Pablo Neruda: Hungrig bin ich, will deinen Mund

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Pablo Neruda: Hungrig bin ich, will deinen Mund

Neruda-Hungrig bin ich, will deinen Mund

Fliegen muß man in dieser Zeit – wohin?
Ohne Flügel, ohne Flugzeug, aber fliegen ganz gewiß:
nichts gebracht haben die Schritte, die vorübergingen,
sie haben die Füße des Reisenden nicht
aaaaaemporgehoben.

Fliegen muß man in jedem Augenblick wie
die Adler, die Fliegen und die Tage,
bezwingen muß man Saturns Augen
und einsetzen soll man neue Glocken.

Nun sind weder Schuh noch Weg genug,
nun taugt die Erde nicht mehr den Verirrten,
nun haben die Wurzeln die Nacht durchzogen,

und dein Bild wird auf einem andren Stern erscheinen,
ein für allemal vergänglich
und in eine Mohnblume verwandelt zum guten Ende.

 

 

 

Pablo Neruda – ein Dichter der Liebe

Pablo Nerudas Liebessonette, 1959 im Eigenverlag publiziert, lieferbar nur auf Bestellung, sind von der Kritik stets mit besonderer Diskretion betrachtet worden. Lange Zeit schwebte über ihnen der schwarze Engel katholisch-bürgerlicher Moral; denn diese Gedichte sind Zeugnisse eines Ehebruchs. Doch wer von uns, die wir sie heute lesen, möchte sich den Genuß verderben lassen, indem er sie post festum an einer Moral mißt, die auch schon lange keinen Bestand mehr hat. Die „Hundert Liebessonette“ sind Matilde Urrutia gewidmet.
Der Dichter lernt sie 1946 kennen, und er vergißt sie nach erster und mehr zufälliger Liebesnacht. 1949 führt Amor noch einmal Regie und schickt Matilde ans Krankenlager Nerudas – er litt an einer Venenentzündung –; von nun an wollen sie einander nicht mehr loslassen. Der Dichter erklärt sie zu seiner Muse und zu seiner Krankenschwester; in den Sonetten sehen wir Matilde die Köchin und Matilde die Gärtnerin, Matilde die Sekretärin und Geliebte auf Zeit. Ein erstes Mal heiraten sie auf Capri in theatralischer Kostümierung, wie Neruda es liebte, mit dem Mond als Trauzeugen. Nach dem Gesetz heiraten sie erst am 28. Oktober 1966 in Chile, auf Isla Negra.
Davor liegen die Jahre des Doppellebens. Anonym erscheinen 1952 Nerudas Verse des Kapitans, leidenschaftliche Notate des Augenblicks, der Geliebten in Hotels und auf Reisen zugesteckt, auf Servietten und Hotelrechnungen gekritzelte Huldigungen und Tröstungen. Die Liebessonette dagegen sind im Vergleich mit den Versen des Kapitans in Ruhe geschriebene Bestandsaufnahmen einer Liebe, die abwechselnd das Gesicht der Medusa und das der Muse zeigt.
Im Poem „Holzfäller, wach auf!“ (aus Der Große Gesang) finden wir die erste Spur dieser Liebe, die noch nicht bei ihrem Namen genannt wird. Der Dichter bittet um Frieden für seine rechte Hand, „die nur schreiben will Rosario“. Erst in den Liebessonetten erklingt die Anrufung der geliebten Matilde in poetischer Überhöhung:

Matilde…
Du bist, was aus der Erde wächst und währt…

Daß die Verse des Kapitäns anonym erschienen, geschah aus Rücksicht auf Nerudas Ehefrau Delia del Carril. Für den zwanzig Jahre jüngeren Dichter war sie einst die Fee gewesen, die den melancholischen Jüngling aus dem regenverhangenen chilenischen Süden in die künstlichen Paradiese der Städte versetzte. Aus kultivierter aristokratischer Familie kommend, öffnete sie ihm die Türen zu den Kreisen, in denen Kunst und Schönheit etwas galten. Und sie begleitet Neruda auf seiner Flucht durch die Länder Lateinamerikas nach Europa, als der chilenische Diktator Videla den kommunistischen Abgeordneten Neftali Reyes, bekannter als Pablo Neruda, 1948 für vogelfrei erklärt.
Es sind die Jahre des Kalten Krieges. Aus Moskau und Ostberlin kommend, darf Neruda nicht in Frankreich einreisen. Im Januar 1952 verfügt die italienische Regierung seine Ausweisung. Doch in Rom begrüßt den Dichter eine protestierende Lesergemeinde. Die Schriftstellerin Eisa Morante schlägt mit dem Regenschirm auf die Carabinieri ein. Tage später nimmt die Regierung ihre Verfügung zurück. Und so beginnt auf Capri die große Romanze mit Matilde Urrutia, die Neruda gefolgt war und sich mit ihm in Berlin und in Bukarest heimlich getroffen hatte.
Neruda nennt sie einmal sein „Bauernmädchen aus Coihueco“. Wie er stammte Matilde Urrutia aus den armen Verhältnissen des Südens:

Du kommst
aus den rauhen Regionen von Erdbeben und Kälte
Du bist der arme Süden, von da kommt auch meine Seele:
deine Mutter in ihrem Himmel wäscht noch immer die Wäsche
mit meiner Mutter. Deshalb, Gefährtin, habe ich dich erkoren.

Matilde Urrutia war Absolventin des Konservatoriums von Santiago. In Mexiko hatte sie eine Musikschule gegründet. Sie war, liest man ihre Memoiren (Mein Leben mit Pablo Neruda, dt. 1989), die naive Schönheit vom Lande mit dem sprichwörtlich großen Herzen. In den Jahren an der Seite Nerudas, schreibt sie, absolvierte sie ihre politische Erziehung. Nach dem Tode Nerudas bleibt sie in Chile – für die Junta eine lästige, mahnende Erscheinung. Unter Lebensgefahr betreut sie die nachgelassenen Manuskripte. Sie erfüllt so Nerudas Bitte in einem der letzten Sonette:

Sterb ich, so überlebe mich mit all deiner reinen Kraft,
daß du erweckst den Zorn der fahlen Furie und der Kälte…

Am zehnten Todestag des Dichters, am 23. Oktober 1983, hält Matilde Urrutia eine mutige Rede im Teatro Cauplican von Santiago:

Ich habe es gesagt und wiederhole es: Pablo lebt… Darum bitte ich hier nicht, daß wir mit einer Schweigeminute an ihn denken. Nein! Ich bitte euch für Pablo um eine Minute der Freude, des Lärms, des lauten Beifalls.

Matilde Urrutia stirbt am 5. Januar 1985 in dem Haus in Valparaiso, das Neruda ihr geschenkt, das die Soldateska, als sein Freund Salvador Allende gestürzt wurde, zerstört und das sie wieder aufgebaut hatte.

In seiner Widmung für Matilde Urrutia schreibt Neruda, wie er in seiner „großen Bescheidenheit“ diese Liebessonette (von denen der Übersetzer die großen Gedichte ausgewählt hat) ohne Reim und Schmuckwerk habe anfertigen wollen. Es sei dies die ehrliche Arbeit eines Strandläufers, eines Naturbetrachters und Vogelkundlers. Aus dem Holz, das ihm das Meer geschenkt, habe er mit dem Werkzeug, das zur Hand war, Axt oder Taschenmesser, die vierzehn Planken der Sonette gezimmert. „Nie habe ich Interesse an Definitionen, Etiketten gehabt“, heißt es in seinen Memoiren. Dagegen sind seine Metaphern „angefüllt mit Wirklichkeitsstoff“ (Erich Arendt). Es sind die Metaphern der alltäglichen Schönheit, der einfachen Dinge, die der manische Sammler Neruda sich von den Trödelmärkten in aller Welt in seine Behausungen holte. Ins Wort gehoben, zeigen die Dinge ihre Transzendenz. Und in der Transzendenz taucht die Dichtung vergangener Jahrhunderte auf Mit Shakespeare hatte sich Neruda auf Capri beschäftigt. Der dunkle Klang der Shakespearschen Sonette legt sich zuweilen über die Heiterkeit auch dieser Sonette. Die Huldigung an die Geliebte gerät zur Huldigung an die spanischen Dichter des eher eisernen als goldenen Zeitalters: allen voran Quevedo mit seiner Verzweiflung und seinem schwarzen Humor im Narrenkleid. Und es sind Góngoras die Syntax sprengenden Irrealitäten, die hier auftauchen und die uns erst über den Umweg surrealistischer Dichtung unseres Jahrhunderts vertraut wurden. Es sind diese Anklänge, die auch der Übersetzer im Ohr hatte und die das Nachdichten zu einem Weiter-Dichten, zu einem Herüber-Bringen in unsere Zeit machten. Das Wesentliche wird dabei kaum verlorengehen, oder mit den Worten Matilde Urrutias:

Ich habe ihn einen Dichter der Liebe genannt.

Fritz Rudolf Fries, Nachwort

 

Für Pablo Neruda

ist jedes seiner Liebessonette das Geschenk eines hingebungsvoll Liebenden an seine Geliebte. In der Poesie, im Gedicht, möchte er ihr so nahe sein, daß „ich in meinem Schlaf deine Augen schließe“. Erst durch die Liebe wird die Welt zum bewohnbaren Planeten.
Nerudas Liebessonette sind in ihrer unvergleichlichen Kraft und ihrem Bilderreichtum einzigartig, es sind die Gesänge eines Hymnikers. Fritz Rudolf Fries, ausgewiesener Kenner der lateinamerikanischen Literatur, hat sie kongenial ins Deutsche übertragen.

Luchterhand Verlag, Klappentext, 1997

 

Triptychon für Pablo Neruda

1
Santiago de Chile, Mai 1968. Kalter, regenwindiger Nachmittag. Wir streben auf der Strasse die Hänge des San Christobal hinan, suchen das Haus des grossen Lebens- und Todes-Rhapsoden Pablo Neruda. Vorübergehende, die wir danach fragen, schauen uns verständnislos an. Sie haben diesen Namen angeblich – nie gehört. Erst, als wir dringlich werden, ihnen klar machen, es handle sich um einen Schriftsteller, seinen Geburtsnamen nennen und zögernd hinzufügen, dass er ein weltberühmter Mann sei, politisch engagiert, klärt sich die spöttisch verschlossene Miene. Und mit einem Lächeln, das Ironie ahnen liess, entweder uns oder den Dichter angehend, wies man uns den Weg.
Leider hatten wir nicht vorher Kontakt genommen. So fanden wir die einsam gelegene, von einem sympathisch verwilderten Garten umgebene Villa ohne Bewohner. Auf der bläulich-weiss getünchten, mannshohen Einfassungs-Mauer fand sich ein Fresco in naiven Farben, etwa im Stil der klassenkämpferischen Malerei Diego Riveras, wie sie in Mexiko während der Zwanzigerjahre aufkam: Volkstypen, die in langgezogener schräger Reihe einem stürmisch gewellten Sowjetbanner mit Sichel und Hammer folgen. – Schweigend treten wir den Rückzug an, weil unser Interesse Vorübergehende alarmiert, die sich zu einer beobachtenden und diskutierenden Gruppe vereinigen.
Später in Santiago erfuhren wir in einer Buchhandlung, dass Pablo Neruda entweder im Spital, in ärztlicher Behandlung sei, oder auf der Insel Negra, seinem Reduit, weile. Wir erwarben eine von ihm herausgegebene Monatsschrift mit einem bezaubernden Artikel über eben diese Insel. Wir wussten bis dahin gar nicht, dass es auch Prosa von ihm gäbe.

2
Pablo Neruda ist – man hat es oft genug erfahren – Pseudonym des 1904 in Parral geborenen Chilenen Neftali Ricardo Basualto Reyes. Welcher Motive halber das klangreiche Wort auch immer gewählt, wurde, es bedeutet zufällig im Vlachischen „Adler“. Und das scheint uns ziemlich treffend für den Mann und sein Werk. Die Mutter war Lehrerin. Auch darin liegt etwas hinweisendes, nordisches könnte man sagen. Der Vater war Lokomotivführer. Auch das möchte etwas besagen. Es gibt ein Eisenbahnmysterium. Es deutet immer „Ferne“ an. Neruda war ein rastloser Wanderer zwischen allen Welten. Sein heute 30-bändiges Werk ist eine Kosmogonie in Reisenotizen. Reisen nach innen wie nach aussen. Reisen in das Geheimnis des Wortes hinein, und faktische, reale Reisen, durch das Mittel des Wortes geschildert. Nach einer Kindheit, die schön gewesen sein muss – Wälder – Meer – Schweigen – die Poesie des Regens – der tätige Vulkan Llaima als Regent romantischer Stunden – die magischen Sensationen des Sammelns von Muscheln, Steinen, Pflanzen, Insekten, Vogelbälgen und Vogeleiern –, entdeckt ihn früh der Ruhm und wird ihn ein Leben lang verwöhnen. Der 17 jährige publiziert erste Gedichte in Zeitschriften Santiagos, Valparaisos und Valdivias. Der Zwanzigjährige debütiert mit einem ersten Gedichtband, der ein d’annunzianisches Sich-in-die-Liebe-Stürzen feiert. Das Pathos, das ihn ein Leben lang bestimmen wird, ist geboren. Später wird es durch den Einfluss des Surrealismus in eine reizvolle Vieldeutigkeit des „gebrochenen“ Ausdrucks umgewandelt.
In der Berglandschaft seiner Gedicht-Werke, deren ragende Mitte zweifellos durch den Canto General mit seinen Tausenden von Versen angedeutet ist, triumphiert naturhafter Menschengeist, der sich vielleicht lieber in Moosträumen (Neruda besass eine Sammlung von Moosen, die er an alten, indianischen Kultstätten gesammelt hatte…) verlieren würde, als sich in revolutionären Protesten zu erschöpfen, zu denen ihn die schlimmen Erfahrungen des spanischen Bürgerkrieges zwangen. Dass Falangisten seinen Freund García Lorca ermordeten, hat er dem Schicksal, das er seither als „Faschismus“ begreifen musste, nie verziehen. Das gleiche Schicksal liess ihn noch den ungeklärten Tod seines Freundes Salvador Allende erleben.
Die Abstrakten Studien des Schweigens, zu denen er trotz seines politischen Bekennertums hinfand, hallten, zum Ziel das „Berühren des unendlichen Menschen“, auf dessen Epiphanie er alle Hoffnung setzte. Er war Poet eines kosmogonischen Eros, und als solcher ein Metaphysiker aus unverschütteten Vorräten vorchristlich namenlosen Glaubens. Er trug soviel Vision in sich, die Sprache werden wollte, das „er nicht imstande war zu erkennen, dass jenes von ihm inbrünstig besungene Russland Stalins geradezu ein Exempel dessen bot, was er verachtete: Phantasielosigkeit, Erosferne, technischer Bürokratismus. Und die persönliche Not um das Sterben, die er lebenslang in sich trug, die ihn bedrückte und die den dunklen Hintergrund seiner prangenden Sprache bildet, wäre ihm im Reich der verwirklichten Parteidiktatur, so wenig erlassen geblieben wie an den Stätten, wo er zu leben liebte, nur, dass die Freiheit, sich damit auseinanderzusetzen als Rückfall in das Religiöse geächtet gewesen wäre.
Wie Paul Claudel, wie Saint-John Perse, denen er der Essenz, der poetischen Unbedingtheit nach ähnlich scheint, diente er seinem Vaterland als Konsul. Erst in Mexiko, dann, 1936, in Madrid und kürzlich noch (unter Allende) in Paris. Als Proust-Leser (die Recherche, hat er, wie er bekannte, viermal gelesen) musste ihm der unaufhaltsame Zerfall aller zeitgebundenen Dinge zum Agens seines rastlosen Produzierens werden. Das immerwährend Todbedrohte ins Wort hinüberzuretten, „im Körper“ – wie er sagte – „die letzte der Welten zu finden“ und damit „das Berühren des unendlichen Menschen“ anzustreben, war gekoppelt mit der unbeantwortbaren Frage:

Was geht vor sich zwischen Nacht und Zeit?

Sie führte bei ihm zu einer Art von Geschichts-Hymnik, die sich des nationalen, politischen und – riskieren wir das beschwerte Wort: – völkischen Herkommens annimmt, um das Gesicht der Zukunft nicht nur zu enträtseln, sondern zu bestimmen. So fand er zu Marx.
Für einen Dichter, der gestehen musste: „Mein Herz ist spät / und ohne Ufer…“ gab es freilich noch einen anderen Grund, sich hoffnungsvoll der kommunistischen Partei zu verschreiben: Er glaubte, durch Teilnahme an der marxistischen Doktrin das ihn so schmerzlich beschäftigende Todesproblem bewältigen zu können. Sich selbst zu entrinnen, das scharfumrissene Ich durch Aufgehen in einem „Bruderbund aller Menschen mit allen Menschen“ zu sprengen, erschien ihm als der gebotene Weg.
1973, in Chiles blutigem September, ist er – Träger des Stalin-Friedenspreises und des Nobelpreises, in einer Person – von uns gegangen, ohne uns die wahren Hintergründe, seines Weges enthüllt zu haben. Vielleicht geben seine Memoiren darüber Auskunft, die er noch zum Abschluss bringen konnte. Vielleicht geben sie auch darüber Auskunft, wie er einst als chilenischer Konsul in Mexiko in das erste Attentat auf Leo Trotzki verwickelt war und daraufhin fluchtartig das Land verlassen musste, hier nun ganz im Dienst des grösseren Vaterlandes, dem er als einer endgültig übergeschichtlichen Macht vertraute.
Wer seinem Werk je begegnete, wem es je durch seine dunkle Wucht nahekam, der wird ihn nicht vergessen, wird seine Bücher immer wieder aufschlagen, sich hineinziehen lassen in das Gefälle einer Sprache, deren erregendes Rauschen so sehr an die Stromschnellen des Urubamba erinnert, jenes Stromes, der die letzten Tage des Inkavolkes erfuhr.

3
Den Griechen war ein runder Stein in Delphi heilig: Omphalos, der Nabel der Welt. Wer auf der Flucht war, welcher Taten halber auch immer, wenn, er den Stein im Tempel erreichte, ihn umarmend an ihm niedersank, galt als sühnefrei. Ein solcher Omphalos sollte, mit ähnlicher Schutzbedeutung, auf dem höchsten Punkt der bergsteilen Wachtburg der Inka errichtet werden: schwarzer Basalt mit kleinen, unregelmässigen Schliff-Flächen. Zum Gedächtnis Pablo Nerudas, der mit seinem schönsten und tiefsten Gedicht diese Gipfelsiedlung besang: „Macchu Picchu“, seine Inkaahnen beschwörend, denen diese Stätte zu ihrer letzten Welt wurde.
Pablo Neruda, grösster Sänger seines Vaterlandes Chile. Auf der Flucht vor seinen Hoffnungen, die er, alt geworden, nicht mehr nährte, ein Verirrter im Labyrinth der Parteipolitik, Frieden für alle hatte er gewollt. Hader für alle war daraus geworden. Er erlosch in Kummer, von Krankheit dem Ende zugedrängt, erlosch inmitten unseligen Aufruhrs, lebend noch erreicht vom blutigen Schaum, der an ihm aufschwoll, erstickend, entwürdigend. Und in diesen Omphalos sollten eingeritzt werden einige seiner stärksten Strophen, als Gerettete für kommende Zeiten: „Die Nacht auf der Insel“, „Die Uhr, die im Meer versank“, „Das Kupfer“, „Reiter im Rogen“, „Ich denke zurück ans Meer“, „Der Wein“, „Früchte der Erde“, „Auf Capri die Haarflut“, „Vom Fuss seines Kindes aus“… So wählte man wohl und wünschte sich, das grosse, das unübersehbar tiefschichtige Werk anschauend, immer mehr dazu. Der Omphalos fasste es nicht, was alles auf ihn einzutragen wäre.
Am Geburtstag des Dichters sollte er in einen purpurnen Poncho eingehüllt werden, herzblutwärme Farbe aus ältesten Mysterien. Und Blumen, die knappen, kleinen, harten Blumen der Bergwelt von Macchu Picchu, sollten an ihm niedergelegt werden. An seinem Todestag sollte ein schwarzer Poncho ihn decken, schwarz mit eingewebtem Treppenmäander gesäumt. Und man sollte Speis und Trank in indianischen Opferschalen spenden, Stärkung für die lange Reise, deren Ziel keiner kennt. Und sich dabei seines merkwürdigsten Ausspruchs erinnern:

Die Sprache lieben, bedeutet, seine Kraft in Wirkung verwandeln.

Werner Helwig, Die Tat, 12.4.1975

Pablo Neruda

Mindestens seit den Zeiten der Romantik pflegt man weithin in Deutschland das „politisch Lied“ als „garstig Lied“ anzusehen: Lyrik war zu einem höchst privaten Refugium schöner Seelen geworden, zu einer Zuflucht, in die sich der Leser vor den Wirrnissen des Alltags und der Politik zurückzog:

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Hass verschliesst…
(– Verse, die immerhin vom Meister Goethe geschrieben wurden.)

Noch heute ist diese Vorstellung von der Dichtung als einer rein privaten Unternehmung lebendig, und es erregt jedesmal Erstaunen, wenn die Oeffentlichkeit von einem Dichter erfährt, der die Massen bewegt, der Wirkungen ausübt, die über einen beschränkten Kreis Literaturbeflissener hinausgehen – es sei nur an das Auftreten des sowjetrussischen Poeten Jewtuschenko erinnert. Fast noch eigenartiger mutet es hierzulande an, dass es Staaten gibt, die ihre grössten Dichter mit politischen Missionen betrauen: so waren Paul Claudel und Saint-John Perse im diplomatischen Dienst tätig, und Léopold Sédar Senghor war, ehe er zum Staatspräsidenten der Republik Senegal gewählt wurde, Minister im französischen Kabinett.
Auch einer der bedeutendsten zeitgenössischen Dichter der lateinamerikanischen Welt, der Lyriker Pablo Neruda, war eine Zeitlang Diplomat seines Heimatlandes. 1904 als Sohn eines Bahnbeamten im Süden der Republik Chile geboren, wurde Néftali Reyes Basualto schon als zwanzigjähriger Student der Literatur und Philologie in der Landeshauptstadt Santiago das Haupt der modernen iberoamerikanischen Literatur. Nach dem Tschechen Jan Neruda (1834–1891), der realistisch und humorvoll das Leben der Prager Kleinbürger in journalistischen Arbeiten und Romanen geschildert hatte, wählte Basualto sein Pseudonym und veröffentlichte seinen ersten Gedichtband Crepusculario unter dem Namen Pablo Neruda. Mit diesen Versen trat neben die stark mystisch geprägte Dichtung der Gabriela Mistral eine sprachgewaltige Poesie, in der die Natur und Geschichte der Heimat immer erneut in kühnen Bildern vergegenwärtigt wurde. Wenig später zeigte sich Neruda mit seinen Zwanzig Liebesgedichten als empfindsamer Lyriker; nicht als Hymniker der Liebe, sondern als Verletzter und Trauernder, der seiner „trauernden Liebe“ nachfragt und singt:

In die Abende geneigt, ich werfe meiner Schwermut Netze aus
nach deinen ozeanischen Augen.

Diese ersten Gedichte machten Neruda in seiner Heimat rasch bekannt, 1927 wurde er als chilenischer Konsul nach Rangoon geschickt, es folgten diplomatische Missionen in Ceylon, Singapore, Djakarta und Buenos Aires. Hier entstehen die wichtigsten Gedichte des Bandes Aufenthalt auf Erden. Auch noch in diesen Gedichten herrscht ein melancholischer Individualismus vor, spricht ein verletztes und verletzliches lyrische Ich. „Ich möchte nichts weiter als Ruhe haben“, heisst es da, und:

Wie ich es müde bin, Mensch zu sein!

Ich mag nicht mehr Wurzel sein in der Finsternis,
schwankend, ausgestreckt, zitternd vor Schlaf,
abwärts immer, ins nasse Eingeweid der Erde,
saugend und sinnend, essend Tag um Tag.
Ich mag soviel Unheil nicht für mich.
Mag nicht weiterhin Wurzel sein und Grab,
verlassener Schacht, Kellergewölb voll von Toten,
kältestarr, vor Leid zugrunde gehend.

Doch der kaum Dreissigjährige sieht im Ausland und im eigenen Lande die krassen sozialen Gegensätze, sieht Verelendung und grausame Armut, Misswirtschaft und Betrug, und erkennt schliesslich „die Armut als ein Geschwür unserer Zeit“. So nimmt er neue Wirklichkeiten auf, die bei ihm, dem scharfen Beobachter (der schon sein Pseudonym einem Schriftsteller des Realismus entlehnte), auch in die Dichtung eingehen müssen. Neruda nimmt sich vor, nicht wegzusehen, nicht die Augen vor den Realitäten zu verschliessen, mögen sie schmutzig oder glänzend, wichtig oder banal sein, und so soll seine künftige Dichtung, wie er 1935 formuliert, sein:

… unrein wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, eine Dichtung, die Handlungen der Scham und der Schande kennt, Träume, Beobachtungen, Runzeln, schlaflose Nächte; Ausbrüche des Hasses und der Liebe; Tiere, Idyllen, Erschütterungen; Verneinungen, Ideologien, Behauptungen, Zweifel, Steuerbescheide…

Doch noch ist die letzte Entscheidung in dieser Richtung nicht gefallen. Neruda, inzwischen nach Spanien versetzt, befreundet sich mit Dichtern wie Hernández, Alberti und Lorca, der ihm bald durch den gewaltsamen Tod entrissen wird. Bei Ausbruch des Bürgerkrieges 1936 gibt es für Neruda keine Indifferenz gegenüber der Politik: er tut den letzten Schritt zur poésie engagée, gibt jeglichen extremen Individualismus auf –: sein Ich wird, wo es überhaupt noch in Erscheinung tritt, zu einem stellvertretenden Ich. Mit seinen Gedichten Spanien im Herzen stellt er sich auf die Seite der spanischen Republikaner. Jedoch geht es ihm nicht primär um die Politik, ihn bewegt am meisten das Schicksal des spanischen Volkes. Und auf den Einwand „Ihr fragt, warum seine Dichtung / uns nichts vom Traum erzählt, von den Blättern, / den grossen Vulkanen seines Heimatlandes?“ antwortet er 1936 mit einem Aufschrei, der nicht weniger erschütternd ist als Picassos Guernica:

… Kommt, seht das Blut in den Strassen,
kommt, seht
das Blut in den Strassen,
kommt, seht doch das Blut
in den Strassen!

(Leider fehlt dieses Gedicht in dem kürzlich erschienenen Auswahlband von Erich Arendt, der nur drei Gedichte aus Spanien im Herzen bringt, offenbar weil seit 1956 eine eigene Publikation dieses Bandes in der Uebertragung von Stephan Hermlin vorliegt.)
Bald nach seiner Rückkehr nach Chile wird Neruda mit den Stimmen der Kommunisten als Senator ins Parlament gewählt, 1943 tritt er der Kommunistischen Partei Chiles bei – ein Schritt, der sicherlich nicht auf Opportunismus oder theoretische Befürwortung des Marxismus-Leninismus zurückzuführen ist, sondern auf das soziale Engagement Nerudas, der die Interessen des einfachen Volkes bei den Kommunisten am besten vertreten glaubte. 1948 muss Neruda, verfolgt vom Staatspräsidenten, dessen Regime er angeprangert hatte, fliehen, er wird für vogelfrei erklärt. Auf seiner Flucht wird er von den einfachen Leuten seines Landes vor der politischen Polizei verborgen.
Von einem Versteck ins andere gejagt schreibt er den Canto General, den Grossen Gesang, die Epopöe eines ganzen Erdteils, ein grosses Lied von der Geschichte, vom Kampf und vom Sterben der alten Völker, vom verlorenen Paradies. Hier wird wieder alles lebendig, was er von frühester Jugend an erfahren und gesehen hatte: Tiere und Pflanzen, die er als Kind für sich entdeckt hatte, die Landschaft, die er sich auf den Reisen mit seinem Vater erschlossen hatte, und ihre Menschen: Könige, Krieger und Eroberer in der Vergangenheit, und Bauern, Holzfäller, Strassenarbeiter und Desperados in der Gegenwart:

Parias des Meeres, gepeitschte
antarktische Hunde,
tote Yaganen, auf deren Gebein
die Herren tanzen, die nach Tarif
die mit Messerhieb
abgeschlagenen stolzen Hälse bezahlten.

Geschichte und Natur sind ihm unerschöpfliche Fundgruben für Bilder und Chiffren seiner Gedichte, in die vieles eingeschmolzen ist, Folklore und Liturgie, Indianisches und Altspanisches; er selbst nennt als seine Ahnen Walt Whitman und Lautréamont. Wie alle grosse nichtmonologische Dichtung wendet sich die Poesie Nerudas zunächst und vor allem an den Hörer, nicht an den Leser; ihr grosser Atem und ihr Kontinente umspannendes Pathos sind zur direkten Aufnahme bestimmt.
Dann gelingt Neruda die Flucht aus Chile, er taucht in Frankreich und Italien auf, später in der Sowjetunion und China. Er besucht Kongresse und Konferenzen in zahlreichen Ländern des Ostblocks, 1951 ist er umjubelter Gast bei den „Weltjugendfestspielen“ in Ostberlin. In seinen neuen Gedichten drängt sich die politische Propaganda für seine Partei offen in den Vordergrund, seine Poeme verlieren an Dichte und Intensität, der Schwall der Worte kann ihre Schwäche nicht verbergen. Schliesslich sinkt der grosse Dichter zum parteiergebenen Stalin-Hymniker ab:

Menschen Stalins! Wir tragen mit Stolz diesen Namen.
Menschen Stalins! Das ist die Rangordnung unserer Zeit!
Arbeiter, Fischer, Musiker Stalins!
Aerzte, Salpeterbrecher, Dichter Stalins!…

Zum Dank erhält der Dichter Stalins 1953 den Stalin-Preis.
Erich Arendt – seit Jahren als kundiger Uebersetzer Nerudas bekannt –, der die politischen Verse dieser Zeit ausgespart hat, bemerkt in seinem Nachwort, diese Gedichte seien „von geringerer poetischer Kraft“ und zeigten „eine gewisse Monotonie und Simplizität“; das erkläre sich aus der Absicht Nerudas, der sich um die Allgemeinverständlichkeit seiner Verse bemühe (Neruda 1953: „Ich habe beschlossen, in meinen neuen Gedichten immer einfacher, jeden Tag einfacher zu werden.“) und alogische Bildkühnheit, Chiffrierung, Verkürzung und Inversion – die formalen Mittel seines frühen Werkes – zugunsten der Direktheit aufgebe.
Hans Magnus Enzensberger ist in seiner Untersuchung „Der Fall Pablo Neruda“ diesem Vorgang einer „Selbstverstümmelung“ nachgegangen und hat zu Recht festgestellt, Neruda sei zu einem Lyriker geworden, der die Dichtung um der Zuhörer willen verrate:

So rächt sich an einem mutigen Mann der Irrtum, die Poesie sei ein Instrument der Politik, weit bitterer als der wohlfeile Köhlerglaube, es gäbe eine unpolitische Dichtung, an tausend Feiglingen.

Mit seiner politischen Dichtung ist Neruda für eine Reihe deutscher Lyriker, vor allem in Mitteldeutschland – auch auf dem Gebiet der Dichtung für uns, trotz einzelner Entdeckungen, noch weithin terra incognita! – zum Vorbild geworden. Auch Enzensberger selbst hat von Neruda gelernt. In welcher Weise Nerudas Poesie für ihn fruchtbar geworden ist, und wie er das Aufgenommene verwandelt hat, kann überzeugend ein Vergleich von Nerudas „Ode an die Zwiebel“ und Enzensbergers „ehre sei der sellerie“ zeigen: hier die Zwiebel als der „Stern der Armen“, „erreichbar / den Händen des Volkes“ und als „unvergängliches Himmelszeichen, / rundliche Rose von Wasser / auf / dem Tisch / der armen Leute“ – dort die Pflanze als freundliches Gegenbild zur menschlichen Welt:

… das zarte erdherz, die sellerie,
menschlicher als der mensch,
frisst nicht seinesgleichen…

Die letzten Gedichte Nerudas zeigen wieder einen gewissen Abstand vom politisch-poetischen Pathos und eine Hinwendung zu den vergessenen und alltäglichen Dingen: „Ode am eine Uhr in der Nacht“ oder „Ode an den Duft des Holzes“ heissen sie. Bezeichnend steht am Schluss des Buches Nerudas „Bitte um Ruhe“, die beginnt:

Nun lasse man mich in Ruhe.
Nun mag man sich an mein Fernsein gewöhnen.
Ich will meine Augen verschliessen.

(Sarah Kirsch liest „Bitte um Ruhe“ zum 70. Geburtstag des Dichters im DDR-Fernsehen.)

Und der alternde Dichter, der nach Chile zurückgekehrt ist und sich inmitten von Käfern, Muscheln und Steinen eine eigene Welt eingerichtet hat, bekennt und bittet:

Nie zuvor fühlte ich so mich im Einklang,
nie zuvor hatte ich Küsse soviel.

Jetzt, wie immer, ist frühe Zeit.
Das Licht fliegt mit seinen Bienen.

Lasst mich allein mit dem Tag,
Gebt mir Urlaub, dass ich geboren werd
e.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 4.10.1963

Nobelpreis für Neruda

Schon seit Jahren wurde unter den Kandidaten für den Literatur-Nobelpreis immer wieder der chilenische Lyriker Pablo Neruda genannt. Nachdem 1967 der aus Guatemala stammende Romancier Miguel Angel Asturias mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist, fiel diese Ehrung rasch wieder einem lateinamerikanischen Schriftsteller zu. Der Hermann Luchterhand Verlag (Neuwied) – der übrigens auch die Werke von Asturias verlegt – hat unter dem Titel Dichtungen 1919–1965 zwei umfangreiche prachtvolle Bände mit einer repräsentativen Auswahl aus den bisher 30 Gedichtbänden Pablo Nerudas verlegt. Der Uebersetzer ist der in der DDR lebende Lyriker Erich Arendt, der in den vergangenen Jahren bereits einige kleinere Bände mit Neruda-Uebertragungen herausgegeben hat.
Neftali Reyes Basoalto, der später aus Sympathie zu dem tschechischen Erzähler Jan Neruda (1834–1891) das Pseudonym Pablo Neruda wählte, wurde 1904 als Sohn eines Lokomotivführers in Südchile geboren. Schon als junger Student erregte er mit seinen ersten Versen Aufmerksamkeit und wurde in Santiago zu einem der führenden Dichter der iberoamerikanischen Literatur. Mit seinen frühen Gedichten stellte er neben die stark mystisch geprägte Poesie der Gabriela Mistral eine sprachgewaltige Lyrik, in der Natur und Geschichte Chiles in kühnen Bildern vergegenwärtigt werden, und eine Liebesdichtung, aus denen weniger ein Hymniker des Eros als vielmehr ein Verletzter und Trauernder spricht. Auch noch in den Gedichten, die Neruda seit 1927 als Diplomat im Fernen Osten und in Argentinien schrieb, herrscht ein melancholischer Individualismus vor, spricht ein verletztes und verletzliches lyrisches Ich.
Doch dann wurde der kaum Dreissigjährige aufmerksam auf die krassen sozialen Gegensätze im Ausland und im eigenen Lande, auf Verelendung, Misswirtschaft und Betrug. Diese Erfahrungen gingen bald in die Dichtungen ein; Neruda nahm sich vor, die Augen nicht mehr vor den sozialen Realitäten zu verschliessen: seine künftige Dichtung sollte, wie er 1935 formulierte, „unrein (sein) wie ein Anzug, wie ein Körper, von Speisen befleckt, eine Dichtung, die Handlungen der Scham und der Schande kennt, Träume, Beobachtungen, Runzeln, schlaflose Nächte; Ausbrüche des Hasses und der Liebe; Tiere, Idyllen, Erschütterungen; Verneinungen, Ideologien, Behauptungen,  Zweifel, Steuerbescheide…“
In Spanien befreundete sich Neruda mit Dichtern wie Hernàndez, Alberti und Lorca; bei Ausbruch des Bürgerkrieges 1936 gab es für Neruda keine Indifferenz gegenüber der Politik mehr; er tat den letzten Schritt zur poésie engagée, gab jeglichen extremen Individualismus auf: sein Ich wurde zu einem stellvertretenden Ich. Mit seinen Gedichten Spanien im Herzen stellte er sich an die Seite der spanischen Republikaner. Am meisten bewegte ihn das Schicksal des spanischen Volkes. Und auf den Einwand „Ihr fragt, warum seine Dichtung / uns nichts vom Traum erzählt, von den Blättern, / den grossen Vulkanen seines Heimatlandes?“ antwortete er 1936 mit einem Aufschrei, der nicht weniger erschütternd ist als Picassos „Guernica“:

Kommt, seht das Blut in den Strassen,
kommt, seht
das Blut in den Strassen,
kommt, seht doch das Blut
in den Strassen!

Bald nach seiner Rückkehr nach Chile wurde Neruda mit den Stimmen der Kommunisten ins Parlament gewählt. 1943 trat er der Kommunistischen Partei bei, in der er die Interessen des einfachen Volkes am besten vertreten glaubte. Als er 1947 den chilenischen Staatspräsidenten anprangerte, der seine Wahlversprechen gebrochen hatte, wurde er verfolgt und für vogelfrei erklärt. Neruda musste sich verstecken; auf seiner Flucht wurde er von den einfachen Leuten seines Landes vor der Polizei verborgen.
Von einem Versteck ins andere gehetzt schrieb er den Canto General, den Grossen Gesang, die inzwischen berühmte Epopöe des ganzen südamerikanischen Erdteils: ein grosses Lied von der Geschichte, vom Kampf und vom Sterben der alten Völker, vom verlorenen Paradies. Hier wird im Vers lebendig, was der Dichter von Jugend an erfahren und gesehen hatte: Tiere und Pflanzen, die er als Kind für sich entdeckt hatte, die Landschaft, die er sich auf den Reisen mit seinem Vater erschlossen hatte, und ihre Menschen: Könige, Krieger und Eroberer in der Vergangenheit, und Bauern, Holzfäller und Desperados in der Gegenwart. Geschichte und Natur sind dem Dichter unerschöpfliche Fundgruben für Bilder und Chiffren seiner Verse, in die Folklore und Liturgie, Indianisches und Altspanisches eingeschmolzen sind. Als seine Ahnen nennt Neruda Walt Whitman und Lautréamont, und wie alle grosse nichtmonologische Dichtung wendet sich seine Poesie zunächst vor allem an den Hörer, weniger an den Leser; ihr Atem und ihr Kontinente umspannendes Pathos sind zur direkten Aufnahme bestimmt.
1949 gelang Neruda die Flucht aus Chile, er ging nach Frankreich, Italien, in die UdSSR und nach China. In den Ostblockländern wurde er zum gerngesehenen Gast, auf den „Weltjugendfestspielen“ in Ostberlin wurde er 1951 umjubelt. In seiner Dichtung drängte sich nun die kommunistische Propaganda in den Vordergrund, und der Uebersetzer Arendt schrieb zu Recht im Vorwort zur vorliegenden Ausgabe, diesen politischen Gedichten fehle die Verdichtung, die Intensität, die Weite und Tiefe:

Sie sollen die Masse erreichen und bewegen, werden oft Dokumente der Begeisterung und blosse stereotype Gesinnungsäusserung.

Und Arendt muss bekennen, dass der Stalinismus „zeitweilig auch diesen genialen, eigenwilligen Dichter ergriffen“ habe.
Diesem Vorgang einer „Selbstverstümmelung“ ist Hans Magnus Enzensberger übrigens in seinem Essay „Der Fall Pablo Neruda“ nachgegangen, und er stellte fest, Neruda sei zu einem Lyriker geworden, der die Dichtung um der Zuhörer, um der Allgemeinverständlichkeit willen, verraten habe: „So rächt sich“, schrieb Enzensberger, „an einem mutigen Mann der Irrtum, die Poesie sei ein Instrument der Politik, weit bitterer als der wohlfeile Köhlerglaube, es gäbe eine unpolitische Dichtung, an tausend Feiglingen.“
In den Versen der letzten zehn Jahre hat sich Neruda, der inzwischen wieder nach Chile zurückkehren konnte, vom Doktrinären befreit und den stalinistischen Terror und seine eigene Anbetung des „schnurrbärtigen Gottes“ beklagt. Seine Dichtung hat wieder Weite gewonnen, bezieht nun auch die Ironie und Selbstironie mit ein, und der Dichter richtet an die Welt nun nicht mehr nur den politischen Appell, er trägt ihr auch seine „Bitte um Ruhe“ vor, die mit den Worten beginnt:

Nun lasse man mich in Ruhe.
Nun mag man an mein Fernsein sich gewöhnen.

Ich will meine Augen schliessen.

Und Neruda, der sich inmitten seiner Sammlungen von Käfern, Muscheln und Steinen eine eigene Weit eingerichtet hat, bekennt und bittet:

Nie zuvor fühlte ich so im Einklang mich,
nie zuvor hatte ich Küsse soviel.

Jetzt, wie immer, ist frühe Stunde.
Das Licht fliegt mit seinen Bienen.

Lasst mich allein mit dem Tag.
Gebt mir Urlaub, dass ich geboren werde.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 23.10.1971

 

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Pablo Neruda

 

AN PABLO NERUDA

aaaaa„Gebt mir Urlaub,
aaaaadaß ich geboren werde“
aaaaaPablo Neruda

Dein Erdherz
vom Wortquell gestärkt
Harfe der Beredsamkeit
du Blitz
Katarakt
du Magnet

Dein Puls registriert
jeden Lichtverlust
jeden Leuchttrieb

Zauberformel dein Zorn
schenkt der Banalität
Aufschwung und Intelligenz

Unser Planet hat noch Raum
für ein Zusammenspiel
menschlicher Schönheit

Unter der Nachtkruste hör ich
deine Beschwörung
denk
wie fest ist die Erde
in deiner Hand
eine Minutenübung

Rose Ausländer

 

 

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Nachrufe auf Pablo Neruda: Neues Deutschland ✝ Berliner Zeitung ✝
Neue Rundschau ✝ Neue Zeit ✝ PEN ✝ Tat

Zum 1. Todestag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: „Ich werde niemanden exkommunizieren“
Die Tat, 21.9.1974

Zum 75. Geburtstag des Autors:

Uwe Berger: Seine Poesie ist Stimme des Volkes
Neues Deutschland, 12.7.1979

H. U.: Einheit von Poesie und Politik
Neue Zeit, 11.7.1979

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Hans-Otto Dill: Seine Dichtung – leidenschaftlicher Hymnus auf den Kampf der Völker
Neues Deutschland, 12.7.1984

Volodia Teitelboim: Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1984

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Margit Klingler-Clavijo: Ich bekenne, ich habe gelebt
Deutschlandfunk, 12.7.2004

Josef Oehrlein: Die drei Archen des Dichters
Cicero

Karin Ceballos Betancur: Das Kind und der Dichter
Die Zeit, 8.7.2004

Holmar Attila Mück: Krieger mit der Lyra
Deutschlandradio Berlin, 12.7.2004

Claudia Schülke: „Militanter Stalinist und kolossaler Dichter“: Pablo Neruda
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.7.2004

Leopold Federmeier: Der trunkene Durst des begeisterten Schleuderers
Neue Zürcher Zeitung, 12.7.2004

Zum 5. Todestag des Autors:

Sergio Villegas: Beerdigung unter Bewachung
Sinn und Form, Heft 6, November/Dezember 1978

Zum 10. Todestag des Autors:

Karl Bongardt: Seinen Atem durchwob die singende Liebe
Neue Zeit, 24.9.1983

Zum 50. Todestag des Autors:

Holger Teschke: Sänger des Regens und der Klassenkämpfe
junge Welt, 23.9.2023

Manfred Orlick: „Ich bekenne, ich habe gelebt!“
literaturkritik.de, 23.9.2023

Gerhard Dilger: Dichterfürst im Zwielicht
taz, 23.9.2023

Benjamin Loy: Schwieriges Schweigen
ORFSound, 20.9.2023

 

 

Pablo NerudaFragmente zu einem Portrait. Ein Film von Hans Emmerling, 1974

 

Pablo Neruda – Lesung und Interview des Literaturnobelpreisträgers 1971.

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