Annett Gilbert: Zu Eugen Gomringers Konstellation „konstellation für diet sayler“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Eugen Gomringers Konstellation „konstellation für diet sayler“. –

 

 

 

 

EUGEN GOMRINGER

konstellation für diet sayler

wer viel würfelt fordert fünfmal
viel wer fordert fünfmal würfelt
fünfmal wer viel würfelt fordert
würfelt fordert viel wer fünfmal
fordert würfelt wer viel fünfmal

wer fünfmal würfelt fordert viel
fünfmal fordert wer viel würfelt
viel fordert wer fünfmal würfelt
würfelt fünfmal wer viel fordert
fordert viel wer fünfmal würfelt

fordert wer viel würfelt fünfmal
fünfmal wer viel fordert würfelt
viel fünfmal fordert wer würfelt
wer würfelt fordert fünfmal viel
würfelt wer fordert fünfmal viel

würfelt viel wer fünfmal fordert
fünfmal würfelt wer viel fordert
wer fünfmal fordert würfelt viel
fordert fünfmal wer viel würfelt
viel würfelt wer fünfmal fordert

fünfmal viel würfelt wer fordert
würfelt fünfmal viel wer fordert
fordert fünfmal viel wer würfelt
viel, wer fünfmal würfelt fordert
wer viel fordert würfelt fünfmal

 

Eugen Gomringers Konstellationen für Diet Sayler

Fünf Wörter ergeben einen Vers, fünf Verse ergeben eine Strophe, fünf Strophen ergeben ein Gedicht. Monolithisch steht jede Strophe einzeln für sich, exakt den Umriss eines Quadrats ergebend, das als elementare geistige Form die geometrische Grundfigur schlechthin der konkreten Kunst und Poesie bildet und zugleich die Kubusform des Würfels aufnimmt, der in Eugen Gomringers „KONSTELLATIONEN FÜR DIET SAYLER“ buchstäblich ununterbrochen zum Einsatz kommt, schließlich werden die fünf Worte des ersten Verses wer viel würfelt fordert fünfmal“ hier immer wieder durcheinandergewürfelt und von Zeile zu Zeile in immer neuer Abfolge präsentiert.
Um die Aussagen der verwirrend ähnlichen Verse zu durchdringen und sinnfällig zu machen, ist ein gehöriges Maß an Konzentration nötig. Dabei hat Eugen Gomringer noch nicht einmal alle 120 möglichen Permutationen der fünf Ausgangswörter aufgeführt, sondern nur 25 ausgewählt, die nach eigener Aussage zu den verständlichen zählen.1 Doch was heißt ,Verständlichkeit‘? Schon in der ersten Strophe finden sich Verse wie „fordert würfelt wer viel fünfmal“ und „viel wer fordert fünfmal würfelt“, die einerseits merkwürdig vertraut und nachvollziehbar wirken, andererseits aber der syntaktischen oder grammatischen Kohärenz entbehren und sich dem Verständnis beharrlich verweigern. Und je weiter der Rezipient in der Lektüre der Permutationen fortschreitet, umso mehr beginnen die Wörter und Sätze, auch die an sich verständlichen, in ihrer Bedeutung zu schillern und Unsicherheiten hervorzurufen. Lässt sich beispielsweise der Wortumstellung im ersten und letzten Vers der vierten Strophe, „würfelt viel wer fünfmal fordert“ und „viel würfelt wer fünfmal fordert“, eine Bedeutungsnuance entlocken oder sind die Verse kongruent?
In welche Untiefen führt die Analyse der beiden chiastisch verschränkten Verse „wer viel würfelt fordert fünfmal“ und „wer viel fordert würfelt fünfmal“, die als erster und letzter Vers die Serie rahmen? Bester Ausdruck der zunehmenden Verwirrung des Lesers mag der vorletzte Vers der Auflistung sein, in den sich ein erratisches Komma verirrt hat, das den Satz nur unzureichend gliedert und mehr Fragen aufwirft als Eindeutigkeit schafft.
Die 25 Verse scheinen je für sich so zwar alle eine Botschaft zu enthalten, doch entgleitet diese dem Leser in der Regel gleich wieder. Die Möglichkeit von Bedeutung ist diesen Versen noch eingeschrieben, aber ihr Sinn kaum noch fassbar, er gleitet dahin und löst sich im Umfeld der einander so ähnlichen und doch so verschiedenen Verse auf – die Wörter sind in ihren jeweiligen Kombinationen nur noch potentiell bedeutungsvolle Sprachpartikel. In ihnen „erscheint sprachlich konstituierter Sinn als reine Möglichkeit.“2  Auf der Schwelle zwischen Sinn und Sinnfreiheit changierend lassen die Permutationen die Worte dergestalt zunehmend fremd und Sprache – als prinzipiell bedeutungsfähiges Material von Dichtung und Kommunikation – ,konkret‘ werden.3 Mit der Reduktion der Serie auf 25 von 120 möglichen Varianten legt Eugen Gomringer zudem offen, wie viele Möglichkeiten des Sprachmaterials wir gewöhnlich ungenutzt lassen,4 weil die Semantik und Pragmatik unser Denken und Sprechen (vorher-)bestimmen.
Doch Eugen Gomringers „KONSTELLATIONEN FÜR DIET SAYLER“ enthalten noch eine zweite Ebene. Ihr Titel und ihre Einordnung in die Abteilung HOMMAGE AUX ARTISTES in der Gesamtausgabe5 sind dezente Hinweise darauf, dass es sich um ein Bildgedicht zu einem Werk des konkreten Künstlers Diet Sayler handelt. Dass die KONSTELLATIONEN nicht eindeutig als Bildgedicht ausgewiesen sind, ist Eugen Gomringers fester Überzeugung geschuldet, dass seine Bildgedichte prinzipiell allein für sich stehen können und auch unabhängig von dem Kunstwerk rezipiert werden können, aus dem sie hervorgegangen sind. Da die von dem Kunstwerk angestoßenen Erfahrungen und Überlegungen, die sich im Bildgedicht materialisieren, allgemeingültigen Charakter hätten, sei das Kunstwerk ,nur‘ ein „Spezialfall“6 für die im Bildgedicht formulierten Erfahrungen und Erkenntnisse. Zum Nachvollzug der Konstellation sei die Bekanntschaft mit diesem speziellen Werk der konkreten Kunst aber nicht zwingend erforderlich.
Dass Gomringer ein Meister dieser Gattung ist,7 ist möglicherweise aufgrund dieses ungewöhnlichen Umgangs mit den Bildgedichten noch immer recht unbekannt und möglicherweise auch etwas überraschend, denn strenggenommen dürfte ein konkreter Poet wohl gar keine Bildgedichte schreiben, legt man die ,strenge Lehre‘ zugrunde. So hat schon Gisbert Kranz in seinen verdienstvollen Untersuchungen zum Bildgedicht grundsätzliche Zweifel an der Existenzmöglichkeit konkreter Bildgedichte angemeldet, schließlich sage sich die konkrete Poesie völlig vom Mimesisgedanken los:

Ein gegenstandsloses Gedicht, das ein Bild zum Gegenstand hätte, wäre ein Paradox.8

In der Tat hatte Eugen Gomringer in diesem Sinn bereits in seinem Manifest „VOM VERS ZUR KONSTELLATION“ aus dem Jahr 1954 unmissverständlich festgehalten:

mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt. sie ist eine realität an sich und kein gedicht über9

Erstaunlicherweise stehen Eugen Gomringers Bildgedichte jedoch nicht im Widerspruch zu dieser Definition, denn genau genommen sprechen sie gar nicht über die Bilder, auf die sie reagieren: Sie beschreiben diese weder noch erzählen sie diese nach noch interpretieren sie diese. Vielmehr erfassen sie die charakteristischen Merkmale des Bildes und übersetzen diese in analoge sprachliche Strukturen und Prinzipien, weshalb Kunstwerk und (Bild-)Gedicht prinzipiell auf derselben Ebene kommunizieren.
Das gilt auch für die „KONSTELLATIONEN FÜR DIET SAYLER“, die erstmals 1976 in der gemeinsam mit Diet Sayler konzipierten Mappe FÜNF WORTE FÜNF LINIEN publiziert wurden. Der Titel der Mappe sagt es bereits: Eugen Gomringer antwortet mit fünf Worten auf Diet Saylers Vorgabe von fünf Linien. Damit stehen sich die zwei Elementarbausteine von Literatur und Kunst in strenger Symmetrie gegenüber. Diet Saylers Arbeit besteht aus fünf Blättern, die jeweils eine Konstellation aus fünf miteinander verbundenen, gleich langen Linien zeigen, deren Maße strengen Regeln unterliegen:

ich ging von fünf linienelementen der gleichen länge ,l‘ aus. länge des elementes war ein fünftel des quadratischen formates, die breite betrug ein fünfzigstel der länge.10

Die Linienkonstellationen variieren von Blatt zu Blatt, wobei jede einzelne unmittelbar aus der vorangegangenen hervorgeht, von der jeweils die unterste Linie entfernt und an deren oberste Linie eine neue angesetzt wird. Die fünfteilige Serie ermöglicht so das „Erleben von Veränderung“11 und steht für Diet Saylers Überzeugung, „daß jede ,gewachsene Form‘ auch ,Geschichte‘ in sich trägt.“12 Prinzipiell ist diese Serie unbeendbar, doch nach nur fünf Blättern macht Diet Sayler Schluss: Dann ist jede Linie einmal ausgetauscht worden, „das Prinzip der Variationen […] ist hinlänglich dargestellt.“13Darüber hinaus bringt Sayler, motiviert durch Duchamp und Dada, den Zufall als Gestaltungselement ein, denn der Winkel, in dem die Linien zueinander stehen, wird jeweils mit dem Würfel ermittelt.
Der Satz „wer viel würfelt fordert fünfmal“, der den Ausgangsvers von Eugen Gomringers Konstellationen bildet und direkt das Würfelmotiv aufgreift, beschreibt in der für Gomringer typischen Verknappung prägnant den Kern der Sayler’schen Serie. In Entsprechung zu Sayler beschränkt er sich auf fünf Elemente, die fünffach variiert werden. Wo Sayler würfelt und den organisierten Zufall ins Spiel bringt, um die nächste Linienkonstellation zu erzeugen, permutiert Gomringer die fünf Wörter zu immer wieder neuen Anordnungen und stellt so auch auf der Ebene des Verfahrens eine Analogie her. Der Dichter geht also ähnlich elementar und konsequent methodisch vor wie der Künstler, womit bewiesen ist, dass man tatsächlich aus Worten Äquivalente schaffen kann zu den Bildern sowie den Ideen und Prinzipien der konkreten Kunst – was seit Eugen Gomringers erster Begegnung mit konkreter Kunst die Herausforderung bildete, aus der heraus er seinen spezifischen Ansatz konkreter Poesie entwickelte:

ich sehe die verknüpfung der beiden wege, des lyrischen mit dem der konkreten kunst, als ein charakieristikum meiner entwicklung, wenn nicht gar meiner bestimmung zum grenzgänger. die synthese ist die poesie.14

Gomringers „KONSTELLATION FÜR DIET SAYLER“ kann so als eine mögliche Antwort gelesen werden auf die Not, die ihn überkam, als er 1944 in der Zürcher Galerie des Eaux Vives gebeten wurde, etwas über die ausgestellten Werke der Zürcher Konkreten zu schreiben, und er feststellen musste:

[E]s gab keine ,Schreibe‘, keinen Handgriff, um über so etwas zu schreiben.15

Nicht viele Dichter haben sich bisher dieser Herausforderung gestellt. Bildgedichte zu Werken der ungegenständlichen Kunst, sei es der abstrakten oder der konkreten, sind in der Literaturgeschichte eine Rarität, potenziert sich hier doch das Beschreibungsproblem, das die ekphrastische Tradition und die Gattung des Bildgedichts per definitionem seit Anbeginn begleitet. Es hat sich mit der Moderne noch verschärft, schließlich kann sich ein Bildgedicht bei ungegenständlicher, erst recht bei konkreter Kunst nicht mehr mit der Nacherzählung und Auslegung etwaiger Bildinhalte bescheiden. Angesichts dieser Schwierigkeiten verwundert es kaum, dass sich in der Geschichte der Gattung eine deutliche Präferenz der Autoren aller Zeiten für kanonische ältere Werke der Kunstgeschichte abzeichnet, wie Gisbert Kranz konstatiert:

Die meisten Bildgedichte unserer Zeit beziehen sich auf Werke früherer Jahrhunderte, während das Schaffen zeitgenössischer Künstler bei den Dichtern verhältnismäßig wenig Beachtung findet. […] Selbst die Avantgarde unter den modernen Lyrikern wendet sich lieber den Meisterwerken vergangener Stilepochen zu als den Modernen.16

Vor diesem Hintergrund ist Gomringers Hinwendung zu Werken der konkreten und konstruktiven Kunst als exzeptioneller Beitrag zur Geschichte des Bildgedichts und zum Dialog der Künste zu betrachten. Mit seinen Bildgedichten erweitert er zudem die magere Zahl von Bildgedichten in der konkreten und visuellen Poesie, die in der Geschichte der ekphrastischen Dichtung noch seltener sind als Bildgedichte auf moderne und zeitgenössische Werke.17 In der Regel handelt es sich dabei allerdings um Figurengedichte, die in ihrer äußeren Erscheinung das betreffende Kunstwerk imitieren, indem sie beispielsweise den Umriss mimetisch nachzeichnen oder die Illusion von Dreidimensionalität hervorrufen.18 Gomringer hingegen sucht in seinen konkreten Bildgedichten strukturelle, methodische, elementare oder formale Analogien herzustellen. Seine Wortkonzentrate, die das Dichten wörtlich nehmen, indem sie es als ,Verdichten‘ verstehen, setzen dabei treffsicher am Kern der jeweiligen Werke an und befördern die Durchdringung der ihnen zugrundeliegenden Prämissen, Strukturen und Methoden, indem sie die wesentlichen bildkünstlerischen ,Strukturereignisse‘ in Sprache umsetzen und performativ aufscheinen lassen: „wir zeigen strukturen, wir stellen strukturen her“,19 hält Gomringer in seinem Essay „WESHALB WIR UNSERE DICHTUNG ,KONKRETE DICHTUNG‘ NENNEN“ allgemein für die konkrete Poesie fest – ein Aspekt, der in den üblichen Lehrbuchdefinitionen der konkreten Poesie etwas in Vergessenheit geraten ist. In Eugen Gomringers hauptsächlich auf solchen Strukturäquivalenzen beruhenden Bildgedichten, für die die „KONSTELLATIONEN FÜR DIET SAYLER“ exemplarisch stehen können, ergibt sich so ein Gespräch zwischen Kunst und Literatur, das in der Kunst- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts seinesgleichen sucht. Auch in der ekphrastischen Tradition sind Eugen Gomringers Bildgedichte ohne Vergleich, weshalb es mehr als berechtigt ist, auch in Bezug auf diese Facette von Gomringers Œuvre mit Marjorie Perloff von „The Gomringer Variant“20 zu sprechen.

Annette Gilbert, aus Eugen Gomringer: poema. Gedichte und Essays, Nimbus, 2018

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