Aura Christi: Elegien aus der Kälte

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Aura Christi: Elegien aus der Kälte

Christi-Elegien aus der Kälte

FÜNFTE ELEGIE

IV. ALS ICH GING

Wer hat behauptet, dass die Wälder nur
Handlinien sind, die Falken ein Abdruck
selten erfahrener Liebe und der Tod ein
Muster der Seele?

Wer hat behauptet, als der Tag sich klagend
neigte, wir seien erst Schatten der Träume,
dann allzu junge Dämonen, zuletzt unstete
Flecken im Licht?

Als ich durchs Leben ging – Sekunden des Wehs –,
schwebte ich zwischen den Dingen, von Kreis zu
Kreis, die Lippen verbrannt vom ungetrübten
Zauber des Todes.

 

 

 

Zwischen Skylla/Physis und Charybdis/Poesie

– Zu Aura Christis Leben und Werk. –

,,Wir bestehen aus Fleisch und Wörtern. Wer legt das Verhältnis fest? Du schreibst, um aus dem Gefängnis deines Körpers auszubrechen, während der Körper dich immer stärker unterjocht“, bemerkt Aura Christi 2006 in ihrem „Antitagebuch“, das in Heft 7–8 der Zeitschrift Saeculum fünf Druckseiten im Quartformat umfasst und auf engstem Raum das zentrale Problem ihres Lebens zu umreißen sucht: dass sie nämlich ihre Künstlerexistenz von Anfang an dem sich verweigernden Körper abtrotzen musste.
Aura Christi, mit bürgerlichem Namen Aurelia Potlog, war erst 19 und studierte seit zwei Jahren Journalistik, als sie 1986 an progressiver Myopie erkrankte. Die beiden Augenoperationen, die in ihrer Heimatstadt Kischinjow in der damaligen Sowjetrepublik Moldawien ausgeführt wurden, schlugen jedoch fehl, worauf sie in tiefe Depressionen verfiel und zweimal versuchte, sich das Leben zu nehmen. Dass es gerade die Augen waren, die sie im Stich ließen, war für die ausgesprochene Leseratte und angehende Dichterin besonders bitter, ja entmutigend und trieb sie in die Verzweiflung. Denn laut eigener Aussage las sie „bulimisch“ und verschlang alles, was ihr in die Hände fiel.
Diese Lesewut, die immer noch anhält, hat Aura Christi ihrer Familie zu verdanken, deren Mitglieder – mit Ausnahme des Vaters, der die militärische Laufbahn einschlug und als Offizier in einer Elite-Luftwaffeneinheit diente – seit Generationen als Lehrer oder Juristen tätig waren und anspruchsvoller Lektüre einen hohen Stellenwert beimaßen. In ihrem Essayband „Exerciţii de destin“ (Schicksalsübungen),1 der 2007 im Verlag Ideea Europeană erschienen ist, hält sie gut zwei Jahrzehnte später fest:

Das Lesen ist für mich eine Art Krankheit wenn Sie so wollen. Seit Kindertagen habe ich enorm viel gelesen. So weit ich zurückdenken kann, lese ich sozusagen bulimisch, mit einem Tempo, das die Meinen alarmierte, die mir des Öfteren zu verstehen gaben, dass meine ophthalmologischen Probleme auch von meinem Lesehunger herrührten, der – zu meiner Verwunderung, doch ich habe mittlerweile aufgehört, mich zu wundern – ständig wuchs. Niemand konnte mich vom Lesen abbringen. Und ich glaube nicht, dass es jemandem zeit meines Lebens je gelingen wird. […] das Buch ist ein Freund, ein Vertrauter in guten wie in bösen Tagen, ein Pfeiler, der dich jederzeit und überall stützt; doch das Buch ist auch ein Gift, ein Vorwand, um die Welt zu fliehen. […] und sie während der Flucht besser kennenzulernen, gründlicher.

Nach den fehlgeschlagenen Eingriffen in Kischinjow folgten beschwerliche Reisen von einem Spezialisten zum nächsten: erst nach Odessa, dann nach Moskau, wo sie sich vier weiteren riskanten Operationen unterzog. Die Ärztin Larissa Olejko, die ihr das Augenlicht rettete, legte ihr nahe, sich den Schriftstellerberuf ein für alle Mal aus dem Kopf zu schlagen, was Aura Christi jedoch kategorisch ablehnte. Nach zweijähriger Unterbrechung nahm sie ihr Studium wieder auf, das sie 1984 begonnen hatte, absolvierte 1990 mit magna cum laude, setzte auch ihre journalistische Tätigkeit fort, der sie schon seit 1983 als Redakteurin der Zeitschrift Tineretul Moldovei nachging, und übernahm 1991 die Chefredaktion der Kulturzeitschrift Galaxia Gutenberg. Doch auch ihre literarische Präsenz kam nicht zu kurz: Bereits seit der Gymnasialzeit hatte Aura Christi regelmäßig Gedichte in moldawischen und rumänischen Zeitschriften publiziert, im Juni 1993 veröffentlichte der Verlag Ecce homo ihren Debütband De partea cealaltă a umbrei (Von der Kehrseite des Schattens), der gleich nach seinem Erscheinen mit dem Lyrik-Preis des rumänischen Ministeriums für Kultur ausgezeichnet wurde. Des Pendelns zwischen Kischinjow und Bukarest müde, beschloss sie noch im Herbst des gleichen Jahres, ihre journalistische und literarische Laufbahn in der rumänischen Hauptstadt fortzusetzen, wo sie als Kolumnistin bei der Zeitschrift Contemporanul. Ideea Europeană einstieg. Das Augenleiden schien zunächst gebannt, doch als sie 1994 mit ihrem Lebensgefährten, dem Autor und Übersetzer Nicolae Breban, Österreich, Deutschland und Frankreich bereiste, wurde bei Untersuchungen in einer Klinik in Saint-Denis eine Netzhautablösung im rechten Auge diagnostiziert, die mehrere Laserbehandlungen erforderlich machte.
Ohne ihres Körpers zu achten, arbeitete Aura Christi in der Folgezeit wie besessen: Bis zum Jahr eins des neuen Jahrtausends stieg sie nicht nur zur stellvertretenden Chefredakteurin des Contemporanul auf, sie veröffentlichte auch sechs Gedichtbände – Împotriva mea (Gegen mich), 1995; Ceremonia orbirii (Die Zeremonie des Erblindens), 1996; Valea regilor (Das Tal der Könige), 1996; Nu mă atinge (Rühr mich nicht an), Anthologie, 1997; Ultimul zid (Die letzte Wand), 1999; Crini imperiali (Kaiserlilien), Anthologie, 1999 –, zwei Essaybände – Fragmente de fiinţă (Bruchstücke des Wesens), 1998; Labirintul exilului (Das Labyrinth des Exils), 2000 –, den Roman Sculptorul (Der Bildhauer), 2001, der ihre Romantetralogie Vulturi de noapte (Adler der Nacht) eröffnet, die mittlerweile komplett aufliegt, und den Gedichtband Poezie şi destin (Dichtung und Schicksal) von Anna Achmatowa, den sie aus dem Russischen übersetzte.
Doch dann streikte ihre Physis erneut – diesmal die Lunge. Bis verlässliche Untersuchungsergebnisse vorlagen, schwebte ihr aus Angst, dass es sich wegen einer möglichen genetischen Vorbelastung um Krebs handeln könnte – in ihrer Familie hatte es mehrere Fälle von Lungenkrebs gegeben –, ständig der Tod vor Augen. Die Diagnose fiel schließlich weniger bedrohlich aus wie befürchtet: Es war Tuberkulose, deren Behandlung sich jedoch alles andere als einfach gestaltete, weil die Patientin allergisch auf Penizillin reagierte und einige der klassischen Medikamente wegen der starken Kurzsichtigkeit bzw. Netzhautablösung nicht verabreicht werden konnten. Während dieser Leidenszeit schrieb Aura Christi die Elegien aus der Kälte, zu denen sie in ihrem „Antitagebuch“ anmerkt:

Ich bin immer noch überzeugt davon, dass dieser Gedichtband – so überschattet, dass ich ihn nur selten wiederzulesen wage – mir das Leben gerettet hat. Das Schreiben ist sowohl Gebet (Kafka hatte recht) wie auch Therapie im üblichen Sinne.

Also hat Aura Christi ihre Schreib- und Lesewut keineswegs gedrosselt, im Gegenteil: Allein die drei weiteren Bände der Romantetralogie, die bis 2007 vorlagen, umfassen 1856 Druckseiten – Noaptea străinului (Die Nacht des Fremden), Bd. 2, 2004; Marile jocuri (Die großen Spiele), Bd. 3, 2006; Zăpada mieilor (Der Schnee der Lämmer), Bd. 4, 2007 –, hinzu kommen vier Essaybände von insgesamt 1230 Druckseiten – Celălalt versant (Der andere Abhang), 2005; Exerciţii de destin (Schicksalsübungen), 2007; Religia viului (Die Religion des Lebendigen), 2007; Trei mii de semne (Dreitausend Zeichen), 2007 –, drei Gedichtbände – Elegii nordice (,,Elegien aus der Kälte“), 2002; Cartea ademenirii (Das Buch der Verlockungen), Anthologie, 2003; Ochiul devorator (Das alles verschlingende Auge), Anthologie, 2004 – der Interviewband Banchetul de litere. Dialoguri cu… (Das Fest der Buchstaben. Wortwechsel mit…), 2006 –, eine Buchübersetzung, vier als Herausgeberin betreute Sammelbände, Zeitschriftenbeiträge und, und, und – vom täglichen Arbeitspensum als Chefredakteurin und Verlegerin ganz zu schweigen. ,,Wir bestehen aus Fleisch und Wörtern. Wer legt das Verhältnis fest?“ – eine existenzielle Frage, die über Aura Christis gesamtem Leben und Schaffen steht.
Die Elegien aus der Kälte, 2002 unter dem Titel Elegii nordice erschienen, beanspruchen nicht allein wegen der Grenzerfahrung, aus der sie laut Aussage der Autorin hervorgingen, eine Sonderstellung in ihrem Werk. In ihnen verdichten sich vielmehr Themenkomplexe, die Aura Christi über Jahre hinweg beschäftigten, obwohl oder gerade weil sie die Auseinandersetzung damit in ihrem täglichen Umfeld vermisste: etwa das Gespräch mit Gott, das Einssein von Leben und Tod das Verhältnis von Meister und Schüler. Denn die Lektüre von Tolstoi und Dostojewski, von Kant, Hegel, Marx, Nietzsche und Schopenhauer, von Freud und Jung hatte sie bereits zu Studienzeiten tief bewegt, später kamen auch Goethe, Rilke, Hesse und Thomas Mann hinzu. In ihrem Essayband Labirintul exilului (Das Labyrinth des Exils), dessen erste Auflage zwei Jahre vor den Elegien bei Crater verlegt wurde, hat Aura Christi nicht allein auf die literarischen und philosophischen Impulsgeber für ihren künstlerischen Werdegang verwiesen, sondern auch eine klare ideengeschichtliche Zuordnung ihres Œuvres vorgenommen:

[…] meine Dichtung ist nordisch geprägt, da sie essenzielle Themen aufwirft, die im Kontext der rumänischen Kultur atypisch sind.

Der Begriff „nordisch“ ist dabei aber weder in geografischer noch in geistesgeschichtlicher Hinsicht – wie aus deutschem Blickwinkel üblich – mit „skandinavisch“ gleichzusetzen und zum Unterschied vom deutschen Sprachgebrauch auch nicht mythologisch befrachtet oder gar rassistisch belastet, sondern bezieht sich vielmehr auf die aus südosteuropäischer Sicht nördlich gelegenen Sphären der russischen wie der deutschen Kultur, und zwar auf namentlich hervorgehobene Dichter und Denker, deren prägenden Einfluss Aura Christi immer wieder unterstrichen hat: „Nur ein unsicherer, ungebildeter Mensch fürchtet sich davor, beeinflusst zu werden. […] Um zu uns selbst zu finden, müssen wir uns an den großen Vorbildern messen, ihnen gegenübertreten […]. Dass ich mich für die Renaissance begeistere […], liegt nicht zuletzt daran, dass Kunstwerkstätten damals eine Selbstverständlichkeit waren und das Meister-Schüler-Verhältnis für einen normalen Lernprozess einstand“, betont sie in „Exerciţii de destin“ (Schicksalsübungen).
Im Falle von Aura Christis Elegien weist bereits der Originaltitel Elegii nordice unmissverständlich auf „nordische“ Bezüge hin. Von den höchst unterschiedlichen philosophischen und literarischen Einflüssen, die den geistigen Hintergrund dieser Texte speisen, seien im Folgenden lediglich einige der deutschen Vorbilder herausgegriffen – als möglicher Zugang und ohne den Anspruch auf Vollständigkeit. Da wäre in erster Linie der frühe Friedrich Nietzsche als metaphysischer Impulsgeber zu nennen, insbesondere jene „Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen“, die er in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erörtert hat: Ausgehend von den „getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches“, stellt er der eidetischen Selbstfindung des ,,apollinischen Traumkünstlers“ die mystische Selbstentäußerung des „dionysischen Rauschkünstlers“ entgegen. Während aber Nietzsche diese beiden „Triebe“ einerseits als natürliche, andererseits als künstlerische „Mächte“ klar voneinander unterscheidet, gerade weil sie sich wechselseitig bedingen bzw. gegenseitig befruchten, werden sie in Aura Christis Elegien zu Chiffren für Immanenz bzw. Transzendenz, die entsprechend der beabsichtigten Aussage alternieren und sich somit von Nietzsches grundlegendem Postulat distanzieren, dass „nur als ästhetisches Phänomen […] das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ sind.
Vor allem die Themenkomplexe Sehen-Bild-Schein bzw. Schlaf-Traum-Sein, denen in den Elegien aus der Kälte eine Schlüsselrolle zukommt, weil sie die Selbst- und Welterfahrung des lyrischen Ich transportieren, weisen durchaus „apollinische“ Züge im Sinne von Nietzsche auf:

Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes; er sieht genau und gern zu: denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben. Nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder sind es, die er mit jener Allverständlichkeit an sich erfährt: auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze „göttliche Komödie“ des Lebens, mit dem Inferno, zieht an ihm vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel – denn er lebt und leidet mit in diesen Szenen – und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfindung des Scheins […].

Vor allem Nietzsches Ausführungen zur „inneren Lust am Schauen“ könnten ohne Weiteres auch für die Elegien gelten:

So gewiß von den beiden Hälften des Lebens, der wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswertere, ja allein gelebte dünkt: so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für jenen geheimnisvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegengesetzte Wertschätzung des Traumes behaupten. Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, daß das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das Ewig-Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein zu seiner steten Erlösung braucht: welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende, d.h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Kausalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfinden genötigt sind.

Im Unterschied zu Nietzsche sieht Aura Christi die „stete Erlösung“ des „Wahrhaft-Seienden“ bzw. „Ur-Einen“ aber nicht als ästhetisch, sondern allein als religiös gegeben an, also nicht durch die Kunst, sondern allein durch Gott. Der Erfahrung des modernen Menschen entsprechend ist es ein Deus absconditus, dessen Abwesenheit das lyrische Ich jedoch nicht daran hindert, vielmehr dazu herausfordert, sich mit ihm auseinanderzusetzen, das Gespräch mit ihm zu suchen. Dabei ist die christliche Prägung von Aura Christis Gottesverständnis unschwer zu erkennen, da vor allem die Fundamentalunterscheidungen von Gott und Welt, Leben und Tod, Körper und Geist, Licht und Dunkel usw. darauf hinweisen. Zudem offenbart ein solcher Dualismus, dass Aura Christis Elegien nicht im Zeichen einer konfessionell gebundenen, sondern eher einer gnostisch gelebten Religiosität stehen. Dafür spricht auch die Frage der Häresie, die in den Elegien immer wieder angeschnitten wird und eine Abkehr vom institutionalisierten Glauben bezeichnet. Die Privatisierung des Gottesgedankens, die in diesen Texten zutage tritt, antwortet somit der neuzeitlichen Weltgestaltung, die – laut den Ausführungen des Systematischen Theologen Joachim Track – in ihrer Organisation der Arbeitswelt und ihrer Orientierung am Markt ganzheitliche Lebensfragen, also auch die Gottesfrage, ausklammert und das Individuum seiner Entfremdung und Endlichkeit überlässt.
In den Elegien aus der Kälte sind Individuation und Isolation bezeichnend für die heutige menschliche Existenz. Deshalb suchen sie dem in Mode gekommenen, mittlerweile wie ein Massensport betriebenen und bloß narzisstisch ausgelegten Selbstfindungsprozess kritisch zu begegnen und ihn gleichzeitig gnostisch auszurichten. Um allerdings Erlösung, also Gott zu finden, ist eine mystische Selbstentäußerung vonnöten – ein Desiderat, dessen „dionysischer“ Vollzug wiederum an Nietzsche erinnert: das Verschmelzen mit der Natur, dem Universum und das Eingehen in die Weltenharmonie, die sich zur Musik, zum Gesang verdichtet. So heißt es zum Beispiel im Gedicht „Alles“, mit dem die vierte Elegie schließt:

Alles läuft darauf hinaus, dich unendlich langsam
in Stücke reißen zu lassen,
bis du zum alles umfassenden Gesang
des Selbstverständlichen wirst,
von unsichtbaren Kräften widersinnig aufgewühlt,
bis du zu Wasser wirst, zum Wind, zur Wunde
[…].

Und die „Elegie der Unterwerfung“ hält fest:

Der Einsame, der durch die Nacht hechelt, weiß:
Alles verdichtet sich zum Blick, dann zur Absenz,
die dich beherbergt, bis dir die Luft ausgeht,
bis du zur Klangsäule jenes Liedes wirst,
das die Dinge, Wesen, Himmel summen.

Metaphern für die existenzielle Unbehaustheit des Individuums sind nicht allein die Wortfelder Kälte-Frost-Eis-Schnee-Winter, Schweigen-Vergessen-Dunkel-Finsternis oder Ruinen-Staub-Asche-Wüste, die sich alle mit den Begriffen Tod und Nichts erweitern ließen, sondern auch der menschliche Körper, der sich wegen seiner Anfälligkeit, vor allem aber wegen seiner Fremdheit als unzuverlässiges Obdach eines höchst fragwürdigen Ichs erweist. Für Aura Christis elegische Auseinandersetzung mit der Physis, für die sie ihre Tuberkulose-Erkrankung als konkreten Anlass genannt hat, gibt es jedoch auch eine literarische Bezugsperson, nämlich die Romangestalt Hans Castorp aus Thomas Manns Zauberberg, den sie in ihrem „Antitagebuch“ als einen ihrer „liebsten“ Kranken der Weltliteratur bezeichnet – eine Vorliebe, die wohl nur vordergründig mit dem Lungenleiden in Verbindung gebracht werden kann.
Jenseits des Schüler-Meister-Verhältnisses, das Hans Castorp mit dem Humanisten Lodovico Settembrini sowie dem Jesuiten Naphta verbindet und ihn geistig wie menschlich reifen lässt, sind es vor allem die Fragen von Körper und Geist, Krankheit und Tod, die in ausufernden Lehrgesprächen vertieft werden und nicht nur den wissbegierigen Zauberberg-Helden beschäftigen, sondern auch Aura Christi bedrängt haben. So wird zum Beispiel Hans Castorp, der als „Sorgenkind des Lebens“ zunächst mit einer vergeistigenden Wirkung der Krankheit kokettiert, von Settembrini nachdrücklich eines Besseren belehrt:

Sprechen Sie mir nicht von der ,Vergeistigung‘, die durch Krankheit hervorgebracht werden kann, um Gottes Willen, tun Sie es nicht! Eine Seele ohne Körper ist so unmenschlich und entsetzlich wie ein Körper ohne Seele, und übrigens ist das erstere die seltene Ausnahme und das zweite die Regel. In der Regel ist es der Körper, der überwuchert, der alle Wichtigkeit, alles Leben an sich reißt und sich aufs widerwärtigste emanzipiert. Ein Mensch, der als Kranker lebt, ist nur Körper, das ist das Widermenschliche und Erniedrigende […].

Hans Castorp muss sich eingestehen, dass er so gut wie nichts über die Beschaffenheit des menschlichen Körpers weiß, und besorgt sich Fachbücher, um dem „heilig-unreinen Geheimnis“ des Lebens auf die Spur zu kommen. Er studiert die ungeheure Komplexität „organischer und unorganischer Natur“, dringt über Knochen, Muskeln, Sehnen, Bänder, Nerven, Drüsen etc. bis zu den Zellen und den Genen in die Materie ein, erfährt staunend, dass sich im Atom, „im Innersten der Natur, in weitester Spiegelung, die makrokosmische Sternenwelt“ wiederholt, und wird von einem fiebernden Taumel erfasst, als der „Abgrund zwischen dem Materiellen und dem Nichtmateriellen“ vor ihm gähnt und ihm „die Begriffe des Außen und Innen“ abhanden kommen:

War dem aber so, wie Hans Castorp dachte, dann fing in dem Augenblick, da man geglaubt hatte, zu Rande gekommen zu sein, das Ganze von vorn an! Dann lag vielleicht im Innersten und Aberinnersten seiner Natur er selbst, der junge Hans Castorp, noch einmal, noch hundertmal, warm eingehüllt, in einer Balkonloge mit Aussicht in die mondhelle Hochgebirgsfrostnacht und studierte […] das Körperleben?

Die Krankheit zwingt auch Aura Christi, den Körper anders, neu wahrzunehmen und den äußeren wie inneren, materiellen wie nichtmateriellen, makro- wie mikrokosmischen Aspekten des Daseins nachzuspüren. In ihrem „Antitagebuch“ stellt sie fest:

Ich empfinde meinen Körper – manchmal, oft – als vollkommen fremd. […] Ist es überhaupt möglich, jene gigantische Aktivität zu begreifen, die sich unter der Oberfläche, im Verborgenen entfaltet und sich der unmittelbaren Betrachtung entzieht, all die Vorgänge, die Sekunde für Sekunde mit erschreckender höchstmöglicher Diskretion in deinem Inneren stattfinden? […] Erst die Krankheit brachte mir bei, mich zu erkunden. Mich in mir einzunisten. Mich meinen inneren Rhythmen nicht zu widersetzen. […] Die Krankheit hat mich zurechtgewiesen und schließlich mit meinem Körper versöhnt.

Auch was die Auffassung des Todes betrifft, scheint Aura Christi zusammen mit Hans Castorp bei seinem Lehrmeister Settembrini in die Schule gegangen zu sein:

Gestatten Sie mir, […] Ihnen ans Herz zu legen, daß die einzig gesunde und edle, übrigens auch – ich will das ausdrücklich hinzufügen – auch die einzige religiöse Art, den Tod zu betrachten, die ist, ihn als Bestandteil und Zubehör, als heilige Bedingung des Lebens zu begreifen und zu empfinden, nicht aber […] ihn geistig irgendwie davon zu scheiden, ihn in Gegensatz dazu zu bringen und ihn etwa gar widerwärtigerweise dagegen auszuspielen. […] Denn der Tod als selbständige geistige Macht ist eine höchst liederliche Macht, deren lasterhafte Anziehungskraft zweifellos sehr stark ist, aber mit der zu sympathisieren ebenso unzweifelhaft die greulichste Verirrung des Menschengeistes bedeutet.

Wie Thomas Manns Romanheld, dem sein Wachtraum im Schneesturm die Einsicht beschert: „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“, gelingt es auch Aura Christis lyrischem Ich, sich schließlich den eisigen Gefilden des Todes zu entwinden, ihn als zum Leben gehörig anzunehmen:

Du lernst die Kunst der wiederholten Tode,
gleitest unwiderruflich aus einem in den nächsten.
Du wehrst dich nicht.
Du fügst dich –
und alles, was jemals sein Dasein dir verdankte,
geht wieder in dich ein,
um sich zu fügen.

Die letzte Elegie, aus der diese Passage stammt: endet mit der Zeile:

Lebendig wie nie und beflügelten Geistes –
lernst du zu gehen.

Es ist ein weiter Weg voller Widrigkeiten und Widersprüche, den die Elegien aus der Kälte nicht nur gedanklich durchlaufen da die Diversität und Divergenz der Fragestellungen auch auf formaler Ebene zutage treten. Die einzelnen Elegien verstehen sich – mit Ausnahme der siebten, achten und zehnten – keineswegs als in sich geschlossene Texteinheiten, sondern bestehen aus jeweils vier bis sieben gesonderten Gedichten, die teils in freien Rhythmen, teils in festen Formen gehalten sind. Denn im Gegensatz zur formalen Willkür der Postmoderne, die Aura Christi ablehnt, vertraut sie auf poetische Traditionen, „auf die drei geflügelten Rosse klassischer Dichtung: Reim, Rhythmus und Musikalität“, wie sie in „Labirintul exilului“ (Das Labyrinth des Exils) anmerkt, und nimmt es in Kauf, sich damit abseits literarischer Trends, abseits des Mainstreams zu bewegen. Während die Gedichte in freien Rhythmen an Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien anknüpfen, deren Metapherndichte sie auch vom verschachtelten Satzbau her zum Vorbild haben, schreiben die Gedichte in romantischer Liedform, speziell aber jene in sapphischer Odenform eine Tradition fort, die in der rumänischen Literatur vom Nationaldichter Mihai Eminescu etabliert und zu klassischer Blüte gebracht wurde.

Wir bestehen aus Fleisch und Wörtern. Wer legt das Verhältnis fest?

Diese Frage wirft nicht allein Aura Christis Antitagebuch auf, sie steht auch im Zentrum der Elegien, die sich auf der Suche nach dem Numinosen zwischen Skylla/Physis und Charybdis/Poesie durchwagen, geleitet von der selbstironischen Erkenntnis, die das „Antitagebuch“ festhält:

Ich schreibe, um das Nichts zu foppen und stelle mir vor dass es ihm etwas ausmacht. Welch Irrtum, der ans Lächerliche grenzt! Das Nichts schwemmt dich weg wie der Regen die Erde.

Edith Konradt, Nachwort

 

Stimmen der Kritik

[…] eine hymnische Poesie, deren syntaktische Ausgestaltung so spröde ist, als suchten ihre Rhythmen jede Einfachheit und Leichtigkeit bewusst zu meiden, damit sie sich allein dem Glauben weihen kann, dem sie inbrünstig, ja fast fanatisch Folge leistet. In all diesen Gedichten von Aura Christi, die in ihrer Themenstellung und Formgebung einzigartig sind, wird dem lyrischen Ich, das sich mit höchsten geistigen Ansprüchen konfrontiert sieht, Übermenschliches abverlangt, wobei Gottesverehrung und Selbstverschwendung als die beiden Seiten desselben Diskurses in Erscheinung treten. Darum wirken die Aussagen in ihrer Unbeugsamkeit manchmal brutal – eine Brutalität, die diese Texte ins Zeichen der Konzeptkunst rückt. […] eine Dichtung, deren Lyrismus absichtlich in Fels gemeißelt ist […]
Mircea A. Diaconu

[…] Durch Aura Christis Worte, die aus verborgenen Quellen im Überfluss hervorbrechen, strömt das belebende Fluidum der Poesie, damit wir vor dem rhetorischen Überschwang, der großen Dichtung nicht zurückschrecken.
Nicolae Balată

Mit ihrer vitalen, leidenschaftlichen, formsprengenden Poesie bewegt sich Aura Christi im Kraftfeld ihrer naturgemäß hervorbrechenden Jugend, der sie keinen Riegel vorzuschieben sucht, sondern sie lyrisch intelligent als ihr Eigen ausweist. Es ist ein „Fieber der Gesundheit“, um einen berühmten französischen Moralisten zu bemühen, das ihren Diskurs nicht allein in rhetorisch breit gefächerte Assoziationen ausgreifen lässt, sondern ihm auch einen mitreißenden Rhythmus verleiht, ein gluckerndes Fließen, einen selbstbewussten Tonfall, als flattere die Fahne des Ich in der Luft, in der es „ewig nach Anfang riecht, nach angebrochenem Tag“ […].
Gheorghe Grigurcu

Der gleich gestimmte Tonfall der Aussage wird von einer ausgefeilten Verstechnik gestützt, die von Gedicht zu Gedicht geschmeidig variiert: Klassische Versmaße, deren suggestive Kraft sich aus dem Symbolismus herleitet, spielen in freie Rhythmen hinüber, während die einheitliche Stillage und eigene Klangfarbe dieser Poesie von einem fortwährenden, deutlich vernehmbaren melodischen Rauschen erzeugt werden. […] Aura Christis Lyrik greift in die Saiten meditativer Versunkenheit und instrumentiert die existenzielle Angst, der jedes ihrer Gedichte entspringt, ebenso überschwänglich wie denkwürdig.
Cezar Ivănescu

Aura Christi hat ein ausgeprägtes Gespür für Tragik. Ihr außergewöhnlich wort- und bildgewaltiger lyrischer Diskurs sucht das Pathos keineswegs zu meiden […].
Sorin Alexandrescu

 

Fakten und Vermutungen zur Übersetzerin
Fakten und Vermutungen zur Autorin

 

Aura Christi liest beim Mon Amour Festival 2014 in Bukarest.

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