Almut Armélin und Ulrich Grasnick (Hrsg.): Im Auge des Dichters

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Almut Armélin und Ulrich Grasnick (Hrsg.): Im Auge des Dichters

Armélin und Grasnick (Hrsg.)-Im Auge des Dichters

1. Preis

ABGLEICH

ich werde ins gebirge ziehen, in eine fotografie
von ihm. auf dem atlas trägt die welt sich selbst. Ich
glotze. von wind gekratzte formen spiegeln sich in
steinen. welt als kassandra von oben: warum sie
nie lügt, weiss sie nicht. hinterm gebirge strahlt
fröhlichkeit. ich glotze. schade, dass sie nicht für
sich sprechen kann. sie muss sich erst noch erfin-
den. wenn ich gewusst hätte, wie präzise man von
hier aus sieht, hätte ich mein fernglas dem entge-
gen kommenden wanderer geschenkt. Stattdessen
habe ich mich an unterschieden festgehalten und
mich lahm gelegt. so haben sich meine phrasen
gegen mich gewendet. ich glotze nur noch. Zu
spät, gewohnheit abzustreifen wie einen kratzigen
handschuh. eleganter als im fernsehen.

Lara Rüter

 

ZUM PRÄMIERTEN GEDICHT„ABGLEICH“ VON LARA RÜTER

Es ist Wind und „ich will nicht gleichen dem müden Wanderer“. Einer kommt entgegen, dem „hätte ich mein fernglas“ vermacht. Hätte: gedachte Bewegung, die in der Erinnerung changiert. In überlebtem Wunsch verharrt. Im Außenvorbei aufblitzt – im Wind, dem Bewegungsmacher. Oder per Blick: zwar „präzise […] von hier aus“, indes wiederum nur als – verpatzte – Eventualität:

wenn ich gewusst hätte.

Mit einer Totalbetonung des Wenn: das Dann, im Konjunktiv der Vergangenheit unerfüllt, unerfüllbar, wird nur mehr imaginiert. Es strebt nicht – maximal, dass es will. „abgleich“ beschwört ein infantiles, verwöhntes Sein: Spielarten der Larmoyanz werden abgeglichen; Latenzen wird aufgelauert; Fehlzündungen werden demaskiert.
Die Welt als „kassandra von oben“ zu apostrophieren, leitet nur einen der subtilen Kniffe der lyrischen Rhetorik dieses Textes ein. Die per Nebensatz suggerierte Frage „warum sie nie lügt, weiss sie nicht“ bleibt auf die mythische Figur projiziert. Hoffnung, sie mag vage kenntlich sein, wäre eine der Position der Apathie, in der man sich eingerichtet hat, obschon Bewusstsein darüber herrscht, dass „sich meine phrasen gegen mich gewendet [haben]“.
Gerade auch im Licht des angedeuteten Gegenentwurfs „auf dem atlas trägt die welt sich selbst“ ist „sie muss sich erst noch erfinden“ eine dieser Huldigungen der Passivität die von einem scharfen Beobachterauge des Autor-Ich zeugen. „Ich will nicht gleichen dem müden Wanderer“ – und gleiche ihm eben doch! Hier wird eine Zeitgeistwahrheit offenbar, die, aufgrund des Wahrheitsgehalts, nur unter Aufbietung äußersten Weltbewusstseins identifizierbar ist. Die Einsicht „ich [habe] mich an unterschieden festgehalten und mich lahm gelegt“ birgt nämlich ein metatextliches Problem, das den Rezipienten ins Mark treffen mag – das Text-Ich, im Dialog mit seiner Isolation, konstatiert nur mehr die eigene Klage.
Dies ist nichts als die Zaungastschau des Traumgesichts. Denn – und so steigt der Text wirkmächtig ein – „ich werde ins gebirge ziehen, in eine fotografie von ihm“. Das Ich verläuft sich im Abbild. Für die Sprung-in-den-Spiegel-Affinität symptomatisch ist die Du-Perspektive – mit „abgleich“ philosophisch vorbereitet; in den von Lara Rüter zusätzlich vorgelegten Texten, „home sweet“ sowie „dank des stachelschweins“, dann expressis verbis ausgeführt. Nicht weniger einsamkeitselegisch.
Folgerichtig daher auch: „ich glotze“. Dreimalig aus dem dichten Gewebe des Fließtexts, zuletzt: „ich glotze nur noch“. Der redundante Gebrauch verweist weniger auf Resignation als auf Selbstbezogenheit, auf eine Selbstbezogenheit als Ausweg aus der Resignation. Eine vermeintlich Flucht nach vorn, die sich als Flucht nach innen erweist der Introspektion nicht folgt. Dort, in der Welt der Spiegel einer verspiegelten Welt, findet statt die Begegnung mit dem Anti-Du. Was ein Ich ist, das sich selbst überlebt hat: es bleibt im Virtuellen stecken.
Eine Scheinlösung wäre die Lesart „ich glotze“ mit dem Lexem Glotze im nominalen Gebrauch: La télé, c’est moi! Was die Nabelschau-Larmoyanz selbstironisch-süffisant auf die Spitze triebe, wenn sie sie nicht gar aushebelte. Der damit einhergehende Ich-Verlust müsste freilich als solcher wahrgenommen werden, um ihn grundehrlich beklagen zu können.
Das gesetzte Thema „Im Auge des Dichters“ fokussierte das Sehen. „fotografie“, „glotze“, „spiegeln“ – im Lauf der weitergedachten Motivkette wächst die Distanz, was die stringente nüchterne Betrachtungsweise unterstreicht: „wie präzise man von hier aus sieht“, „mein fernglas“ scheint im Einsatz gewesen zu sein, schließlich aber ist es „zu spät, gewohnheit abzustreifen wie einen kratzigen handschuh. eleganter als im fernsehen“. Das Eigenbild, so sehr an ihm zementiert wurde, bleibt porös.
Die Jury – im Bann des auch sprachlichen Sogs – gratuliert zur spröden Schönheit des Texts, die der Darstellung schleichender Ich-Absenz konsequent Rechnung trägt, ohne einer zumindest latenten Neugewandung grundsätzlich eine Absage zu erteilen.

York Freitag

 

 

 

Liebe Leserinnen und Leser! Liebe Autorinnen und Autoren!

Sehen und das Sehen in Sprache kleiden, es zu Papier bringen – das war der Grundgedanke für meine Ausschreibung Im Auge des Dichters. War mein erster eigener Gedichtband Der vieltürige Tag mehr ein Versprechen, so wollte ich es in meinen späteren Gedichten mit erweiterten Ausblicken einlösen. Wollte „nicht gleichen dem müden Wanderer“, der den Berg mit Blicken nur abtastet, der von der Schönheit des Ausblicks spricht, den Gipfel aber nie gesehen hat.
Ein Gedicht will Baustein sein für ein Buch. Und je mehr Bausteine wir für einen Lyrikband zusammentragen, desto mehr Räume können wir betreten. Die vorliegende Anthologie der zweiten Ausschreibung des Ulrich-Grasnick-Lyrikpreises konnte aus Platzgründen wiederum nur einen Ausschnitt der Einsendungen aufnehmen. Vertreten sind Autoren aus ganz Deutschland, aus der Schweiz, aus Österreich und aus anderen europäischen Ländern. Ihre Texte thematisieren Auffälligkeiten in Poesie gekleidet: Schönheiten oder harte Fakten. Wir sehen, wie Lyrik unser Leben begleitet, auf geschichtliche und soziale Umbrüche reagiert.
Die Gedichte kommen in rhythmischer Vielfalt, mit erfrischendem Einfallsreichtum, mitunter in großer Nähe zur Prosa daher. Gebündelt, nebeneinander und kontrastierend zueinander, gewähren sie uns Einblicke in private Räume, in denen Ahnung, Erwartung, Lebensfreude und Erschütterungen ihren ganz eigenen dichterischen Ausdruck gefunden haben. Erzählende und unterhaltende Momente fehlen nicht.

Der Jury des Ulrich-Grasnick-Lyrikpreises 2018 gehörten an: York Freitag (Vorsitz), Dorothee Arndt, Michael Manzek, Sigune Schnabel (2. Preisträgerin des UGL 2017) und Dr. Martin A. Völker. Sie trafen ihre Entscheidung in einem anonymen Verfahren und nominierten folgende Autoren:

Die Preisträger:

Lara Rüter (1. Preis) Magnus Tautz (2. Preis)

Jo Bernard
Peter Bothe
Helmut Glatz
Ismail Kanay
Britta Lübbers
Nicolas Mangold
Carin Schlosser

Ich gratuliere den Preisträgern sowie den nominierten Autorinnen und Autoren des Jahres 2018. Und ich möchte allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Lyrikwettbewerbs danken. Mit ihrem Zuspruch ermuntern sie mich, diesen auch in den kommenden Jahren weiterzuführen.
Betrachten wir mit bloßem Auge einen Himmelsausschnitt und suchen nach Sternen, so sind einige sofort sichtbar, andere zeigen sich erst nach längerem Hinsehen. Bringen wir noch mehr Geduld auf, erkennen wir weitere, die schwächer leuchten, die ferner stehen.

Ulrich Grasnick, Vorwort

 

Der Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis

wird jährlich an zwei Autorinnen bzw. Autoren für ein Gedicht in deutscher Sprache mit hohem künstlerischen Anspruch vergeben. Diese und andere Wettbewerbsbeiträge werden im Anschluss veröffentlicht.
Die Prämierten des Wettbewerbs 2018 sind Lara Rüter mit ihrem Gedicht „abgleich“ und Magnus Tautz mit seinem Gedicht „Unter offenen Fenstern“.

Quintus Verlag, Ankündigung

 

 

Fakten und Vermutungen zur Herausgeberin + Facebook

 

Zum 80. Geburtstag des Herausgebers:

Marko Ferst: Inspiriert von Chagall
neues deutschland, 4.6.2018

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + Kalliope
Porträtgalerie: deutsche FOTOTHEK

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