Alfred Kittner: Flaschenpost

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Alfred Kittner: Flaschenpost

Kittner-Flaschenpost

ERKENNTNIS

Ist es ein Spiel gewesen,
So war’s ein schweres Spiel.
Wer macht viel Federlesens
Um den, der schlafen will?

Doch Schlaf und Schlummer ist eines,
Und Dauer ein ander Ding.
Von den Liedern rührt euch ja keines,
Das mir zu Herzen ging.

Drum hab ich sie alle verschlossen
In des Innern Hölle und Haft,
Aus deren Blut sie geflossen –
Und Blut ist ein schaler Saft.

Aus Mohn und Mond ein Mirakel,
Ein Schlaftrunk zu sinkender Nacht.
Mit all dem Mangel und Makel
Dem Stummen dargebracht,

War letzten Endes alles,
Was ich hier summte und sang
Und wovon bestenfalls
Ein Raunen zu euch drang.

Der dünne Rauch aus Silben
Krikelkrakel auf brüch’gem Papier
Mags’s verwehen, mag’s vergilben
Mir war’s das Elixier.

In ihm sah ich gespiegelt
Den Kuß, den Schrei, den Stern.
In ihm bot sich versiegelt
Mir allen Wesens Kern.

Aus den Händen lass’ ichs gleiten,
Ein zerbrochenes Kinderspiel.
Wie Spülicht rollen die Zeiten
Drüber hin – es taugt eh nicht viel

 

 

 

Nachwort

Daß ein Sammelband von Gedichten Alfred Kittners im Jahre 1970 das Signum eines Abschlusses und eines Vermächtnisses trägt, will nicht sagen, daß das Schaffen des Dichters, der als früher Sechziger tätig unter uns lebt, abgeschlossen ist. Dennoch bringt das Erscheinen eines solchen Bandes eine solche Fülle schöner und schmerzlicher Erinnerungen mit sich, daß unabweisbar ein Hauch von Zeitlosigkeit um diese Zeilen schwebt – für den, der an die etwas älteren Generationsgenossen Kittners denkt, an Cisek, Sperber und andere, die alle nicht mehr am Leben sind, die aber beim Nennen von Kittners Namen als schmerzlicher Ausfall gegenwärtig werden. Er ist ein Letzter aus einer Zeit, die in stärkstem Maße von Unsicherheit, Zusammenbrüchen, Greueln und Wirren geprägt war, die aber diesem Umbruchsbeben ein unverrückbares Maß künstlerischer und sittlicher Verantwortlichkeit entgegenhielten, ein Maß, das vielen Jüngeren, denen in relativ gesicherteren Verhältnissen manche Gewissens-, Nerven- und Widerstandsprobe erspart geblieben ist, nicht mehr verbindlich scheint. Gewiß, die Entwicklungsbedingungen verändern sich und mit ihnen die Formen. Das Zeitüberdauernde aber wird sich in jeder Phase wandelbarer Gestalten durch seine spezifische Körnigkeit, durch sein Gewicht, vom Schwemmgut absondern und dorthin absinken, wo es kein Verwehen mehr gibt. Dieses Zeitüberdauernde wird von mancherlei Faktoren bestimmt, in erster Linie aber von der Struktur der Persönlichkeit, vom lauteren oder leiseren Namen, der keinem Namen gleich ist, das heißt, auf das Phänomen des Dichterischen bezogen, ein besonderes Sagen geschaffen hat. Ein besonderes Sagen in diesem Sinne entsteht aber nur dort, wo im Sinnbild der einzelne und der ein Geschlecht verbindende Pulsschlag einer Zeit ganz nahe abgefühlt wird, in welcher Art und unter welchem Aspekt das nun geschieht. Wenn wir aber vom Namen Kittner sprechen, so meinen wir nicht, daß sich Kittner durch die Veröffentlichung von zwei Gedichtbänden – Der Wolkenreiter vor dem Krieg, Hungermarsch und Stacheldraht in den Nachkriegsjahren – außer oder mit dem umfangreicheren vorliegenden „einen Namen gemacht hat“. Sein besonderes Sagen bleibt, unabhängig von Feier und Erfolg, die Täuschungsfreiheit nicht verbürgen können, ein historischer Wert außerhalb des gedruckten Wortes, obwohl diesem als Substrat und Signum unablösbar verbunden.
Der Scheidepunkt im Leben des 1906 Geborenen war das Deportiertenschicksal der Juden. Es wird uns heute, wenn wir die verbürgten Berichte hören, kaum glaublich, daß einige diesen Todesmarsch in die Steinbrüche am Bug, den „Steinbruch, den man uns zur Wohnstatt gab“, überleben konnten, kaum glaublich, einem dieser Menschen und dazu einem zartbesaiteten, einem Träumer, als ungebrochen Lebensgläubigen und Überlieferungstreuen zu begegnen, einem Manne, dem in den zwei Jahren des Verschlepptseins täglich, fast stündlich die Heimat entrissen wurde, das Spärliche, an das sich die gequälte Seele wie mit zitternden Wurzeln klammert, weil die Seele eine Heimat braucht, auch wenn ihr jeder Schwingungsraum abgesaugt wird. Unter den vielen uns wohlbekannten Gedichten, die diesmal im Abschnitt „Raststatt des Todes“ gesammelt sind, steht die „Ballade vom Kossoutzer Wald“, wo Räuber den Gehetzten die letzte Habe rauben. Die schützenden Gendarmen waren nur dazu da Ausreißer niederzuknallen. An einen Schutz der Schutzbefohlenen vor etwaigen Naturunbilden oder Überfällen dachte niemand. Am Ende des Gedichtes steht ein unerwarteter Reim, der ein poesiefremdes Wort, wenn es ein solches gibt, durch Stellung und Bezug zu einem schwerhaltigen Gedichtwort wandelt;

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa… spätere Transporte
Sprachen mit Schaudern nur von diesem Orte.

Die Gedichte „Unterwegs“ und „Die Irren“ enthalten wohl dokumentarisch das Grauenhafteste, das aufgezeichnet werden konnte. Und es ist aufgezeichnet worden, im Umkreis des Grauens, und eine große Anzahl Gedichte sind überdies auf dem Hungermarsch unwiederbringlich verlorengegangen. Der Dichter Alfred Kittner konnte, mußte auch hier dichten. Wie konnte er das, wie konnte das ein Mensch? Nicht die verzerrte Außenwelt, die verzerrte, weg- und lichtlos gewordene Innenwelt läßt das Gefäß des Gedichts springen und zerbrechen. Der ruhige Duktus der Strophen, die fast unaussprechlich Schreckliches berichten, ist keine Inkongruenz zum Gegenstand des Berichteten. Das Geheimnis liegt nicht in etwaigen Umständen, sondern in der Seele des Mannes. Hier ist kein Mann, der eine furchtbare Wirklichkeit spielerisch in dichterischen Schein auflöst. Er war leibhaftig dort, kein Beschauer, sondern in monatelanger Galgenfrist beinahe ein Opfer. An Gott und der Welt irre zu werden, wie man so sagt, ist keine Generationsnotwendigkeit, wie von manchen gerne behauptet wird. Einer, der Schlimmeres konzentriert erlebt hat als mancher weglose Weltschmerzler, konnte die Strophe dichten:

Die Freunde lehrten mich das Leben lieben,
So bin ich vor dem Tod ein Tor geblieben,
Hier trug der Freunde Beispiel keine Frucht:
Ich weiß mich frei von jeder Todessucht.

Ich werde, wenn der Tod mich hier befällt,
Als Liebender verlassen diese Welt…

Im „Danklied des Verbannten“, einem an manchen Stellen etwas fabulierfreudigen Gedicht, findet sich der unvergleichliche Ausdruck zuversichtlichen Widerstandes eines Menschen, der seine Seele rettet. Denn den Körper kann er nicht retten. Der ist in der Zange. Der im schärfsten Sinne Heimatlose, der mehr als Vertriebene, der unausgesetzt Getriebene, findet immer und überall Heimat, im Allerunscheinbarsten, das dem Lebenswilligen alles werden kann, Zukunft, Heimat und Licht:

Ihr kleinen Erdendinge, habet Dank,
Solang ihr um mich seid, wird mir nicht bang.
Ihr seid, so ist’s im Sinn der Welt beschlossen,
Des armen Daseins schlichte Spielgenossen.

In einem anderen Gedicht der Gruppe, „Die guten Boten“, spricht sich der Dichter und Mensch unbeabsichtigt wie in einer Formel aus. Die Naturverbundenbeit, der tiefere, innere Trost, der kindliche Lebensdank, der aus aller Verkrustung immer wieder aufblüht, in einem ergreifenden Bild ist alles enthalten, was Begleitworte nur verdünnen können:

Am Wege muß ich niedersinken,
Auf fremder Stätte wird es sein,
Und werd als letzte Tröstung trinken
Den Regentropfen, kühl und rein.

Äußeres Geschick wird für Kittner bedeutungsvolle Bestätigung eines inneren Vagantentums, das nichts anderes ist als die Kehrseite einer Sehnsucht nach der großen unbefleckten Natur, nach den Sternen, die von den Unzulänglichkeiten unserer historischen menschlichen Verbände unberührt bleiben. „Und als wir durch brausende Städte geschritten / haben wir mit allen Namenlosen gelitten…“ heißt es in dem Frühgedicht „Gesang der Sterne“. Diese Unzulänglichkeiten werden jedem fühlbar, der nicht in Dumpfheit oder in Genuß vertiert ist. Dem ganz Feinbesaiteten aber, dem Dichter, wird dieses Empfinden zur Heimatlosigkeit, zur „Not des Wandertums“, wie es Stefan George ausgedrückt hat. Durch Schicksal und Weltverhängnisse an die Brüchigkeit und Vorläufigkeit jeder Habe und Herdstelle gemahnt, wird Kittner auf das Unvergängliche gestoßen, die inneren, unverlierbaren menschlichen Werte, die Vorbedingung bleiben für jedes Wertbestehen in der äußeren Welt. Im „Spielmannslied“ heißt es:

Sie teilten euer Gut und Geld
Und feiern billige Siege,
Doch was euch blieb auf dieser Welt,
Lag schon in eurer Wiege…

„Immer gleiche Wanderferne“ nennt der Dichter das Gefühl des Unbehagens in einer vorgeahnten, von den wildesten Zerstörerkräften bedrohten Welt.

So mußt’, gehetzt von einem Ort zum andern,
Einst Franz Villon durchs blutige Frankreich wandern…
Verbuhlt dem Tode und vernarrt ins Leben…

heißt es in dem schönen Gedicht „Scheideweg“. Die Umkehr des Fernwehs ist die Geborgenheit in der Natur. In „Eine Christnacht“ sagt der Dichter:

Ich will nicht mehr in meine kalte Kammer…
ich wank allein…
… hinaus ins winterliche Schnei’n…

und:

Dann bin ich fern und leicht und ohne Namen…

„Die Straße ist unser Zuhause“, spricht der Vagant die Fiedel an, wohl ein Sinnbild für das innere Vermögen, die Stimme. Seine Umwelt ist dem Dichter Fremde und die Gesellung Schein:

Ich aber muß stets fremde Worte sagen,
In fremdem Wind, in ewig fremder Nacht…

Unvermutet aber findet er in der Gesellung Sinn, Heimat im Freund, in der Verbundenheit:

So laß mich deiner guten Stimme lauschen…

Wie für Georg Trakl wird auch für Kittner der verlorene Knabe Kaspar Hauser Sinnbild für die Vereinsamung des Menschen in einer unbefriedigten Welt:

Was sollen mir die Tage, was soll ich in der Welt?

Im Kaspar-Hauser-Gedicht stehen auch die Verse, die ich als Beispiel für die ungemein starke Sammlung und Kernigkeit von Kittners Dichtersprache in ihrem Besten anführen möchte:

Mir starben Wort und Waage,
leb wachse blind und Baum.

Die Schwächen oder die Gefahren Kittners – es wäre unbillig und kein Freundschaftsdienst, wenn wir nicht auch darüber sprechen wollten – entspringen auch seinem strengen künstlerischen Gewissen. Im Bestreben, alles Überflüssige, alles Artistische vor allem, alle leichten Verführungen des Sprachklangs zu meiden, sich jedes aussageschwachen Beiworts zu enthalten, nähert sich Kittner zuweilen dem Simplen, der falschen Einfalt. Er, der Meister des echten Herztons, kann zuweilen ins gefühlig Biedere, ins Fabulieren ausgleiten. Dem Nachsänger des Volkslieds – und was für ein kundiger, entdeckungsfreudiger Nachsänger kann Kittner sein! – droht immer das Abgleiten in die Diminutivform des Gefühls. Die künstlerischen Tugenden Kittners sind nun mannigfacher Art. Da ist seine Beschränkung auf die bündige Aussage, die unbedingte Gefühlsechtheit, die sich dennoch in jedem Augenblick der Prüfung eines strengen künstlerischen Gewissens und einer unvergleichlichen künstlerischen Bildung unterwirft, die natürliche Sangbarkeit des Verses, die bisweilen höchste Gipfel der Lyrik erreichende Symbolkraft der Metapher. Ein Vers wie folgender aus dem Gedicht „Maiwiese“ hat einen Fernklang, eine Weite des Schwingungsfeldes, wie sie nur ganz gegossenen und unübertragbaren Versen eignet:

Ich bade in grüner Ewigkeit…

Weiter lese man zur Bekräftigung des über die Kraft der Metapher Gesagten das Gedicht „Das Gras“, und man wird einen Fund von Poesie in den Händen halten, der einen eine Weile stille bleiben und nur staunen läßt.
Zu den dichterischen Tugenden Kittners gehört auch sein starkes Verwurzeltsein in der Überlieferung. Was bei manchem unselbständigen Dichter Schwäche heißen darf, der mangelnde Mut zu einer Neuwertung der Sprachformen, die kurzschlüssige, halb bewußte Vertrautheit mit dem überlieferten Versklang, wird bei Kittner etwas ganz anderes. Kittner ist kein Nachsprecher. Er sucht bewußt den Anschluß an den unterschwelligen Strom einer Empfindungskultur von Generationen. Das heute so leicht gehandhabte Schlagwort „traditionshörig“ trifft in seiner Schlagrichtung nur sehr bedingt und in einem äußerlichen Sinn etwas von Kittners Eigenart.
Kittner ist sich sehr bewußt, wo er, seiner Eigenart und Einzigartigkeit gemäß, Anschluß suchen muß. Kittner gehört nicht zu den Dichtern, die einfach übernehmen, weil sie nicht anders können. Abkürzend sei verraten, daß sein Lieblingsdichter Brentano ist. Also nicht etwa Rilke, wenn man einem heute eine mögliche Hörigkeit auf den Kopf zuzusagen sich versucht fühlte. Was in der frühen Romantik vom volkstümlich überlieferten Klang in die Bewußtheit hoher Lyrik geläutert wurde und dann im neunzehnten Jahrhundert bei den maßgebenden deutschen Lyrikern weiterlebte, ist auch für Kittner innerer Beziehungsgrund seiner gegenwärtigen Verssprache.
Was ich damit meine, in der Überlieferung der Romantik zu wurzeln, im Sinne eines Bekenntnisses zur Seelenhaftigkeit und zu den dunklen Mutterkräften des kosmischen und sozialen Lebens, möge eine Stropheneinheit aus der packenden Traumvision „Der Wolkenreiter“ veranschaulichen, die dem ersten Gedichtband Kittners den Namen geliehen hat:

Durch Haine blau, durch Täler voller Licht
Trägt es mich fort,
Und ich erwache nicht.

Der Auflösungsdrang der Romantik, der sozial zum Nachtschwärmertum und dem Leben eines Taugenichtses führte, und der in der dunklen Symbolsprache der Dinge Zuflucht vor den Konventionsregeln einer aufgeklärten Oberschicht suchte, war im Grunde Vorbereitung und Suche einer neuen, nach unten, dem Wurzelhaften, verbreiterten Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens. Der Anfang eines Umbruchs ist allemal ein Verstummen. Wie sehr gegenwartsverbunden in diesem Sinne die Thematik Kittners ist, bezeuge das Wort:

… Gerinn der Sprache ist wenig,
Doch Schweigen himmlisches Wunder…

das im Gedicht „Armes, taumelndes Ohr“ steht. Unromantisch ist bei Kittner die atemberaubende Plastik mythischer Visionen, die uns ein Gedicht wie „Der gekreuzigte Löwe“ vermittelt. Zum Abschluß soll an ein paar Verse erinnert werden, die im Gedicht „Heimkehr“ enthalten sind, das den Abschnitt „Raststatt des Todes“ beschließt. Ein besonderes „Stirb und Werde“ ringt sich hier aus der Asche eines überwundenen Lebens und berührt in seinem verhaltenen Pathos geheimnisvoll. ähnlich rätselhaft lichte Verse bei Clemens Brentano, Ich denke an „O Stern und Blume, Geist und Kleid…“ Bei Kittner ist der Schritt schwerer, schwerer um den Ernst des Todes, die sieghafte Lebensbejahung ebenso in einem Geheimniswissen verwurzelt wie dort, aber um eine Bestimmtheit reicher. Die Würde des Überwinders hebt und festigt den zu Wort gewordenen Ertrag innerer Erfahrung:

Leib ward in den Gluten Zunder,
Daß zu Asche er zerstiebe,
Und doch bleibt als ewiges Wunder
Nach dem Tod uns noch die Liebe.

Nur am Größten kannst du reifen,
Nur das Tiefste kann dich spiegeln.
Sei’s das hohe Bild des Greifen,
Sei’s das Buch mit sieben Siegeln.

Wolf Aichelburg, Nachwort

 

Alfred Kittners rumäniendeutsche Lyrik

Alfred Kittner ist ein namhafter deutschsprachiger Lyriker und gewiss heute der beste Kenner und entschiedenste Förderer der rumäniendeutschen Dichtung. Zahlreiche Editionen und Uebersetzungen sind die Zeugen seines unermüdlichen Wirkens für die Literatur.
Ueber der Mittlertätigkeit Kittners sollte man freilich seine eigene Dichtung nicht vergessen (– die bei uns so gut wie unbekannt ist). Ueber Kittners zweiten Lyrikband Hungermarsch und Stacheldraht hatte Alfred Margul-Sperber 1956 geschrieben:

Kittner ist einer unserer reinsten und verhaltensten Dichter: jedes Abgleiten in die Phrase, ja in tönenden Schwung, ist ihm fremd, und er sagt immer mehr, als er ausspricht… In der Schlichtheit der hier vereinigten Gedichte findet der Dichter die ergreifendsten und erschütterndsten Töne für den dem Menschen eingeborenen Willen zum Leben, zum Glück und zur Freude. Ein aus den Feldern herüberwehender Ton einer Mundharmonika, die unschuldige Schönheit schlichter Kressen am Wegrand, die Erinnerung an alte Brunnen und alte Häuser, die man irgendeinmal irgendwo gesehen hat, alles trägt dazu bei, den Abgrund zu erhellen.

Alfred Kittner, 1906 in Czernowitz geboren, besuchte Schulen in seiner Heimatstadt und in Wien. Nach der Machtübernahme der Nazis musste er als Jude 1933 sein Philologiestudium in Breslau abbrechen, kehrte nach Czernowitz zurück und wurde Kulturredakteur. 1941 wurde er in ein Vernichtungslager der Faschisten verschleppt, das er jedoch überlebte. Von 1945 bis 1958 war er wissenschaftlicher Direktor der Bibliothek für Auslandsbeziehungen in Bukarest, wo er heute freischaffend als Schriftsteller, Uebersetzer und Herausgeber lebt. 1937 hatte Kittner seinen ersten Lyrikband Der Wolkenreiter veröffentlicht, 1956, wie erwähnt, den zweiten Hungermarsch und Stacheldraht. Zurzeit liegen zwei Bücher vor, die einen Einblick in das lyrische Œuvre Kittners geben: die Sammlung Flaschenpost, die 1970 im Kriterion Verlag (Bukarest) erschienen ist, und der Auswahlband Gedichte (1973) im Albatros Verlag (Bukarest).
Alfred Kittner ist ein poeta doctus, der souverän über eine Vielzahl lyrischer Mittel verfügt, und der nicht verleugnen kann und will, dass er in der literarischen Tradition steht. Der Dichter selbst nennt als seine geistigen Väter Jean Paul, Kubin und Kafka, doch auch noch andere Einflüsse – von Heine über den Expressionismus bis zu Lehmann und Rilke – sind spürbar. Der Vielfalt der Formen entspricht die Fülle der Themen. Neben Liebeslyrik, Naturbildern und Landschaftspoesie findet man häufig dramatisch-balladeske Erzählgedichte. In vielen von ihnen schildert und reflektiert Kittner seine Erlebnisse in der Hölle der Konzentrationslager. Allerdings ergibt sich gelegentlich eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Thema und der Formstrenge, der eine Tendenz zur Glättung innewohnt. In den Gedichten Kittners verbinden sich Reflexion und Bild zur Einheit.
Alfred Kittner bereitet seit Jahren eine umfangreiche, auf drei Bände angelegte Anthologie der rumäniendeutschen Lyrik von den Anfängen bis zur Gegenwart vor, die erstmals einen umfassenden Ueberblick über Entwicklung und Eigenart dieser Dichtung geben wird. Wen die jüngsten Stimmen aus diesem Chor interessieren, der sei abschliessend auf die Sammlung Befragung heute hingewiesen, die Claus Stephani 1974 bei Kriterion (Bukarest) vorgelegt, hat. Der Band enthält Gedichte von 24 jungen rumäniendeutschen Lyrikern aus Siebenbürgen, dem Banat, aus Jassy und Bukarest, also aus allen Gebieten Rumäniens mit deutschsprachiger Bevölkerung. Die Autoren sind heute allenfalls 35 Jahre alt, und noch keiner von ihnen hat einen eigenen Gedichtband publiziert. Hier hört man die Stimmen von Autoren, die sich (so Claus Stephani) „noch in ständiger Verwandlung befinden, Autoren eines kleinen Sprachkreises, die sich der Anonymität zu entziehen versuchen“ und die sich „durch zeitliche und räumliche Grenzen zur Weltsprache gültiger Poesie hindurchfragen wollen“.
1971 ist Alfred Kittner in einem Interview gefragt worden, ob er glaube, dass die deutsche Lyrik Rumäniens Niveau habe, und er antwortete:

Vom Standpunkt der gesamtdeutschen Literatur betrachtet, zweifellos. In europäische Zusammenhänge gestellt, fällt sie allerdings etwas ab, da sie ausschliesslich deutschen Vorbildern folgt. Eine grössere Befruchtung durch die ihr überlegene und originellere rumänische Lyrik unserer Zeit täte ihr gut. Auf jeden Fall – das muss mit allem Nachdruck gesagt werden – ist die rumäniendeutsche Lyrik weit besser als ihr Ruf, denn sie hat gar keinen.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 9.4.1976

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + Kalliope

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