Manfred Durzak / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Manfred Durzak / Hartmut Steinecke (Hrsg.): Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf

Durzak/Steinecke-Zwischen Freund Hein und Freund Heine: Peter Rühmkorf

„KOMM, KUCKEN, KUNST“
– Zu Peter Rühmkorfs „Schreibelehre“. –

Ästhetische Imperative
„Komm, kucken, Kunst“ (Gesammelte Gedichte, S. 117) – der Imperativ ist hinterhältig, weil indirekt; die Aufforderung weist auf sich selbst zurück und zeigt das, worauf sie verweisen will an sich selbst; doch mit der reflexiven Selbstthematisierung allein ist es nicht getan. Der Hinweis, daß es Kunst zu sehen gibt, muß auch als Imperativ an die Kunst selbst gelesen werden; dann ist der Imperativ künstlerisch gestalteter Hinweis auf die Kunst, die zugleich sich selbst zu reflektieren hat; die Verpflichtung auf die Kunst ist in sich gebrochen, die Unmittelbarkeit des Pflichtgebotes Kunst zurückgenommen, wohl – so steht zu vermuten – weil die Kunst das nicht hält, was sie verspricht. Kunst ist, und daran hat Rühmkorf mit keiner Zeile seiner „Schreibelehre“ direkt oder indirekt je einen Zweifel gelassen, immer auch Lug und Trug, „halb getürkt“ (Gesammelte Gedichte, S. 131), „Kunst kommt abgekartet“ (Der Hüter des Misthaufens, S. 59).
Dagegen ist ein anderer Imperativ in Sachen Kunst direkt und energisch, überaus deutlich, wenn auch rhetorisch und negativ:

aber kennt auch nur einer von Euch den Koloß von Corampublico, dessen riesengewaltiges Haupt ein halbes Jahr lang von Wolken und Nebel verhüllt ist? Hat jemand jemals etwas von seinem einst hochberühmten Erbauer gehört und kann seinen Namen nennen? Kennt einer etwa den Abgebildeten und dessen seltsame Lebensgeschichte; die zum anderen wieder aufs innigste mit dem Schicksal seines Bildners zusammenhängt? Ach, gar nichts wißt Ihr, die Ihr mit aufgeblendeten Scheinwerfern und abgestumpften Sinnen die Welt durchrast – durchreist. (Der Hüter des Misthaufens, S. 186)

Doch was hat der Erzähler den „abgestumpften Sinnen“ zu bieten, das irgend seine kategorischen Verurteilungen und Publikumsbeschimpfungen zu rechtfertigen vermöchte? Nichts als ein „Kunst-Märchen“; er erzählt und enthüllt damit – ganz wie er es und der Titel versprechen – ein „Denkmal“, näherhin ein ,Kunst-Denkmal‘, was nicht nur formal auf den eingangs zitierten ästhetischen Imperativ zurückverweist. Denn der Erzähler ,enthüllt‘ ein Denkmal, das, paradox genug, durch Verhüllen enthüllt, und das im schönen Märchenschein.
„Kunst kommt von Kaschieren“ (Der Hüter des Misthaufens, 198), nach dieser Maxime des Erzählers handelt sein Künstler-Held Carcavecchia, Baumeister von Corampublico, der seinen gefälligeren Rivalen Giangrazio aus „Ruhmesgier“ und verletzter Eitelkeit, wegen eines „launigen Scherzos“, eines Künstlerulks aus Anlaß eines ausgeschriebenen Wettstreits bei der Abnahme seiner Gipsmaske tötet und den Leichnam unter seinem Marmorbarrenlager verscharrt, um so seiner Überführung des Mordes zu entgehen. Doch sein schlechtes Gewissen und der Zwang, das Verbrechen zu verheimlichen, schärfen seinen ,ästhetischen‘ Blick, der ihn nicht mehr zur Ruhe kommen läßt.

Je genauer Carcavecchia den Haufen anvisierte und ihn mit seinen Nachbarn im Umkreis verglich, umso weniger wollte er seinem ausgeprägten Ordnungssinn zusagen. […] Während seine Genossen und Vettern ihn alle ganz natürlich ansahen – wie eben sorglose Hilfsarbeiterhände sie zusammengetragen hatten –, entdeckte er hier einen störenden Hauch von Kunst und Berechnung, der nur schlecht zu der erwünschten Unauffälligkeit passen wollte, ein Grund, sich noch einmal ans Korrigieren zu machen. Das Ergebnis fiel dennoch nicht günstiger aus. Mit jedem neuen Eingriff steigerte sich vielmehr die Unnatur des Stapels, traten Ecken und Kanten hervor, wie sie so der Zufall niemals gebildet haben würde, oder es machten sich regelrechte Muster bemerkbar, die sogleich eine trügerische Absicht verrieten, kurz, die Verdächtigkeit war mit normalen Mitteln nicht mehr zu vertreiben, und als dann auch noch die Abendsonne die Schatten längte und das Bild eines Lorbeerzweiges auf die Steinplanken warf, war Carcavecchia fest davon überzeugt, daß das Werk noch lange nicht abgeschlossen sei. (Der Hüter des Misthaufens, S. 194f.)

Die „Verdächtigkeit“ läßt sich nur noch mit ästhetischen Mitteln bannen, oder paradox: Carcavecchia bietet alle seine künstlerischen Fähigkeiten auf, damit dem „Haufen keine besondere Künstlichkeit anzumerken“ war, die Künstlichkeit soll sich in Natürlichkeit verwandeln – ars sequitur naturam –, um den unnatürlichen Tod zu verbergen. Doch Carcavecchias Zweifel lassen sich nicht beschwichtigen, der „eigene unbetrügliche Entdeckerblick“ zwingt ihn in die Unrast eines unentwegten Schaffens, das sich wiederum in die künstlerische Übertreibung flüchtet, die seinem Namen alle Ehre macht:

nur noch übertreiben diese Ausgeburt der Not und sie wie eine Festung, wie ein Bollwerk gegen die gesamte ihn bestürmende Welt absetzen, denn daß sie immer noch nach Erklärung, Rechtfertigung und Offenlegung schrie, war in seinen Augen der oberste Makel. (Der Hüter des Misthaufens, S. 198)

Und wieder geht es nur paradox: der ,kaschieren‘ will, baut ein „unübersehbares Denkmal“, ein „Bollwerk […] gegen die gemeinen Mächte des Vergessens“, ein „Sinnbild des Angedenkens“, und er vergißt Anlaß und Zweck, ja sich selbst über seinem Schaffen. Das Kunstwerk verselbständigt sich gegenüber seinem Anlaß, hat mit dem gemeinen Leben, dem hinterhältigen Mord, längst nichts mehr gemein, es setzt sich sein eigenes ideales Gesetz, seine eigene Norm, der sich Carcavecchia mit Leib und Leben verschreibt; er steigt in „schwindelnde Höhen“, hat längst den Blick-Kontakt mit allem Irdischen verloren, es bedarf der „Kundschafter“ als Vermittler zwischen ihm und seinem mäzenatischen Publikum, denn was ihn manisch treibt und ihn absolut verpflichtet, ist allein „die Vorstellung von einem idealen Bildnis“, das er „Zug um Zug“ und „Hieb um Hieb aus dem formlosen Stein herauszulösen“ (Der Hüter des Misthaufens, S. 201) versucht. Der lebensweltliche Antrieb, die Untat zu verbergen, hat sich verpuppt, um als ästhetischer Imperativ seine Hülle zu verlassen. Einzig vom Kunstgesetz beherrscht, unbewußt und gedächtnislos, schafft Carcavecchia ein „harmonisches, göttergleiches Bild“, ein menschliches Haupt, wohlproportioniert und ebenmäßig, göttlich und menschlich zugleich; er hatte „zum erstenmal in seinem Leben das sichere Gefühl, etwas Gültiges, Bleibendes, Ewiges geschaffen zu haben, und als er, um das Werk aus einigem Abstand zu betrachten, einen Schritt nach hinten tat und seinen Fuß ins Leere setzte, sah er noch im Fallen, daß das Werk verteufelt gut getroffen, daß es ähnlich war“ (Der Hüter des Misthaufens, S. 202), Giangrazio ähnlich. Damit gelangt in der Tat auf eine verteufelt gute Weise alles in seine göttliche Märchenordnung; der Mord sühnt sich im eigenen Fallen ins Leere, die Erkenntnis der Ähnlichkeit blitzt wider allen Gedächtnisverlust momenthaft auf, und die Kunst, so eigensinnig autonom sie sich auch verhalten mag, so sehr sie wähnt, es ginge um sie selbst, je dreister und idealer sie übertreibt, sie bleibt dem irdischen Leben und seiner Wahrheit verhaftet. Auf dem Zenit ihrer ,Kaschierkunst‘, in schwindelnde Höhen enteilt, enthüllt sie die Wahrheit, offenbart im idealen schönen Schein die Realität, sie bleibt als „Suselmusel“ Tochter des ,Hüters des Misthaufens‘, des Urhebers wahrer Kultur, seinen beiden anderen Töchtern „Libera“ und „Justine“ verschwistert (Der Hüter des Misthaufens, S. 17); das Schöne steht für das Wahre und Gute ein, auch wenn es sich noch so nutzlos und amoralisch gibt.
Doch der schöne Schein gibt seine Wahrheit nicht restlos preis: die Corampublikaner bleiben von dem in aller Öffentlichkeit hergestellten schönen Schein geblendet; sie an- und erkennen die künstlerische Leistung Carcavecchias und interpretieren sie moralisch, sie preisen Carcavecchia als uneigennützig und selbstlos, der bis zu seinem Tod seinem Auftrag und Werk treu geblieben sei, seinem Widersacher ohne Neid und Mißgunst vielmehr in verzehrender Selbstaufgabe ein verklärendes Denkmal geschaffen habe, und erkennen so nur die halbe Wahrheit. Das Kunst-Denkmal spricht und schweigt sich aus; der schöne Schein ist immer beides: er offenbart die Wahrheit, und er lenkt doch zugleich von ihr ab. Möglich auch, daß die Kunst zeitgenössischer Erkenntnis grundsätzlich voraus ist, ihre Wahrheitsoption auf ihre Rettung im nachhinein wartet.
Was jedoch bleibt und gilt, ist das Wissen des Erzählers, das sich nicht legitimiert, weder Kriterien nennt noch empirische Überprüfbarkeitsangebote macht; es ist ein Märchenwissen, ein Wissen über die Kunst, die sich so – selbstgewendeter ästhetischer Imperativ – über sich selbst aufklärt. Der Märchencharakter negiert aber nicht den gesetzten Wahrheitsanspruch, er bleibt übertragen aufgehoben und läßt sich ausdifferenzieren zu dem traditionell wie aktuell geltenden, weil nicht abgegoltenen philosophisch-ästhetischen Fragekomplex, den Rühmkorf mit seinen poetologischen Versuchen zitiert: gefragt ist nach dem Verhältnis von Kunst und Leben, Wahrheit und Utopie, Autonomie und Engagement.

„,Kunst oder Leben […] wer kommt da immer noch an erster Stelle‘ – ,Und wer hat im Ernstfall das letzte Wort?‘“ (Der Hüter des Misthaufens, S. 53) und genauer, weil paradox verschärft:

wer nicht lieber lebt als schreibt, kann das Dichten auch ganz aufgeben. (Haltbar bis Ende 1999, S. 68)

Leben hat zwar die Priorität, denn wo kein Leben ist, „kann sich auch die Kunst nur noch notdürftig am Geländer weiterhangeln“. (Der Hüter des Misthaufens, S. 60) Doch welches Leben ist gemeint? „Jaja […] das Leben!“ – „Bloß, das ist noch keine Kunst.“ (Der Hüter des Misthaufens, S. 61) Zielt Kunst demnach auf ein anderes, wahres Leben, ist der schöne Schein zugleich utopischer Vorschein auf ein gelungenes Leben? Ist das plausibilisierbar oder wird die Kunst überfordert, das Märchen zur Wirklichkeit umgebogen? Lassen sich „Schönheitssinn“ und „ Wahrheitsverlangen“ zusammendenken, ohne daß das eine auf Kosten des anderen zurückgenommen werden muß.

Dabei gibt Wahrheit natürlich nicht das Passepartout für eine widerspruchsfreie Theorie der schönen Künste her. Zigtausende von literarischen Lügen würden einfach außen vor bleiben; und nicht immer, wo die Schönheit mal einen neuen Nerv anrührt, stehn die Befallenen da wie vom Blitz der Erkenntnis getroffen. Dennoch hat Wahrheit als die unansehnliche Schwester der Schönheit den Gang der Künste und die Fragen nach ihrem Lebenssinn nicht bloß aus purer Müßiggängerei so lange begleitet. (Strömungslehre I, S. 283)

Vorausgesetzt Wahrheit und Schönheit seien verschwistert, so sind sie doch eigenständige Größen. Wie autonom arbeitet aber dann die Kunst ihrem Engagement für ein wahres Leben zu? Wie konkret bleibt sie dem vermittelt, was ist und dem, was nicht ist, wenn gilt:

die Überzeugungskraft des Kunstschönen speist sich aus der ständigen Auseinandersetzung mit dem Lebenswahren, dem gesellschaftlich Realen? (Strömungslehre I, S. 262)

Zur gesellschaftlichen Realität aber gehören nicht nur die Allgemeinheiten der historischen, ökonomischen, kulturellen Verhältnisse, sondern diesen vermittelt, von ihnen produziert, aber auch getrennt die Vorstellungen, Idiosynkrasien und Obsessionen des je einzelnen Individuums, des je einzelnen künstlerischen Subjekts.

Wer du wirklich bist, ist gar noch nicht entdeckt:
etwas zwischen Einzelstern und Rudel,
bißchen Kunstgeschmack und bißchen Hundsgeruch;
nicht mal klassisch-klarer Widerspruch.
A b e r   m a n c h m a l
i n   d e s   R e g e n s   W a h r g e s p r u d e l
strafft sich – unnachahmlich – dein Subjekt.
(Gesammelte Gedichte, S. 135)

Rühmkorf hat 1978 mit ausdrücklichem Hinweis auf Heines Apologie der Poesie gegen die ,Tendenz‘ (vgl. Vorwort zum „Atta Troll“) die „fein organisierten Kostbarkeiten der Kunst“ vor dem plan funktionalisierenden Zugriff durch politische Nützlichkeit und gesellschaftliche Relevanz zu retten versucht. Wie Heine geht es Rühmkorf nicht – um Heines Bild zu übernehmen – um ein Verlachen Apollos, sondern um die Korrektur seines „Zerrbildes“. Rühmkorfs kritische Verteidigung der Poesie gegen die Politik gilt mangelnder ästhetischer Sensibilität, die mit theoretisch-politischer Dogmatik einhergeht. Die „Blindheit für die Kunst am Kunstwerk“ zwingt die Kunst in die Eindimensionalität eines Erfüllungsgehilfen, der auf vorgegebene Wahrheiten ausschließlich verpflichtet wird, „denn wo die Wahrheit bereits gewußt wird und die Utopie ununterbrochen Richtfest feiert, braucht die Dichtkunst sich weder so noch so in Bewegung zu setzen, weder als eine unbestallte Ermittlerin von Wahrheit, noch als Erfinderin von neuen Hoffnungsspielräumen“ (Strömungslehre I, S. 284). Ist aber weder die Utopie einer emphatisch wahren Gesellschaft noch eine revolutionäre Veränderung irgend absehbar, dann muß, um weder gesellschaftliche noch ästhetische Theorie dogmatisch stillzustellen, über Gesellschaft und Kunst, Politik und Poesie anders als in streng eingleisigen Funktionszuweisungen gehandelt werden. Rühmkorfs Versuche hierzu gehen dahin, Artistik, ästhetische Sensibilität, formal-ästhetische Gestaltung mit Subjektivität und Utopie wie deren gesellschaftlicher Vermittlung zusammenzudenken, ohne die einzelnen Momente gegeneinander auszuspielen, ohne sie mit wechselnden Prioritätssetzungen miteinander zu kürzen. Diese Versuche haben ihm harsche Kritik und den Vorwurf eines „defensiven Subjektivismus“ eingebracht.

Es ist kein Witz, daß da ein moderner ,linker‘ Poet über gewisse Positionen Adornos und Emil Staigers zurück zu den Quellen charismatischer Kunstgläubigkeit gegangen ist. Gut und ehrlich gewiß, daß einer bekennt, mit Theorien, allzu eng gefaßt, habe er Schiffbruch erlitten, aber daraus den Schluß zu ziehen, der Poet stünde nun besser als Hoherpriester da, sein Amt sei’s, die Wahrheit in Gedichten folgendermaßen zu finden: Einen Typ zeigen, der in äußerster Zerrissenheit lebt; ihn zur Zusammenfassung seiner selbst verhelfen; alle Wunden anzeigen, aber trotzdem als ertragbar darstellen – das ist der alte Entsagungsrealismus, das eia popeia vom Himmel, Rühmkorf nennt’s ,Poesie das Residuum der Linken‘, das ästhetische Renegatentum nach anstrengenden Zeiten, Trostpflasterpoetik.1

Diese Antiklimax ,Adorno, Staiger, Trostpflasterpoetik‘ gilt es zu überprüfen.

Mit Rücksicht auf Adorno, Staiger und Chr. Enzensberger
Rühmkorfs direkte Auseinandersetzung mit dem „Frankfurter Überbaukatecheten“ (Die Jahre die Ihr kennt, S. 141) und „Krisenkundler“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 183) beschränkt sich auf einige wenige, wenn auch zentrale Motive der ästhetischen Theorie Adornos, ohne sich mit der Philosophie und Gesellschaftstheorie im ganzen und im Detail zu befassen; Ungenauigkeiten bzw. unausgeführte Denkansätze bleiben daher nicht ausgeschlossen. Falsch ist es allerdings, die Auseinandersetzung zwischen Rühmkorf und Adorno auf ein Mißverständnis seitens Adorno zu reduzieren, auch wenn das Rühmkorf insinuiert.2 Adorno läßt sich keine „gesellschaftliche Mißweisung“ der Kunstautonomie mit Verweis auf die „Tatsachenwelt“ „ins Bewußtsein“ lancieren (Die Jahre die Ihr kennt, S. 141), weil er sie selbst bereits zum integralen Moment seiner Theorie gemacht und in den Kategorien verhandelt hat, die seine Antwort an Rühmkorf bestimmen (Die Jahre die Ihr kennt, S. 152ff.).
In seinem Festschriftbeitrag für Adorno klagt Rühmkorf „Fraglosigkeit“, „erstarrte Formalität“ und die vorgeblich bedingungslose, weil gesellschaftsunabhängige Freiheit autonomer Kunst als Affirmation herrschender Gesellschaftsordnung ein.

Die Kunst hieß autonom. Hieß zeitlos, bedingungslos, harmlos. Das Auftauchen von Unruhefaktoren war nicht zu befürchten. (Die Jahre die Ihr kennt, S. 145)

Kunst als „fix gesetzte Antithese zur Gesellschaft“ bestätigt gerade in ihrer abstrakt absolut gesetzten Negation das, was sie negiert; Kunst, die sich auf sich selbst zurückbezieht, sich in sich einigelt, um in ,reiner Schönheit‘ bei sich selbst zu bleiben, gerät zur ausdruckslosen Distanz, die qua vermeintlicher Abgelöstheit von der gesellschaftlichen Realität ihr unmittelbar nahe bleibt, der sie sich dogmatisch verpflichten muß, um überhaupt zu sein. Wo Kunst „sich ihre Position als schönes Abseits aufschwätzen, wo sie sich blind für autonom verkaufen läßt, da leistet sie bereits Hand- und Spanndienste. Wo sie der Zeit grundsätzlich das Interesse aufkündigt und der Gesellschaft Anteil an der eigenen Diktion bestreitet, da schweigt sie der Gesellschaft nach dem Munde.“ (Die Jahre die Ihr kennt, S. 146) Auch wenn Rühmkorf hier ein Adorno-Zitat aus dessen „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ kritisch variiert und scheinbar ins Gegenteil verkehrt, so trifft diese Kritik Adornos Intention im Kern nicht; sie spießt vielmehr nur eine Seite des dialektischen Miteinanders von Lyrik, Sprache und Gesellschaft auf, um die andere extrem zu vernachlässigen. Doch die Dialektik Adornos, auch mit bester kritischer Legitimation, eindeutig zu machen, heißt sie verkürzen, das, was Adornos Theorie vom autonomen Kunstwerk auszeichnet, ist das, was er Benjamin gegenüber in Anschlag gebracht hat: die „Durchdialektisierung des autonomen Kunstwerks“. Wohl keine Ästhetik bisher war sich klarer als Adornos darüber bewußt, daß die Kunstwerke aus sich nichts haben – wo sie das vortäuschen, fallen sie spannungslos-tautologisch in sich zusammen –, daß alles, was ein Kunstwerk ausmacht, vom ,kruden Stoff‘ bis zum ,formalen Detail‘, sein Formgesetz und seine technische Durchartikulation gesellschaftlicher Realität entstammt, auf diese aber andererseits nicht schlicht zu reduzieren ist. Denn das, was die Kunstwerke auswendiger Realität entlehnen, verändert sich inwendig qua ästhetischer Vermittlung.

Alle ästhetischen Kategorien sind ebenso in ihrer Beziehung auf die Welt wie in der Lossage von ihr zu bestimmen.3

Diesem dialektischen Zugleich ist die Kunst entsprechend ihrer Autonomie utopisch und affirmativ, wahr und falsch, das eine Moment ist im strengen Sinn nicht ohne das andere zu haben.

Jedes Kunstwerk hat seinen unauflöslichen Widerspruch […] daran, daß es eine Apotheose des Machens, der naturbeherrschenden Fähigkeit darstellt, die als Schöpfung zweiter Natur absolut, zweckfrei, an sich seiend sich setzt, während doch zugleich Machen selber, ja gerade die Gloriole des Artefakts untrennbar ist von eben der Zweckrationalität, aus der Kunst ausbrechen will.4

Kunst kann für Adorno nicht als autarke, aber als autonome – indem sie das aufnimmt, wozu sie gesellschaftlich wurde – Gegenbild sein, als solches ist sie aber immer auch epitheton ornans, „Gestank der himmlischen Rosen, welche die Kunst […] ins irdische Leben“5 streut. Die Kunst kann sich nach Adorno ihrer ideologischen Affirmation nur so weit entziehen, daß sie sich widersprüchlich in sich, die Einheit ihrer Identität auf sich selbst reflektierend als gebrochen zeigt.6 Daher trifft Adorno weder die Kritik an der Autonomie der Kunst noch der Vorschlag, Stoffe und Gegenstände, an denen das Gedicht sich abzuarbeiten hat, konkreter, zeitnaher, aus der politischen gesellschaftlichen Aktualität zu nehmen, solange gilt, was Rühmkorf als zweite Frage hintanstellt.

Was freilich ein Gedicht an zeitlichem Stoffe zu fassen und zu fügen fähig ist und was ein Vers verdauen kann und was er verwerfen muß, das wäre eine zweite Frage. (Die Jahre die Ihr kennt, S. 150)

Für Adorno ist es, was die Kunst betrifft, die erste Frage und Engagement der Kunst nicht anders als in den Kategorien Autonomie, Form, Durchartikulation zu diskutieren. Die Kunst kann sich ins „schmierige Gesellschaftsleben“ und „in den Sudel von Politik und Wirtschaftsfragen“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 184) hinein begeben; wenn sie „sich nicht zu encanaillieren braucht“.7 Das heißt einmal, daß die Kunst, die sich politisch engagiert, weder die Differenziertheit politischer Theorie unterschreitet, noch die des historisch erreichten ästhetischen Niveaus, und das bedeutet zum anderen auch, daß Kunst nicht zur „Gleichgültigkeit“, „Bastelei“, zum „Wiederholungsspiel mit Formeln“, zum „Tapetenmuster“ gerät.8 Deshalb gilt auch für Adorno:

Es gibt kein Sesamwort. Es gibt die reine Löseformel nicht, die das Gedicht entbindet und seinen Autor, jenseits von Zorn und Anteilnahme, in Freiheit setzt. (Die Jahre die Ihr kennt, S. 151)

Was aber für Adorno unter keinen Umständen gelten darf – auch wenn es der Zeitgeist dringend nahelegt –, ist ein Aufrechnen der Kunst, auch der Artistik nicht, gegen gesellschaftliche Theorie und Praxis, denn dann wäre die Gesellschaft um eine wichtige Vorgabe- und Einspruchsinstanz ärmer. Rühmkorfs Plädoyer für die Konkretion ästhetischer Wahrheit und Wahrhaftigkeit, für Genauigkeit und die je besonderen Erfahrungen des einzelnen Ich richtet sich kritisch gegen die Affirmation eines ästhetischen Purismus,9 als triftige Adorno-Kritik kann es nicht akzeptiert werden, denn dazu ist es zu kunstverständig, was die Kunst, und zu realistisch, was die politische Wirklichkeit angeht, überdies dem dialektischen Grundaxiom der ästhetischen Theorie Adornos von der Utopie und Affirmation des gelungenen Kunstwerks, das sich als Widerspruch dissonant zeigt, viel zu nahe; und als Totengräber der Kunst hat Rühmkorf sich nicht verdingen lassen.

Denn was anderes bliebe dem Poeten als dann doch nur der Trost, den schöne Spiele bieten, wo ihm die Furcht, daß nichts bewirkt und nichts verhindert werden kann, den Mut zum Wankelmut verkehrt? Und was anderes bliebe ihm als wiederum nur das Vertrauen auf den Halt der Strophe, geformt, gegliedert und gebunden, wo das Bewußtsein der Vergeblichkeit ihn von Anlaß zu Anlaß frisch aus der Fassung geraten läßt? Ich sage nicht ja. Ich sage nicht nein. (Die Jahre die Ihr kennt, S. 151)

Wie aber lassen sich gesellschaftskritische Konkretion und ,Halt im Gedicht‘ miteinander vereinbaren? Auf das politische Zeitgedicht hat Rühmkorf verwiesen, es aber als konkrete Möglichkeit mehr für andere als für sich erwogen (vgl. etwa S. 64ff.). Eine weitere Möglichkeit ist paradox, die Verbundenheit in der Trennung zu sehen, den politisch-aufklärerischen Schriftsteller vom lyrischen Artisten fein und säuberlich zu scheiden. Rühmkorf hat das seine „Schizographie“, sein ,Doktor Jekyll und Mr. Hyde-Syndrom‘ genannt (vgl. S. 194ff. und 202 und Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 147); sicher besteht diese Trennung, aber sie ist auch nur ein Kunstgriff, der, absolut genommen, so als habe der Aufklärer mit dem Poeten nichts gemein, als setze der eine nicht immer wieder den anderen voraus, den Zugang zu Rühmkorfs Poesie und Poetologie verstellt. In der Poesie selbst liegt nämlich Rühmkorfs Versuch vor, gesellschaftlich-historische Konkretion mit dem „Halt der Strophe“ zu verbinden; das geschieht mit konkreter Stofflichkeit, die quasi plastisch ins Gedicht montiert wird, mit Reflexion und Variationen – „Halteversuche“ (Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 131) –, mit disparaten Einfallen, idiosynkratischen Subjektivismen, verrückten Bildern und halsbrecherischen Reimen, die aber dann doch das Unverbundene verbinden, das Dissonante vereinen: einheitlicher Widerspruch und widersprüchliche Einheit zugleich; „ein ganzes Konglomerat von scheinbar unvereinbaren Wertvorstellungen, Interessen und Gemütsbewegungen, ohne daß das lyrische Subjekt viel mehr als eine fundamentale Zerrüttung anzuzeigen fähig wäre“ (Strömungslehre I, S. 268f.), die sich allerdings in der Einheit des Gedichts begrenzt. Dabei beruft sich die notwendige „artistische Balance als künstlerischer Gewaltakt“ (Strömungslehre I, S. 262) auf atavistische Mittel, magische Beschwörungspraktiken, auf „uraltes Heils vertrauen“ (agar agar – zauzaurim, S. 24), auf einen poetischen Zustand nichtentfremdeter Subjektivität.
Adorno hat in seiner „Rede über Lyrik und Gesellschaft“ dialektische Momente lyrischer Subjektivität ausdifferenziert; Adorno zufolge ist das Gedicht nicht allein unmittelbarer Ausdruck subjektiver Regungen und Empfindungen, vielmehr macht deren notwendige Transformation in und durch die ästhetische Form sie allgemein. Das heißt aber nicht, daß Subjektives – unwillkürliche Impulse, Regungen, Emotionen, Reaktionen, Affekte und Gedanken – zugunsten eines Allgemeinen aufgegeben wird, sondern gegenteilig: durch „rückhaltlose Individuation“, gerade durch das, was noch nicht allgemein gefaßt ist und gilt, hat das Gedicht durch Rück- und Vorgriff teil an einem Allgemeinen, in dem das Individuelle als nicht „Subsumiertes“ aufgehoben wäre, „in dem kein schlecht Allgemeines, nämlich zutiefst Partikulares mehr das andere, Menschliche fesselt“.10 Zudem zeigt sich in den unwillkürlichen Reaktionen des Subjekts Unbewußt-Kollektives, Vorindividuelles, ein Subjektivität und Rationalität Vorausliegendes, das die subjektiven Reaktionen speist und sich gegen seine Unterdrückung wehrt.
Lyrische Subjektivität ist demnach zugleich Ausdruck eines Allgemeinen und direkt-indirekt Kritik daran, da sowohl das Individuelle gesellschaftlich vermittelt ist als auch die Gesellschaft nur ist aufgrund einzelner Individuen. Ist aber das Individuationsprinzip als Natur- und Selbstbeherrschung gesellschaftliches Gesetz, dann ist die Kritik lyrischer Subjektivität nicht nur Kritik am ,schlechten Allgemeinen‘, das gesellschaftlich herrscht, sondern auch am Individuationsprinzip selbst, an dessen Selbstherrlichkeit und monadologischer Vereinzelung, am Atomismus als Gesellschaftsprinzip. Die lyrische Subjektivität verdankt sich zwar diesem Prinzip, geht aber darin nicht auff; sie ist zwar der hochdifferenzierte, selbständige und freie Ausdruck eines unverwechselbaren autonomen Subjekts, verweist aber immer über sich hinaus auf ein Drittes jenseits von schlechter Allgemeinheit und subjektiver Isolation; „zur Verhandlung steht […] ein noch unerforschtes Who-is-who, eine sehnsüchtig erhoffte Einheit in der Zweiheit, die utopische Identität sowohl von Ich-und-ich wie von ,Ich-und-Du‘ in einer verbindenden Harmoniesphäre, deren Name nicht genannt wird und von der wir auch nur ahnen können, daß Rede, Reim und zauberisches Zusammenrechnen hier auf einen dreieinigen Namen hören“ (agar agar – zauzaurim, S. 101). Lyrische Subjektivität als gesellschaftliches Produkt, kritische Instanz und utopischer Vorgriff auf eine Identität jenseits des Identitätszwangs, das Gedicht als gesellschaftlich lizenzierte Versammlung dieser dialektischen Spannungen – Rühmkorf hat diese Verbindungen immer wieder gesehen und gesetzt, sie mit Naturgeschichte und Anthropologie zu untermauern versucht, sie aber auch immer wieder gegen undialektische Verabsolutierungen verteidigt.

In einem sehr tiefen anthropologischen Sinn ist das Gedicht ja wirklich kein Tatort, auf dem Geschichte entschieden oder Welt von Morgen vorbereitet wird, sondern ein Unort, Überort, Unterort, meinetwegen auch Abort, aber immer Utopie, wo sein kann, was eigentlich nicht sein darf, weil das gesellschaftlich zerteilte Unteilbare sich einige befreiende Atemzüge lang gesammelt zu erleben vermag. Ausgehend von einer geradezu penetranten Wahrnehmung umstandsbedingter Persönlichkeitsspaltungen strebt Poesie nicht weniger als eine neue Verfassung des Ich an, eine Verfassung, die praktisch mit jedem Gedicht neu geschrieben wird. Gesellschaftliche Zerrüttungsresultate von den groben Bewußtseinszersetzungen bis in jene feinen Haarrisse verfolgend, die der linken Aufklärtechnik überhaupt nicht mehr zugänglich sind, wird der kühl zergliedernde Blick fortwährend von einem zusammenziehenden, zusammenfassenden begleitet, der die vielfach aufgerissene Natur noch einmal als utopische Einheit konstituiert. (Strömungslehre I, S. 286f.)

Der ,tiefe anthropologische Sinn‘ verweist aufRühmkorfs naturgeschichtliche Forschung zum Ursprung des Reims; an Doppelungen und Wiederholungen entdeckt er eine Lust und ein Bedürfnis besonderer, nämlich paradiesisch-utopischer Art, „denn das Wieder-holen geht gewiß nicht bloß auf den Rückruf eines Schalles oder Klanges, es geht aufs Ganze: die Beschwörung einer verlorengegangenen Einheit in der Zweiheit und insofern eines paradiesischen Grundzustandes. So symbolisiert der Reim […] letzten Endes wohl kaum Geringeres als das Aufgehobensein des Wickelwurms in der Mutter-Kind-Dyade. Worum es insgeheim geht: das Heraufrufen eines vorsintflutlichen Sprachkontinentes, wo das Wort zu Fleisch werden kann und die Doppelung zu Milch“.11 Damit reicht die Dichtkunst in Urszenen menschlicher Sozialisation, in frühe magische Beschwörungspraktiken, in denen das Wort Macht über die Sache verleiht, in denen das sprachmächtige Ich das Machtzentrum der Welt darstellt, alles willkürlich abrufbar ist, auf ein Wort hin entsteht und vergeht; die Sprache zitiert ins Sein, beschwört das, was fehlt, macht elementar heil. Doch Rühmkorf zufolge erinnert der Reim nicht nur phylo- und ontogenetisch paradiesische Feuchte, den Ursprung menschlicher „Omnipotenz- und Zusammenhangsträume“, sondern auch – und das ist sein utopisches Moment – eine sinnlich erfaßbare Ordnung des Ganzen, in dem Gleichklang, Gleichmaß und Symmetrie, harmonische Übereinkunft herrscht, in der das Vielfaltige und Mannigfaltige, das Entgegengesetzte und Getrennte auf symmetrische Verhältnisse kürzbar, generell ausbalancierbar ist. Das von Rühmkorf anthropologisch grundierte menschliche Anklangbedürfnis ist letztlich Index einer ,Heilssehnsucht‘, eines ,Übereinklangbedürfnisses‘, das Ursprung erinnert, um auf die harmonische Ordnung eines Ganzen zu zielen. In jedem lyrischen Anklang wird die ,Sphärenharmonie‘ mitzitiert, Einheit wiederholt, Trennung überwunden.

Ein Rest des paradiesischen Daseins scheint im Lyrischen bewahrt.12

Auch für Staiger ist lyrische Dichtung Wiederholung, Erinnerung, an der die „Feuchte des Ursprungs“ glänzt. Lyrische Dichtung bewegt sich, Staiger zufolge, diesseits diskursiven Verstehens, verdankt sich einer Eingebung von Stimmung und Sprache, die eine Trennung von Subjekt und Objekt nicht kennt, wo alles den „Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende“.13/footnote] Der Lyriker hat nichts zu denken, nichts zu fordern, nichts bewußt zu gestalten, da sich Denken und Singen nicht vertragen, er hat sich vielmehr einzig der Dasein unmittelbarer als Anschauen und Begreifen erschließenden Stimmung hinzugeben, ihr nur hat er nachzugeben, sich von ihr treiben zu lassen, wohin sie ihn trägt.[footnote]Ebd., S. 42 u. 61 Vor einem haltlosen Zerfließen in ,grundloser Stimmung‘ bewahrt das lyrische Gedicht die Wiederholung; hier hat auch der Reim als eine Wiederholungsvariante seinen Platz; er wird von Staiger gerade auch wegen der Klangmagie erwähnt, aber theoretisch nicht ausgezeichnet, er ist für die ,Idee des Lyrischen‘ – das eine Gemeinsame aller lyrischen Vielfalt – von untergeordneter Bedeutung, wie Staigers vier Momente des Lyrischen deutlich machen:

Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer Art (2); Verzicht auf grammatisch logischen und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer Dichtung keinerlei Abstand besteht.14

Fehlender Abstand zwischen Subjekt und Objekt heißt für Staiger auch „Erinnerung“ und meint ein ,lyrisches Ineinander‘, mystisch: Vereinigung von Natur und Dichter, Dichter und Natur; dieses Ineinander kennt kein Objekt und kein Subjekt, kein Ich, das sich durchhält, denn „,innen‘ und ,außen‘, ,subjektiv‘ und ,Objektiv‘ sind in lyrischer Poesie überhaupt nicht geschieden“.15 Mag auch, wie Staiger andeutet, das ,lyrische Ineinander‘ einen paradiesischen Zustand erinnern, so hat es doch keine utopische Qualität, da es nur denkbar ist als irrational regredierendes Unterlaufen einer undialektisch gefaßten Einheit.
Mögen Übereinstimmungen zwischen Staiger und Rühmkorf auch anklingen – die Erinnerung als Rest paradiesischen Daseins heißt bei Rühmkorf „Paradiesesflöte“ (vgl. agar agar – zauzaurim, S. 141ff.) –, entscheidend ist das, was beide trennt. Erschöpft sich bei Staiger das Lyrische in vorrationaler Stimmungseinheit, so ist das für Rühmkorf noch nicht einmal die halbe Wahrheit, da sich dialektische Verhältnisse prinzipiell nicht proportionieren lassen. Rühmkorf zufolge ist der Reim nicht nur Verdoppelung, Beschwörung, „Wiederholungswonne“ und „Lustgeschöpf“, das Harmonie und Ordnung vermittelt, sondern immer auch das dialektische Gegenteil: mißtönend, zersetzend, desillusionierend, entzweiend, Mißklang und Dissonanz; Apollo wird der Satyr zugeordnet, der guten, hellen Ordnung ein teuflisches, aufklärerisch-raffiniertes, respektlos-plebejisches Moment. ,Ursprungsort‘ der dialektischen Hintertreibung des ,Paradiestons‘ ist der „Eintritt in das Reich der Freiheit“, das in menschheitsgeschichtlicher Perspektive bisher immer mit Herrschaft und Unterdrückung verbunden ist. Das dialektische Gegenteil des Harmoniemoments des Reims hat Rühmkorf dem Spott, Hohn und der blasphemischen Albernheit des  ,Volksvermögens‘ abgelesen; ontogenetisch formuliert:

Das Stück um Stück zurückgedrängte Triebwesen, das sein liebes Lustleben dennoch nicht einfach widerspruchslos an die Erziehungsmächte und ihre Pünktlichkeits- und Sauberkeitsauflagen hingeäußert sehen möchte, reagiert mit einem reich gefächerten System an Trotzhandlungen und Destruktionsäußerungen, von denen der Rufmord und die Namens- oder Denkmalsschändung nur eben die feinsten sind. (agar agar – zauzaurim, S. 81f.)

Aufgrund dieser doppelten Abkunft – feuchter Ursprung und despektierlich aufklärerische Freiheit – ist der Reim dialektisch immer beides: „Proportion plus Zerformung, gesuchter Anklang plus gesuchter Mißklang, akustische Übereinkunft plus inhaltliche Dissonanz“ (agar agar – zauzaurim, S. 81), damit „Gleichgewichtsorgan“ und „Disproportionsanzeiger“, „Peacemaker“ und „Unruhestifter“, „Beschwörungsort“ und „Beschwerdestelle“ (agar agar – zauzaurim, S. 109). So sehr Rühmkorf auch die doppelte Abkunft des Reimes hervorhebt, die Dialektik der widersprüchlichen Einheit betont, so versieht er doch das Paradiesmoment des Reims, ohne die Dialektik zu verletzen, mit einem Iktus: der Reim bleibt das „geborene Lustgeschöpf“, so daß „auch die düstersten Prognosen eines lyrischen Apokalyptikers sich im Gedicht zu Lusterscheinungen aufhellen können“ (Strömungslehre I, S. 290). Das gilt aber nur – und darauf muß mit Nachdruck hingewiesen werden, um den Reim nicht zu billig, weil ausschließlich formal auf das Harmoniemoment einzuschwören – im dialektisch gesetzten Rahmen. Ist dieser strikt respektiert, dann läßt sich auf das utopisch ineffabile des Reims verweisen, denn selbst die schwärzeste Dissonanz ist auf Anklang und Farbe angewiesen, so daß der Reim auch in der Negation nichts „Edleres“ im Sinn hat, „als den Zusammenklang des tragisch Getrennten, fatal Auseinandergerissenen, umständehalber Zerteilten wenigstens für einige Atemzüge lang als möglich erscheinen zu lassen“ (agar agar – zauzaurim, S. 114). So sind Reime zwar „utopische Verfassungsorgane“, „utopische Schlichtungsstellen“, „heilendes Mantra“ und „Amulett“, „Begradigung“, doch in der Begradigung des Ungeraden, im Reimen des Ungereimten sind die Widersprüche angezeigt, ist der lyrische Zauber auch Entzauberung, „zersetzend-schön“, Zeichen von Entfremdung.
Unschwer lassen sich hinter diesen genealogischen Forschungen Rühmkorfs ästhetische Theorie, seine allgemeinen Überlegungen zu Aufgabe und Funktion der Kunst, seine gesellschaftskritische Theorie und Praxis erkennen, jene sind von dieser bestimmt und umgekehrt. Was für den Reim gilt, gilt im wesentlichen auch für die Kunst, besonders das dialektische Zugleich von Zauber und Entzauberung, Spruch und Widerspruch, Utopie und Entfremdung. Rühmkorf respektiert die historisch-gesellschaftlich entstandene Trennung von Kunst und Gesellschaft, die Ablösung der Kunst vom magischen Ritual, von einer Metaphysik des Wahren, Guten und Schönen, ihre autonome Tradition, die nicht mit dogmatischem Reduktionismus zu widerlegen ist; und doch hat für ihn eine dichotome Entzweiung nicht statt, sondern eine dialektische Auseinandersetzung. Grundlegend dafür ist nicht eine ästhetische Religiosität – Kunst kann weder endgültig versöhnen noch erlösen, hat keine höheren Weihen und ist erst recht nicht weihevoll –, sondern die ,materialistische‘ Einsicht, daß die Kunst ohne Fundierung in der Wirklichkeit zu keiner autonomen Gestaltung fähig ist, ihre Phantasie und Form ist ,erdenschwer‘, und sie wird, Antäus vergleichbar, kraftlos, wenn sie sich als „erdentbundene(s) Flügelwesen“ begreift, „ihr Grund und Boden ist noch immer das sinistre soziale Sein, dort sammelt sie ihre Erfahrungen und nimmt ihre Kollisionsschäden entgegen wie jedermann sonst“ (Strömungslehre I, S. 283). Wegen dieses dialektischen ,Vorrangs des Objekts‘ hält Rühmkorf die Trennung respektierend und ihr zum Trotz am Zusammenhang von Schönheit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit fest, wobei Wahrheit und Wahrhaftigkeit zunächst ein unverfälschtes Sich-Einlassen auf die Wirklichkeit, auf das, was ist, meint. Kunst „verludert“ Rühmkorf zufolge zu einem „Luxusschnörkel“, wenn sie sich selbst nicht mehr als „Entfremdungsprodukt“ zu erkennen gibt, wenn sie nicht auch gleichzeitig an sich selber zeigt, daß sie nicht halten kann, was sie utopisch verspricht. Kunst, die sich nicht mit „Wahrhaftigkeit“ auf die konkrete historisch-gesellschaftliche Wirklichkeit einläßt, wird zum „Verblendstück“, zur „tönenden Hohlform“, die prätendiert, sie könne das, was in der Realität auseinander ist, in schöner Form bruchlos zusammenfassen; Kunst büßt ihre Verbindlichkeit ein, wenn ihre Gegenbilder von „Symmetrie und Schwerelosigkeit“, von Harmonie und Wohlklang, Autonomie und Individualität nicht in „ein konkretes Dasein aufgesogen werden können“ (agar agar – zauzaurim, S. 108). Bei aller Skepsis gegenüber dem Wirkungspotential der Kunst, „daß realistische Abbildlichkeit der Wahrheitsfindung diene, eine perspektivische Durchdringung von elenden Herrschaftsverhältnissen schon befreiende Tat[], die Hoffnung auf Wirklichkeitsveränderung ein ästhetisches Qualitätsmerkmal, ein klarer Klassenstandpunkt schöpferisch ergiebig“ (Strömungslehre I, S. 259) sei, hält Rühmkorf mit hartnäckiger Vehemenz an der Dialektik von „Schönheitssinn“ und „Wahrheitsverlangen“ fest; sie ist das Zentrum seiner „Schreibelehre“, das er, wie besonders seine Kritik an Enzensbergers Versuch einer politischen Ästhetik zeigt, nicht preisgibt.
Enzensbergers „Literatur und Interesse“ zeichnet sich für Rühmkorf gerade dadurch negativ aus, daß sie diese Dialektik durch eine pauschalisierende Dichotomie ersetzt, die nur noch starre Antithesen und exklusive Alternativen zulassen kann. Alle Kunst und besonders die Literatur ist Enzensberger zufolge ldeologie, ausnahmslos interessierte Affirmation der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse; Funktion der Literatur ist es, „etwas sonst nicht Vorhandenes darzustellen. Sie ist Kompensation eines sonst Ermangelten. Ihre Abbildlichkeit ist die des Durstes durchs Wasser, des Bedürfnisses durch den Wunsch und ihre Wirkung die der Sättigung.“16 Die Literatur vermittelt eine andere Welt, die nicht defizitär ist, vielmehr ein Sinnganzes ausmacht; mit all ihren Möglichkeiten vom „Hokuspokus“ bis zum „privilegierten Genuß“, vom Wahnsinn bis zur Aufklärung ist die Literatur einzig dazu da, die schlechte Wirklichkeit mit Utopie zu „überschreiben“. Literatur ist Utopie und Ideologie zugleich, wobei Kunstschönes und gesellschaftliche Utopie von Enzensberger strukturhomolog gefaßt werden. Das „Schöne am Schönen ist seine utopische Anordnung. Es hat dieselbe Struktur wie das real eingelöste Sinnverhältnis zwischen dem Einzelnen und der produktionsbestimmten Gesellschaft […]. Das Kunstwerk ist die Demokratie seiner Teile und das letzte semantische Symbol für das vergessene allgemein-gesellschaftliche Sinnziel der materiellen Produktion, und also für die Utopie.“17 Die Kunst ist utopisch aus Herrschaftsinteresse, das die Utopie realiter verweigert. Die utopische Struktur aber macht die Kunst notwendig ideologisch, Kunst ist nur als „sinnproduzierende Struktur“ oder sie ist nicht; daher ist die Kunst qua Kunst gar nicht fähig, die defizitäre Wirklichkeit darzustellen, sie ist auf Sinn verzaubert, in ihr „hat das Bestehende entweder Sinn – er sei wie immer gebrochen, rückseitig negativ – oder es kommt nicht vor: immer wird es ins Utopische deformiert. Insofern muß sie das Bestehende gutheißen auch noch in der Negation, in der ausdrücklichen Auflehnung, in der Klage im Spott – immer muß sie dazusagen: es hat Sinn, und damit aber auch: es kann bleiben. Sie kann Kritik vorbringen, indem sie das Kritisierte auch schon wieder legitimiert; die Alternative von politischer Praxis nur wecken, um sie sogleich wieder sinnberuhigend einzuschläfern; und wo sie gegens Interesse ankämpft, vertritt sie es auch schon: insofern heillos.“18
Konsequent müssen alle Selbstreflexions- bzw. Selbstzerstörungsversuche der schönen Kunst versagen, in der Kunst machen „Zersplitterung“, Auflösung, Absurdität, gerade wenn sie ins Extrem getrieben werden, Sinn und Kunst unterwirft sich damit ideologischem Herrschaftsinteresse. Deutlich wird hier, daß sich Enzensbergers etwas vollmundig vorgegebene Auflösung des ,Rätsels der Kunst‘ als nichts anderes als eine formalistisch-übertriebene Dichotomisierung der Dialektik der Kunstautonomie entpuppt, wie sie u.a. Adorno vorgelegt hat; sie bedient sich dabei des bewährten und besonders in der theologischen Atheismuskritik traditionell verbürgten Musters formalistisch entleerter Dialektik: etwas negieren heißt zugleich es setzen. Doch diese formale Ausschließlichkeit, die dialektische Differenzierungen nicht gestattet, läßt sich inhaltlich weder auf das von Adorno dialektisch gefaßte und deshalb gelegentlich auch verfluchte19 utopisch/affirmative ineffabile der Kunst ein – der totale Ideologieverdacht durchstreicht sich selbst –, noch auf die Kraft der Negation, die Rühmkorf mit dem „Wahrheitsverlangen“ der Kunst zusammendenkt. Dabei geht es Rühmkorf nicht um eine Leugnung des ästhetisch-formalen Moments des Utopischen der Kunst, wohl aber um eine Kritik an der undialektischen Entpflichtung der Form von allem ,kruden Stoff‘; der Schwenk von der Totale ins künstlerische Detail zeigt die formalen Verhältnisse komplexer durchwachsen mit Inhaltlichem. Deshalb stellt Form für sich genommen auch Rühmkorf zufolge im Kunstwerk nicht die Lösung dar, Form ist vielmehr das „Lösungsmittel, in dem die Wahrheit aufgeht als eine sinnlich überzeugende Lichterscheinung“ (Strömungslehre I, S. 290). Betroffenheit, Verbindlichkeit und Authentizität des Kunstwerks verdanken sich seinem Wahrheits- und Formfanatismus. „Erst wo der böse, der zertrennend erkennende Wahrhaftigkeitsblick sich bindend auf das Medium der Form einläßt und umgekehrt das heftigste Verlangen nach Fügung und Zusammenhang sich der partikularisierten Bewußtseinsbrösel bemächtigt, beginnen Wahrheit und Schönheit sich utopisch zu vermählen.“ (Strömungslehre I, S. 291) Was das konkret heißen mag, kann nur jedes Kunstwerk für sich ausmachen, möglich, daß es theoretisch gar nicht faßbar ist; sicher ist, daß die beanspruchte Wahrheit weder im logischen Diskurs abstrakt zu verrechnen, noch in die Galerie stillgestellter ,ewiger Wahrheiten‘ aufzunehmen ist; soviel steht allerdings fest: die Kunst hat sich beidem zu stellen, dem Traditionszusammenhang ästhetischer Lösungen und der konkreten Wirklichkeit.

Ein Entkommen, jedenfalls, gibt es nicht für die Kunst, und ein Gedicht ist immer nur so frei, als die Not es wendig macht. (Strömungslehre I, S. 246)

Also wie gesagt, der Kopf als ein Stein des Anstoßes, und die beim Zusammenprall mit der wirklichen Welt erzeugten Kollisionsfunken: die notgedrungenen und der Not entgegengesetzten Elementarbauteile des Gedichts. (Haltbar bis Ende 1999, S. 104)

Rühmkorfs Verteidigung der Kunst gegen einen totalen Ideologieverdacht ist ein Plädoyer für ihre dialektische Autonomie und, dialektisch korrespondierend: für die Autonomie des Subjekts. Abgegrenzt von der Wirklichkeit, gleichwohl Produkt gesellschaftlicher Realität, behauptet sich im Kunstgebilde „ein utopischer Raum, in dem freier geatmet, inniger empfunden, radikaler gedacht und dennoch zusammenhängender gefühlt werden kann als in der sogenannten ,wirklichen Welt‘“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 100). Wenn auch der Verfasser nicht als omnipotente und ausschließliche „verfassungsgebende Instanz“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 116) begriffen werden kann, so bewahrt sich doch in der Kunst – und für Rühmkorf vor allem in der Poesie – ein Subjekt mit all seinen individuellen Berechenbarkeiten, seinen Freuden und Verstörungen, seiner Trauer und Melancholie gegen den uniformen „ausweglosen Kommunikationskäfig“ Welt. Das Ich als Autor, aber auch als Leser, mit seinen Widersprüchen verfaßt sich in der Kunstgestalt zum abgelösten Sinnbild seiner selbst, „im Gedicht konstituiert sich augenfällig oder akustisch beweiskräftig so etwas wie die Einheit der Person“, gerade da, „wo die bis in ihre Grundfesten erschütterte Person über das magische Wort zur Anerkennung ihrer selbst ermutigt wird“ (Strömungslehre I, S. 267 u. 270). Das gelingt dem Gedicht, indem es sich auf die Welt einläßt, um sich als „organische Ganzheit“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 109) von ihr abzustoßen, nicht hermetisch geschlossen, aber Spannungsverhältnisse ausbalancierend, das zerteilte Individuum zusammenfassend; in diesem Sinn ist Kunst „Überlebenskunst“, eine „lebensmögliche Balance“ im schönen Schein, allerdings ein ungewiß bleibender Lebensversuch, da „der Weg nach Utopia […] noch nicht ausgepflastert vor Augen liegt“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 100).
Mit seiner Betonung der Autonomie der Kunst und des Subjekts hält Rühmkorf an einer Tradition der Moderne fest, die sich der Modernität eines Allgemeinen postmoderner Textur verweigert. Ganz bewußt setzt Rühmkorf auf für jeden „gnadenlosen Fortschrittskopf“ „reaktionäre Unerlaubtheit“ (Strömungslehre I, S. 150): nicht nur, daß er an der Klangmagie der Poesie festhält, er zitiert auch die Tradition der Jahrmärkte und Bauchläden, der Narren, Akrobaten und setzt das Alberne, Komische, respektlosen Spott und hinterlistige Ironie gegen den hohlen Ernst des Lebens; hier geht es um ,Schnurrpfeifereien‘, nicht aber um belanglose Spielchen, denn der artistische Anspruch kann von dem Vergleich mit den „höchsten […] Hervorbringungen der Menschheit“ nicht lassen, nicht aus Gründen eines „Allzweckartistentums“ (Strömungslehre I, S. 177), vielmehr stellt die Kunst sich aus fürs Leben. Der ästhetische Imperativ „Komm, kucken, Kunst“ heißt eigentlich: „Hin! Hin! kuck doch hin, der Tag“ (Haltbar bis Ende 1999, S. 35), wenn auch die schöne Aufforderung in ihrer ästhetischen Leichtigkeit ihre Angestrengtheit verbirgt, die um ihre (mögliche) Vergeblichkeit weiß. Man mag das ein ,Trostpflaster‘ nennen, wenn es nur gefällt (vgl. bleib erschütterbar und widersteh, S. 258).

Alo Allkemper

 

 

 

Der Poet auf dem Hochseil

Dieser aus vielen Widersprüchen bestehende Poet, der sich so erfolgreich einer Definitionsformel verweigert, ist auch in seinem sechzigsten Jahr der lebendige Widerspruch geblieben: trotz dieses Alters ein Artist, der mutiger denn je auf sein Hochseil springt und seine poetischen Kapriolen absolviert, ohne Netz und mit einer geradezu halsbrecherischen Kühnheit, die Sprache als biegsame Balancestange fest in der Hand und allen widrigen Seitenwinden trotzend. Allerdings: „Arbeit ist des Artisten Schmuck“ – so betont Rühmkorf mit allem Nachdruck. Die Leichtigkeit und Eleganz, mit der er seine Kunststücke durchführt, ist langen Trainingsstunden abgetrotzte Artistenperfektion, weit entfernt von jeder Selbstzufriedenheit, ständig mit der Möglichkeit des Absturzes konfrontiert und gegen die eigenen Selbstzweifel ankämpfend. Das Gedicht „Hochseil“ setzt mit den Versen ein:

Wir turnen in höchsten Höhen herum,
selbstredend und selbstreimend,
von einem Individuum
aus nichts als Worten träumend.

Dieser utopische Aufriß eines in der Sprache zu sich selbst findenden Ichs, das seine Partikularitäten und Fragmentierungen einen poetischen Augenblick lang ungeschehen macht und punktuell mit sich selbst identisch wird, unterschlägt nicht den Risikofaktor dieser poetischen Veranstaltung:

Ich schwebe graziös in Lebensgefahr
grad zwischen Freund Hein und Freund Heine.

Die melancholische Einsicht, daß jeder Schritt auf dem Hochseil, vom nicht abzuschüttelnden Schatten des Sensenmannes begleitet, fehlgehen kann und das Dichter-Ich die andere Seite nicht erreicht, wo Freund Heine, Artist und Bruder in Marsyas auch er, ihm zuwinkt, wird freilich noch von einem grundsätzlicheren Zweifel bestimmt:

Die Loreley entblößt ihr Haar
am umgekippten Rheine…

Der Fluß, die Natur, vergiftet und zur Müllkippe geworden, sind kein naturgeschichtliches Bilderreservoir mehr, aus dem die poetische Imagination „Achtzehnhundertichweißnichtmehr“ noch schöpfen konnte. Es ist alles viel trostloser geworden seitdem. Kein Wunder also, daß mitunter die pure Verzweiflung den poetischen Darstellungsgestus überwältigt, wenn sie allerdings stets sogleich auch ironisch gebrochen wird:

Ich sage: wer Lyrik schreibt, ist verrückt,
wer sie für wahr nimmt, wird es.

Doch auch das gehört zur Widersprüchlichkeit dieses Poeten, daß er den geschichtsphilosophischen Befund nicht zum Bleigewicht an den Füßen werden läßt, sondern sich punktuell immer wieder davon befreit und gelegentlich, so in der „Variation auf ,Abendlied‘ von Matthias Claudius“, fest davon überzeugt ist:

Ich habe gute Weile,
der Platz auf meinem Seile
wird immer uneinnehmbar sein.

Hinzu kommt noch etwas anderes: Dieses Seil ist ja nicht in der Dachstube des Poeten von einem Balken zum andern gespannt, sondern reicht von Dachfirst zu Dachfirst auf dem offenen Markt. Die Kunststücke des Artisten sind keine ausgezirkelten hermetischen Exerzitien, sondern werden häufig coram publico vorgeführt, sind sich ihrer kulinarischen Qualitäten durchaus bewußt und versuchen, ein weites Publikum wenn schon nicht zu überzeugen, so doch zumindest zu erreichen.
Auch das ist eine Facette in diesem so reichhaltigen und schwer zu definierenden Dichterleben, daß Rühmkorf stets gegen das Gesetz der Fliehkraft, das Poesie und Publikum ständig stärker auseinanderreißt, angekämpft hat: als witzig-ironischer Mahner und Warner, der mit seinen zahlreichen Kommentaren (die zum Besten gehören, was literarische Essayistik in den vergangenen Jahrzehnten hierzulande hervorbrachte) die literarische Entwicklung kontinuierlich begleitet hat, als am Gesellschaftsganzen und an den politischen Zuständen der deutschen „Republiken“ leidenschaftlich und leidend interessierter Zeitgenosse, der sich nie in sein poetisches Fluchtrefugium (das Lotsenhäuschen an der Hamburger Övelgönne) zurückzog. Daß er bei einer so vielfältigen Interessens- und Aktionslage ein so umfangreiches und die unterschiedlichsten Gattungen umfassendes literarisches Werk zustande gebracht hat, ist imponierend, insbesondere, wenn man bedenkt, daß sich dieses Werk nie nach aktuellen Trends und literarischen Börsenmarkierungen gerichtet hat, sondern sich in seiner eigenen Schwerkraft fortbewegt und dennoch immer auf die Hektik des literarischen Betriebs als poetische Basiskraft eingewirkt hat.
In den autobiographischen Notizen Die Jahre die Ihr kennt findet sich die Überlegung:

Habe viele Schlachten, aber nie meine Identität verloren. Wußte vermutlich auch nie recht, was das eigentlich ist.

Die Studien des folgenden Bandes machen den Versuch, die Einschränkung im zweiten Satz dieses Zitats wenn nicht aufzuheben, so doch einzugrenzen. Mit andern Worten: Sie wollen die Identität dieses Autors und seines Werks von verschiedenen Seiten und Ansätzen her anschaulich machen, interpretierend, kommentierend, nachzeichnend, kontrastierend und gelegentlich kritisierend. Die Beiträger dieses Sammelbandes entstammen überwiegend einer Generation, die mit Rühmkorfs Werk gleichsam großgeworden ist, sein Wachsen und seine Wandlungen über Jahrzehnte hinweg als Zeitgenossen miterlebt haben; das Werk Rühmkorfs bildet so ein Stück ihrer eigenen literarischen Identität. Einige Beiträge stammen von Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlern, die Rühmkorf im Vieleck seiner Reisestationen zwischen Hamburg und Paderborn, Leipzig, Bensheim und Hannover kennengelernt haben und die er ermunterte, über ihn zu schreiben; andere Beiträger haben bereits früher über Rühmkorf publiziert, ohne den Autor näher zu kennen. Die Annäherung der Mitarbeiter reicht von der wissenschaftlich-systematischen Studie bis zum Essayistischen, ist geprägt von unterschiedlichen in- und ausländischen Schreibtraditionen sowie von persönlichen Vorlieben. Bei aller Unterschiedlichkeit des Ansatzes und der Methode versuchen jedoch alle Beiträge, den Blick vom einzelnen auf Zusammenhänge und Verbindungen zu lenken. Sie wollen damit den Anteil dieses Werkes am substantiellen Vorrat unserer gegenwärtigen Literatur verdeutlichen und zugleich ihre Reverenz einem Autor erweisen, der sich der Ritualisierung durch Renommee und Betrieb wie wenige verweigert hat und in seiner persönlichen Ausstrahlung der lebendigste Fürsprecher der Poesie geblieben ist.
So sind diese Studien Zeugnisse der vielfältigen Anregungen durch Rühmkorf und sein Werk, entstanden aus der Überzeugung, daß sein Œuvre einen wesentlichen Beitrag zur deutschen Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte bildet – haltbar bis über 1999 hinaus.

Manfred Durzak / Hartmut Steinecke, Vorwort

 

Inhalt

– Manfred Durzak/Hartmut Steinecke: Der Poet auf dem Hochseil

– Alo Allkemper: „Komm, kucken, Kunst“. Zu Peter Rühmkorfs „Schreibelehre“

– Ulrike Rainer: „Aber diese Treue zu sich selbst…“: Die Auflösung von Grenzen im Werk Peter Rühmkorfs

– Günter Oesterle: Mit gespaltener Zunge. Zur Dialogizität in der Poetik Peter Rühmkorfs

– Volker Neuhaus: „Vorgängerschaft und Vorsängerschaft im Geiste“. Peter Rühmkorf und die Tradition

– Alexander von Bormann: Peter Rühmkorfs Kritik des Traditionalismus

– Volker Wehdeking: Rühmkorfs glücklose Theaterversuche (1969–1974): Vom Dilemma, den Untergang des Humanen in Wirtschaft, Kultur und Familie einem bürgerlichen Publikum unterhaltsam beibringen zu wollen

– Walter Seifert: Peter Rühmkorfs „Aufgeklärte Märchen“

– Italo Michele Battafarano: „Die Welt durch meine Brille sehen zu wollen“: Zu Peter Rühmkorfs „Anfällen und Erinnerungen“

– Peter Bekes: „Weltuntergang – verschwindibus –“. Zur Rezeption von Apokalyptik und Prophetie in der Lyrik Peter Rühmkorfs

– Jürgen H. Petersen: „… ich rühme Korff“. Sprachspiele in Peter Rühmkorfs Gedichten

– Klaus Schuhmann: „Fundament“ und „Gewölbezone“ – zur Architektur von Peter Rühmkorfs poetologischem Weltbild (am Beispiel des Buches Walther von der Vogelweide, Klopstock und ich)

– Dieter Lamping: Das Gedicht in der Zeit, die Zeit im Gedicht. Peter Rühmkorfs „Zum Jahreswechsel“ als modernes Zeit-Gedicht

– Gisela Wand: Expreß: Studien zur Dynamik in Peter Rühmkorfs Lyrik

– Hartmut Steinecke: „Arbeit ist des Artisten Schmuck“. Peter Rühmkorfs Porträt „Selbst III/88“

– Manfred Durzak: Ist Rühmkorf dabei, ein Klassiker zu werden?

– Ein Gespräch mit Peter Rühmkorf

– Siglenverzeichnis der zitierten Werke

– Peter Rühmkorf: Werke

– Über die Autoren

 

Fakten und Vermutungen zu Manfred Durzak + Kalliope
Fakten und Vermutungen zu Hartmut Steinecke

 

Hans Edwin Friedrich: Phönix voran!.  Ringvorlesung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Bernd Erhard Fischer: Peter Rühmkorf in Altona

Peter Rühmkorf-Tagung vom 23. bis zum 26.10.2009: Im Vollbesitz meiner Zweifel – Peter Rühmkorf

 

 

Gespräch I – Walter Höllerer spricht mit Peter Rühmkorf über seine Schulzeit

 

Gespräch II – Das Gespräch dreht sich um Rühmkorfs Studienzeit

 

Gespräch III und Lesung I – Peter Rühmkorf spricht über seine Zeit bei der Zeitschrift Konkret und liest Lyrik

 

Gespräch IV und Lesung II – Walter Höllerer spricht mit Rühmkorf über Politik und Rühmkorf liest Lyrik

 

Gespräch V und Lesung III – Ein Gespräch über Peter Rühmkorf als Poet und Poetologe. Noch einmal liest Rühmkorf Lyrik

 

Lesung und Gespräch VI – Peter Rühmkorf liest Gedichte aus dem Band Kleine Fleckenkunde, dann beantwortet er Fragen aus dem Publikum

 

Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 

 

Zeitzeugen – Thomas Hocke im Gespräch mit Peter Rühmkorf (1993)

  

Zum 70. Geburtstag von Peter Rühmkorf:

Hajo Steinert: Ein Leben in doll
Deutschlandfunk, 24.10.1999

Zum 75. Geburtstag von Peter Rühmkorf:

Hanjo Kesting: In meinen Kopf passen viele Widersprüche
Sinn und Form, Heft 1, Januar/Februar 2005

Volker Weidermann: Der Eckensteher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.9.2004

Zum 10. Todestag von Peter Rühmkorf:

Ulrike Sárkány: Zum zehnten Todestag des Poeten Peter Rühmkorf
ndr.de, 7.6.2018

Fakten und Vermutungen zu Peter RühmkorfKLGIMDb +
Archiv + Internet Archive + Kalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2Johann-Heinrich-Merck-Preis +
Interview 1, 23
Porträtgalerie: Autorenarchiv Isolde Ohlbaum +
Autorenarchiv Susanne Schleyer + Galerie Foto Gezett
shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf Peter Rühmkorf: Spiegel ✝ Die Welt ✝ FAZ 1 + 2 ✝
literaturkritik.de 1 + 2 ✝ Die tageszeitung ✝ Die Zeit ✝
Badische Zeitung ✝ Haus der Literatur  Tagung ✝ Stufe ✝

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Rühmkorfzahn“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Rühmkorf, der“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Rühmkorf

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 1/2

 

Film über Peter RühmkorfBleib erschütterbar und widersteh. 2/2

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