollte nie Mittelpunkt einer Gesellschaft sein. Ich habe ihn auch nie als eitel empfunden. Vielleicht hätte ein Schuß gesunder, vitaler Eitelkeit genügt, ihm seine Vision des Dichters und damit die Lebensmotivation zu erhalten.
Was meine Person betraf, war er sehr einfühlsam und zartfühlend. Immer war er es, der Treffen vorschlug, bei ihm, bei mir, zum Kino, zu Ausstellungseröffnungen und zu Lesungen. Dabei hatte ich immer den Eindruck, daß er sich an meiner ironischen, oft auch sarkastischen und gelegentlich resignierten Lebens- und Weltsicht erfrischte und daß er meine Gegenwart sichtlich genoß. Auch mir tat es gut, so zart umworben und so fein behandelt zu werden. Oft wollte ich ihm vorschlagen, mit mir in ein gutes Restaurant zu gehen und einmal üppig den Speisen und dem Wein zuzusprechen, aber diese Aufforderung kam nie über meine Lippen – ich wußte, daß schon ein so kleiner Exzeß ihn überfordern würde.
Über andere konnte er – oft ungerechterweise – sehr gnadenlose Beurteilungen abgeben. Ich war viel neugieriger auf ihn als mitteilsam über mich, aber er machte es mir relativ schwer, zu dem Kern seines Wesens vorzudringen. Anfänglich dachte ich, der mangelnde Drang nach Selbstanalyse und Selbstdarstellung sei ein Charakteristikum späterer Jahre. Heute denke ich, es war seine Crux, die ihn schon früh in die Traumgefilde der Kunst entführt hatte, ihn andererseits aber am wirklichen Leben vorbeiträumen oder darüber hinweggleiten ließ.
Ich glaube, er hat sich nie gesund egoistisch mit sich selbst beschäftigt, nie seine Stärken, seine Wünsche, auch seine Nöte und Schwächen ausgelotet, nie lauthals Bedürfnisse angemeldet und auf deren Erfüllung bestanden.
Die Interaktion „Kunst ist Leben – Leben ist Kunst“ hat er sicher nie hergestellt.
Wie viele Perser feiner Abkunft wurde er nach Deutschland geschickt, um dort die Schule zu besuchen und zu studieren. Als ich ihn zum ersten Mal besuchte in seiner großen Schwabinger Altbauwohnung, dachte ich, zumindest einen kleinen Pfauensessel vorzufinden, einen mit Leopardenfell bespannten Schemel, die Wände gespickt mit persischen Miniaturen und überall üppige Goldstickereien, da er mir erzählt hatte, er sammle Textilien. Meine naiven Vorstellungen erhielten gerechterweise einen gewaltigen Dämpfer durch die Realität. Cyrus lebte wie ein europäischer Intellektueller, nicht wie ein europäischer Träumer sich einen orientalischen Dichter vorstellt, vielleicht gerade, weil er ein Orientale war.
Einige Dinge in der hauptsächlich mit Büchern vollgestopften Wohnung erinnerten an seine orientalische Abkunft, und seine Textilsammlung bestand weitgehend aus Ikats. Stolz breitete er sie vor mir aus, legte sie über Sessel, Sofas, Kommoden und schließlich, da es sehr viele waren, auch auf den Fußboden. Er war sichtlich beglückt über meine Freude an den schönen, intensiven Farben, und schließlich tranken wir auf den feinen Tüchern Tee. Er bewirtete mich rührend und so hilflos, daß mir klar wurde, daß er Gastlichkeit in seinen eigenen Räumen schon lange nicht mehr gepflegt hatte.
Zu meinem Leidwesen sprachen wir nie über seine eigene Dichtung, Versuche meinerseits dazu lenkte er geschickt um. Er war ganz fasziniert davon, in meiner Bibliothek viele orientalische Klassiker – natürlich nur in deutscher Übersetzung – vorzufinden, empfahl mir die besten Übersetzungen und lehrte mich, die Dichternamen korrekt auszusprechen. Richtig lebendig wurde er jedoch nur, wenn wir über „das Leben“, die Absurditäten, Zufälle, Illusionen, Trug- und Traumbilder, die Hilflosigkeit und Nichtigkeit des menschlichen Daseins sprachen.
Das Klischee vom persischen Prinzen hat er den Außenstehenden, die Äußerlichkeiten von ihm erwarteten, nicht erfüllt. Es gab keine Prunkkarossen, keine auffallende Entourage, keine spektakulären Auftritte in der schillernden großen Welt, die die Reporter der Regenbogenpresse angezogen hätten, keine Skandale. Sein Titel „kaiserliche Hoheit“ war jedoch auf andere Art angemessen. Die Beschäftigung mit den schönen Künsten wurde oft von sensiblen Aristokraten gepflegt. Schon im 11. Jahrhundert gab es in Japan am Kaiserhof zu Kyoto Romane schreibende Hofdamen. Nero war als Dichter wohl nicht ernst zu nehmen. Aber der letzte byzantinische Kaiser war ein noch heute bei Kennern geschätzter Verfasser von Epigrammen, der leider politisch nicht das gleiche Talent aufwies.
Große Regierungsgeschäfte oder diplomatische Interventionen wurden Cyrus nie angeboten – er hätte solche Ansinnen auch sicher abgelehnt. In seinen Genen war wohl nichts vom tollkühnen Krieger- oder Eroberergeist, von den putschistischen Machtgelüsten seiner Vorfahren zum Durchbruch gekommen, auch nichts von deren Prunk- und Genußsucht.
Als ich informiert wurde, daß er aufgrund einer zuerst als harmlos eingeschätzten Grippe, die zur Lungenentzündung geführt hatte, nun im Koma auf der Intensivstation lag, ging ich sofort hin. Ich fürchtete mich nicht vor dem berüchtigten Klinikvirus und dachte an Cyrus’ Leid, an seine Einsamkeit, seine Handlungsunwilligkeit und sein Getrenntsein. Ich setzte mich auf einen kleinen Hocker neben ihn, ließ erst einmal den Schock bei mir abklingen und sammelte mich. Dann sprach ich leise mit ihm, ich bin sicher, daß er mich gehört und auch verstanden hat, denn seine Lider und seine Lippen zuckten. Erst nannte ich ihn bei seinem Namen, sagte, wer ich bin und daß ich ihn an der Hand berühren würde, um ihm Kraft zu geben, daß ich wenig sprechen würde, um ihn nicht anzustrengen, aber ich sei die ganze Zeit über in Gedanken bei ihm. Neben ihm lag ein älterer Mann mit balkanischem Aussehen, auch er im Koma. Bei ihm tauchte lautlos eine Gruppe von Männern und Frauen auf in den grünen sterilen Besucherkitteln, Menschen aus seiner Familie, seiner Sippe. Sie begannen von allen Seiten, ihn sanft zu berühren und zu streicheln.
In seinen letzten Lebensjahren war es wohl diese Welt, die nicht mehr erreichbar war, die Cyrus’ Sehnen war und die er gern mit der Zwischenwelt der Kunst und des Intellekts vertauscht hätte.
Ich beugte mich nahe an sein Ohr und flüsterte ihm zu:

Cyrus, wenn Du in dieser Welt bleiben willst, wenn es für Dich noch Freuden gibt, die Du gern erleben würdest, wenn Du noch unerledigte Aufgaben hast, dann kannst Du zurückkommen. Zurückkommen zu Deinen Freunden, die Dich empfangen. Wenn Du aber gehen willst, dann kannst Du auch diese Maschinen überlisten und Dich einfach davonmachen.

Noch lange Zeit blieb ich bei ihm sitzen, sah dann, wie der Grieche neben ihm die Augen aufschlug und lächelte. Als ich das nächste Mal kam, war er nicht mehr da, und die Schwester sagte mir, er sei wieder auf die normale Station verlegt worden und werde sicher wieder gesund.
Die Auskünfte, die ich von der behandelnden Ärztin über Cyrus bekam, waren nicht so positiv. „Er hat ein starkes Herz, das hält viel aus, sonst wäre er schon lange tot.“ Ich fragte, ob es sein könne, daß ich bemerkt habe, daß er Schmerzen habe. „Ja, diese Reaktionen können sein.“ Ich bat, ihm Schmerzmittel zu geben, und wartete, bis er eine neue Infusion mit den Mitteln bekommen hatte. Dann fragte ich, wie sein Zustand wäre, wenn er aus dem Koma zurückkehren würde. Ich erhielt deprimierende Auskünfte.
Ich besuchte ihn noch einige Male, saß schweigend an seinem Bett, kündigte ihm nur mein Kommen und Gehen an.
Die Beisetzungsfeierlichkeiten, die ihm seine Freunde L. W. und W. R. beschert haben, hätten sogar ihm gefallen. Die weihevolle Feier in der Aussegnungshalle und am Grab war eine anrührende Würdigung durch Freunde und Freunde seiner Dichtkunst. Sie zeigte, daß all die bewegten Menschen, die gekommen waren, um ihn ehrenvoll aus dieser Welt zu entlassen, sich ihm verbunden fühlten und es auch bleiben würden.
Die Pracht der üppigen Blumenarrangements in feinsten Farbnuancen hätte kein orientalischer Fürst übertreffen können. Diesen Beitrag möchte ich als Dank an Cyrus verstehen, Dank für die Zuneigung, die Gefühle und die Freundschaft. Ich glaube, er hat mir mehr gegeben als ich ihm.

Laura Christa von Lengerke, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

Abschied

Tage, Tage
Wilde Tauben der Vergänglichkeit!

Es war Helmuth de Haas, der diesen Vers voller Begeisterung zitierte; ein junger persischer Prinz lebe am Rand der Stadt in einem Gartenhaus und schreibe die herrlichsten Gedichte. Ecce poeta! Helmuth de Haas, auch erst Mitte zwanzig, aber schon eine literarische Leitfigur im München der frühen fünfziger Jahre, machte den Achtzehnjährigen, der eben zum Studium nach München gekommen war, und seine um ein Jahr jüngere Schwester so neugierig, daß wir uns schon bald auf den damals noch recht umständlichen Weg nach Großhadern begaben, wo wir Cyrus in der Aurikelstraße besuchten. Das „Gartenhaus“ entpuppte sich als windiger, von einem kleinen Ofen nur notdürftig erwärmter Schuppen, der auf einem leeren Grundstück stand. Cyrus hatte in Zürich gelebt; hier wohnte er, um zu studieren, aber in der Universität sah ich ihn nie. Wir kamen einigermaßen regelmäßig zu ihm hinaus, er nahm uns auch ein paarmal in die Familie mit, der das Grundstück gehörte und die ein paar Häuser weiter einen Milchladen hatte; er wurde dort liebevoll betreut. Er kam zu uns ins Lehel, wir gingen ins Kino und trafen uns in Schwabing, sprachen über Benn, Eliot, Pound, Britting, von der Vring, Günter Eich, Holthusen, Max Rychner.
Die „wilden Tauben der Vergänglichkeit“ fanden sich einige Jahre später in Cyrus’ erstem Gedichtband „Einige Schatten, wo auch die poetische Rede war von der „tröstliche(n) Gegend, / wo die Straßen Namen von Blumen tragen. / Alle diese holden Lettern, gestiefelt und gespornt – / im Gegensatz zu den kaiserlichen Alleen in keine Topographie einfügbar.“
Über seine persische Herkunft, die Berliner Kindheit, die knapp zurückliegenden Jahre in der Schweiz gab Cyrus nur sehr bruchstückhafte Auskunft, was den poetischen Zauber, der von seiner Person ausging, verstärkte. Sie war, so schien es, auf kostbare Wörter, westöstliche Bilder, mythische Namen und ungewöhnliche Metaphern gegründet; hier hatte einer sein Leben auf Lettern gestellt, auf die Sache des Gedichts. Aber man hätte sich getäuscht, wenn man den damit verbundenen Verzicht auf Seßhaftigkeit, Sicherheit, Besitz und bürgerlichen Beruf mit dem Leichtsinn, der Leichtfüßigkeit dessen, der einer anderen, höheren Region angehört, gleichgesetzt hätte.
Cyrus, das fiel mir von Anfang an auf, war bei aller dichterischen Ausrichtung seiner Existenz ein sehr bodenständiger, wirklichkeitsnaher, vitaler Mensch, mit dem man handfest streiten, herzhaft lachen konnte, ein Mensch auch von eigentümlicher Zähigkeit und Unerbittlichkeit.
Es kamen dann andere Zeiten, in denen die Metapherngläubigkeit und -freudigkeit der fünfziger Jahre einem tiefen Mißtrauen gegenüber den Bildern, allem Fiktiven, der Poesie im ganzen weichen mußten. Cyrus hatte Deutschland verlassen, war in den Iran, dann nach London gegangen, wir verloren uns aus den Augen. In London war Cyrus mit Erich Fried befreundet, einem Exponenten der tonangebenden literarischen Tendenz, die darin bestand, die Tendenz selbst zum Zweck der Literatur zu machen, Dichtung in den Dienst der Bekämpfung des Bösen zu stellen. Ein Gedicht von Erich Fried – „Der Gewissenlose“ – ist Cyrus Atabay gewidmet, die erste Strophe lautet:

Wenn alle meine
gewissenhaften Freunde
mich ermüden
und trostlos lassen
finde ich Trost
in den Versen
dieses Gewissenlosen
der uns verspottet
und jede Verantwortung leugnet
für den Zustand der Welt
und den nur die Leidenschaft
der Neugierde
antreibt
zu schreiben.

Die „Leidenschaft der Neugierde“ ist direktes Zitat: So heißt ein Gedichtband, den Cyrus 1981 veröffentlicht hat. Das von Erich Fried gebrauchte Wörtchen „nur“ erlischt gleichsam im Licht eines so strahlenden Wortes wie Leidenschaft und fällt auf die trostlosen und trostlos lassenden Verse der gewissenhaften Freunde und ihrer Verantwortungslyrik zurück. Denn der Dichter, der sich aus moralischer Empfindlichkeit in den Streit der Welt mischt, hat Partei ergriffen und sich damit dem Partikularen – mag dies noch so ehren- und wünschenswert sein – verpflichtet und verschrieben. Ein Lyriker, der sich solchem Engagement entzieht, ist – jetzt zitiere ich Cyrus – „anderweitig verpflichtet, / Kometen auf der Spur“. Er tritt für das Ganze ein, gibt den Dingen seine, das heißt ihre Stimme und macht eben dadurch den Planeten bewohnbar. Der partiellen Gewissenlosigkeit korrespondiert also eine universelle Verantwortung. Ein solcher Dichter von Gottes oder Allahs Gnaden war Hafis, war Goethe, war in den gebrocheneren Stimm- und Stimmungsverhältnissen unserer Gegenwart Cyrus Atabay.
Freilich hat sein Gedicht im Lauf der Jahrzehnte sich gewandelt; der Überschwang der frühen Verse, die Rollen, in die das lyrische Ich sich kleidete – die des Gauklers, des Nomaden, des blinden Passagiers –, die westöstliche Botschaft – das alles hat seine Lyrik nach und nach abgestreift. Atabays Gedichte wurden immer wahrer. In einem relativ späten Band, den Puschkiniana von 1990, wird einem berühmten poetischen Bild, das einen Todestrost vermittelt, die Absage erteilt. Ariels Lied in Shakespeares Sturm gilt dem Sohn des – freilich nur scheinbar – bei einem Schiffbruch ums Leben gekommenen Königs Alonso:

Fünf Faden tief liegt Vater dein. Sein Gebein wird zu Korallen, Perlen sind die Augen sein.

Cyrus nimmt diese von Ariel, dem Geist der Poesie, bewirkte Verklärung des Toten zurück:

Aus diesem Gebein sind keine
Korallen gemacht und diese Augen
sind keine Perlen

Dennoch wünsche ich mir, uns allen, die wir um unseren Freund, unseren Dichter trauern, daß die Fortsetzung von Ariels Lied, jene drei Verse, die Byron auf Shelleys Grabstein schrieb, der bitteren Wirklichkeit dieses Todes standhält: „Nichts an ihm, das vergeht. Was ihm widerfährt, ist Verwandlung durch das Meer in etwas von seltenem Wert“ – „Nothing of him that doth fade / But doth suffer a sea-change / Into something rich and strange.“

Albert von Schirnding, aus Werner Ross (Hrsg.): Poet und Vagant. Der Dichter Cyrus Atabay, C.H. Beck Verlag, 1997

 

CHOPIN IN COLLIOURE
für Cyrus Atabay

Im dritten Jahrzehnt
noch immer fremd die Küste
Wenn aber Muscheln über Nacht
dein Bett überfluten
fühlst du dich verstanden
und kehrst mit ihnen zurück
ins Meer

Im dritten Jahrzehnt
noch fremd Etüden
Wenn aber Nacht
Tasten und Revolution
nach dir greifen
fühlst du dich erkannt
und kehrst zurück
ans Meer

Im dritten Jahrzehnt
doch fremd die Ankunft
Wenn aber Möwen über Tag
deine Gedanken streifen
fühlst du dich geborgen
und kehrst mit mir zurück
ins Meer

Helmut Vakily

 

 

Erich Jooß: Wiedergelesen

 

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