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Unübersetzbar? Nichts!
(James Joyce, nach Maurice Blanchot)

Überzusetzen – das ist, zumal als Buchtitel, ein Stolperwort; man stockt, man fragt sich, wie es korrekt zu lesen, korrekt zu betonen sei. Das Deutsche hält für den Vorgang des Übertragens und des Hinübertragens zwei im Wortlaut identische, aber unterschiedlich betonte Verben bereit: übersetzen und übersetzen – allein die Betonung macht den Unterschied, und allein schon diese Akzentverschiebung kann als (in diesem Fall: innersprachliche) Übersetzung gelten. Denn was übersetzt beziehungsweise übergesetzt wird, ist in jedem Fall Gegenstand einer Verschiebung, wird versetzt, verrückt, dabei verwandelt (zumindest abgewandelt) und bleibt doch – mehr oder minder – ein Gleiches.

Vielleicht sollte man das Übersetzen nicht einfach und eindeutig als einen Akt des Schreibens (allenfalls des Dolmetschens) verstehen wollen, sondern auch als einen Akt der Lektüre: Übersetzen ist die intensivste, die genaueste, zudem die vollständigste aller Arten des Lesens. Seit dem Verschwinden des analogen Hand- und Maschinensatzes liest einzig noch der Übersetzer einen vorliegenden Text buchstäblich vom ersten bis zum letzten Wort integral durch und beachtet dabei auch sekundäre Phänomene wie die Interpunktion, derweil die übliche, durchweg defizitäre Lektüre diagonal bewerkstelligt wird – durch das Überspringen von Sätzen und Abschnitten, durch das Überblättern ganzer Seiten oder Kapitel. Selbst Philologen und Kritiker verzichten in aller Regel auf die totale Lektüre ihrer Textvorlagen (und sie dürfen es auch bedenkenlos), da sie immer nur an einzelnen inhaltlichen Fragen oder formalen Details interessiert sind und nie am Text als solchem.

Allerdings garantiert auch die lückenlose Lektüre keine vollkommene, keine vollkommen adäquate Übersetzung des Fremdtexts in die Zielsprache. Viel zuviele – essentielle wie beiläufige – Komponenten gehen beim Akt des Übersetzens unweigerlich verloren, da ja zwischen den Sprachen stets nur die Bedeutungsschicht verschoben, nicht aber die Lautgestalt nachgebildet wird. Wenn ich aus dem Englischen das Wort „town“, aus dem Italienischen „città“, aus dem Französischen „ville“, aus dem Tschechischen „město“, aus dem Russischen „gorod“ ins Deutsche bringe, lautet es jedes Mal Stadt, hat also eine ganz andere Klanglichkeit als das jeweilige Original. Gleichwohl ist die Übersetzung durchaus korrekt, nur eben nicht integral, da der fremdsprachige Lautbestand, wie im hier angeführten Fall, keinerlei Äquivalenz findet. In andern, eher seltenen Fällen sind derartige Entsprechungen wenigstens (aus sprachgeschichtlichen Gründen) annäherungsweise mitgegeben – engl. „house“, deutsch „Haus“; frz. „palais“, „palace“, ital. „palazzo“ usf.

Wenn also zwischensprachliches Übersetzen grundsätzlich mit Verlusten zu rechnen hat, vorab mit formalen, aber doch auch mit semantischen, so ist innersprachliches Übersetzen zumeist ein Gewinn. Wie innerhalb einer Sprache übersetzt werden kann, bisweilen auch übersetzt werden muss, wird augenfällig beim Vergleich von Textentwürfen mit deren Druckfassung. Denn die Substitution eines Begriffs, einer Wortverbindung, vielleicht eines ganzen Abschnitts durch alternative Formulierungen ist nichts anders als sprachinterne Übersetzungsarbeit, und diese gilt gemeinhin als Verbesserung, als Aufwertung des entstehenden Texts. Der Ersatz – beispielsweise – eines Adjektivs kann gleichermaßen semantische, klangliche, rhythmische, sogar stilistische Gründe haben, was im Übrigen ebenso auf größere Textteile zutrifft.
Wenn Gottfried Keller den Titelhelden seines großen Künstlerromans „Der Grüne Heinrich“ in einer ersten Fassung (1854/1855) als dritte Person („er“) auftreten lässt, in der definitiven Zweitfassung jedoch als „Ich“-Erzähler, dann ist dies eine ebenso aufwendige innersprachliche Übersetzungsleistung wie im Fall von Hanns Henny Jahnn, der 1927 sein monumentales Erzählwerk „Perrudja“ in einer ersten Redaktion abschloss, den Text aber unter dem aktuellen Eindruck seiner Lektüre des „Ulysses“ von James Joyce völlig umschrieb und erst 1929 zum Abschluss brachte. Auch diese redaktionelle, vor allem stilistische Umarbeitung ist als sprachinterne Übersetzung zu qualifizieren, ebenso die Abänderung des ursprünglichen Titels „Perrudjan“, den Jahnn nun als zu offenkundig selbstbezüglich erachtete und deshalb auf „Perrudja“ verkürzte.

Als innersprachliche Übersetzungs- beziehungsweise Versetzungsgesten werden unterschiedlichste Spielformen des Sprachgebrauchs praktiziert. Dazu gehören etwa, sieht man von den Geboten und Usancen der allgemeinen Rhetorik ab, der Kalauer, der Witz, das Sprichwort, der Aphorismus, der Werbeslogan sowie sämtliche Verfahren hergebrachter Sprachmagie, mithin auch zahlreiche Formbildungstechniken dichterischer Rede.
Besonders deutlich lässt sich dies an einzelnen Wortformen wie dem Anagramm, dem Palindrom, der Assonanz, dem Binnen- oder Endreim beobachten, Formen, die allein durch die Permutation ihres Laut- oder Letternbestands gebildet werden – ein Verfahren, das selbst in automatisierter Redeweise (Alltagssprache) häufig zum Zug kommt.
Man denke an Palindrome wie Not::Ton oder Leben::Nebel, an Reime wie Äste::Weste::Gäste::Reste oder an Homophonien wie Meer::mehr, Stadt::statt, wahre::Ware, an Assonanzen wie Strafe::Larve::Ware::Raffel usf., lauter Wortformen übrigens, die sprachlich immer schon vorgegeben sind, die also nicht eigentlich geschaffen, aber doch als solche entdeckt und konfiguriert werden müssen.
Dass aus dem Wort „Rat“ durch simple Versetzung (Vertauschung) von „R“ und „a“ der Begriff „Art“ gewonnen werden kann, wird vorab durch die Sprache selbst ermöglicht, muss jedoch als Möglichkeit erkannt und realisiert werden. – Im Übrigen bedingt auch der oft zu treffende Entscheid zwischen Synonymen (gleiche oder ähnliche Bedeutung bei unterschiedlicher Lautgestalt) einen innersprachlichen Übersetzungsakt: Bauer/Landwirt, Tyrann/Despot, häufig/oft, schimpfen/lästern usf.

Gerade hier wird ersichtlich, wie wenig die Sprachform mit der Sprachbedeutung zu schaffen hat, klar aber auch, dass derartige sprachintern bewerkstelligte Begriffe und Wortverbindungen jeglicher zwischensprachlichen Übertragung entzogen bleiben.
Einzig im Deutschen bilden „Herz“ und „Schmerz“ und „Lust“ und „Brust“ einen formal perfekten Reim – so perfekt, dass er rasch zum Klischee geworden ist. Der Übersetzer muss vor solchen und ähnlichen Gegebenheiten kapitulieren, oder er muss den Versuch wagen, eine entsprechende Wortbildung in der Zielsprache (mit deren spezifischen Mitteln) eigens nachzugestalten. Dadurch kann die Sprachform womöglich passend übertragen werden, während die Wort- oder Satzbedeutung notwendigerweise verloren geht.

Der vorliegende Sammelband vereinigt übersetzungstheoretische und -kritische Aufsätze, einschlägige Arbeits- und Lektürenotizen sowie eine kleine Auswahl von experimentellen Übersetzungsproben. Die Texte sind darauf angelegt, diverse Phänomene und Probleme zwischensprachlicher wie auch innersprachlicher Übertragung beispielhaft darzulegen und zu dokumentieren. Dabei mag einsichtig werden, wie eng die Wechselbeziehungen zwischen Übersetzung und dichterischer Rede, zwischen Lesen und Schreiben sich gestalten können, aber auch – wie unvereinbar Sprachform und Sprachbedeutung bleiben, obwohl sie doch, wie das Wörterbuch es nahelegt, eins sind.

 

aus Felix Philipp Ingold: Überzusetzen
Versuche zur Wortkunst und Nachdichtung

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