Cees Nooteboom: Abschied

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Cees Nooteboom: Abschied

Nooteboom/Neumann-Abschied

Was für ein Geräusch macht die Erde
im Hause des Kosmos? Summt, surrt,
stottert, heult vor sich hin, keine Ankunft
in Sicht. Alles erdacht von einem Wer

oder Was mit einem Heer von Helfern,
irgendwo eine süße Zunge, um den Kummer
zu vermahlen, eine Zukunft versprochen
und verweigert, in der abgezählten

Zeit. Wie lange in seiner erdachten Sekunde
hatte er gezählt und gewogen, nie ging es
um ihn, er hatte alles gelesen, was
die Besseren geschrieben hatten
mit unsichtbarer Tinte.

 

 

 

Nachwort

Wie geht das mit einem Gedichtband? Du hast angefangen in einem Garten, was beschrieben wird, sind mediterrane Pflanzen, doch was dabei zunächst herauskommt, sind Gedanken über den Krieg, Bilder aus einem fernen Früher, das nie verschwunden ist.
Und dann nimmt das Gedicht erneut eine eigenwillige Wendung, es erscheint jemand oder vielmehr es stellt sich jemand dazwischen, du bekommst eine Mappe in die Hände mit Zeichnungen, die sich auf eine merkwürdige Art und vielleicht nur für dich reimen mit einem vorsokratischen Text von Empedokles, den du dir, noch bevor es das Gedicht gab, schon einmal notiert hattest, aber an den du jetzt wegen der Pandemie nicht mehr herankommst – und da die Poesie manchmal nach eigener Willkür handelt, gehen die Köpfe, die auf den Zeichnungen dargestellt sind, eine geheimnisvolle Verbindung ein mit den Empedokles-Zitaten im vierten Gedicht der ersten Sequenz, sie unterbrechen die Meditation, und im Gedicht Nummer II der gleichen Sequenz lenken sie das Gedicht in eine andere Richtung. Inzwischen bist du selbst auch in einem anderen Land angekommen, aber das unheimliche Virus, das auf einmal die ganze Welt beherrscht, hat auch hier das Leben verändert, es wäre merkwürdig, wenn das Gedicht sich daran nichts gelegen ließe, in der Großstadt, wo du vorübergehend weiltest, sind die breiten Straßen auf einmal leer, du siehst ein Poster, auf dem geschrieben steht beginnt hier das Jenseits, nun scheint es, als wollte die Wirklichkeit selbst am Gedicht mitschreiben, man wechselt die Gegend und zieht sich zurück in die Stille nördlicher Landschaften, das Gedicht nimmt dich wieder bei der Hand und geht zurück zu jenen vor Monaten an einem anderen Ort in einem Wintergarten geschriebenen Anfangsversen, das Ende vom Ende, was könnte das sein?

Cees Nooteboom, 12.5.2020, Nachwort

 

Abschied hebt an in einem Garten,

mit der Beschreibung einiger mediterraner Pflanzen, daraus erwachsen Erinnerungen an den Krieg, an eine Vergangenheit, die nie vergangen war, mythische Anklänge. Und dann nimmt das Gedicht eine vollkommen andere Wendung, als plötzlich ein mysteriöses Virus die Welt erobert und unser aller Schicksal verändert.
Doch der Fluchtpunkt bleibt: das unwiederbringliche Verschwinden dessen, der da furchtlos spricht. Und aus einer ungeheuerlichen sprachlichen Verdichtung die Essenz eines ganzen Lebens gewinnt, Bilder von karger Schönheit schafft, das Licht zwischen den Bildern einfängt. Ein Elementargedicht schreibt.
Was geschieht, wenn alles verschwindet? Cees Nooteboom hat ein spätes Gipfelwerk geschaffen, wie aus der Zeit entrückte „Lektionen im klarsten Unheil“, in denen Vergangenheit und Zukunft, Nostalgie und das Bewusstsein von Vollendung – versöhnlich? – ineinander zu schwingen beginnen.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 2021

 

Nie weit vom Meer

– Cees Nootebooms später Gedichtband Abschied enthält genau das: Ein langsames Verblassen des lyrischen Ichs in der Welt. –

Ein reisender Erzähler ist Cees Nooteboom ein Leben lang gewesen, vor den Augen eines großen Publikums. Die Leser, vor allem die deutschen, haben ihn deswegen geliebt. Das gilt vor allem für die Novellen und Romane, in denen er seine Leser um die halbe Welt führte, wie zum Teil auch für die Reportagen. Doch ist er auch in seinen Gedichten immer wieder an ferne Orte gezogen, nach Broome in Australien zu Beispiel oder nach Menorca.
Diese Gedichte bilden, ohne dass sich sein ansonsten im Geiste stets mitreisendes Publikum darum groß bekümmert hätte, die eigentliche Mitte eines umfangreichen Werkes. Sie sind es in der Selbstwahrnehmung des Autors: Nooteboom hat immer wieder darauf hingewiesen, dass er sich zuerst als Lyriker versteht. Sie sind es aber auch, weil sie die Motive des Reisens und dessen letztliche Vergeblichkeit so deutlich benennen.
Nun ist ein neuer Gedichtband erschienen, der sechzehnte dieses mittlerweile 87-jährigen Autors. Er trägt den Titel Abschied, und es wird vermutlich das letzte solche Buch sein: Es ist als Schlusswort zu einem Leben in der Literatur wie auch zum Leben überhaupt gedacht, daran lassen die Gedichte keinen Zweifel.
Am Anfang tritt ein Mann in einem Wintergarten auf, in mediterraner Umgebung: „Das Ende vom Ende, was könnte das sein?“, fragt er sich, und dann bleibt sein Blick auf einer vorbeiziehenden grauen Wolke hängen. Zwischendurch wird über einen Menschen nachgedacht, der „in die Welt gezogen“ ist, und die Verse, die folgen, sind für jeden Leser, der mit dem Werk Cees Nootebooms auch nur ein wenig vertraut ist, als Reflexion des Dichters auf sich selbst kenntlich:

… ein Unbekannter,

jemand mit Flügeln, doch ohne
Klauen, durchsichtig, verliebt in Muscheln
und Steine, ein Blatt im Wind, hierher

und dorthin, umringt von Gedichten

nie weit vom Meer.

Man könnte Cees Nooteboom für einen großen Wanderer halten, angesichts der vielen und weiten Reisen, die er unternommen hat. Aber er ist es eigentlich nicht, denn diese meisten Wanderer sind zu bestimmten Zielen unterwegs. Dieser Dichter gehört vielmehr zu einer besonderen Sorte von Spaziergängern. Zwar will er von einem Ort zum anderen gelangen, doch weiß er im Grunde immer schon, dass sich die Zufriedenheit, die sich mit dem Erreichen eines Ziels zu verbinden scheint, am Ende doch nicht einstellen wird. Um von Glück erst gar nicht anzufangen.
Und so bricht der offenbar existenziell unruhige Erzähler immer wieder auf, eines halben Glücksversprechens wegen. Er ist dann aber auch nur halb enttäuscht, wenn sich das Versprochene nicht einstellt. Immerhin hat er eine große Runde gemacht, und es wird nicht lange dauern, bis er sich zur nächsten großen Runde aufmacht. So war es jedenfalls bisher.
Dass Cees Nooteboom melancholische Gedichte schreibt, ist oft bemerkt worden, wie überhaupt die Melancholie zu den Eigenheiten des gesamten Werks zu gehören scheint. An den Gedichten lässt sich ablesen, wie und warum dieses Gefühl entsteht: Sie gehören offenbar zur Selbsttherapie eines prinzipiell Sehnsüchtigen, der nach einem Grund zum Innehalten sucht.
Er kann ihn aber nicht finden, und wie sollte das auch gehen, ist ihm die Sehnsucht doch längst zur Lebensgrundlage geworden. Cees Nooteboom kennt sich selbst gut genug, um dieses Dilemma zu benennen:

So viele Wege
bin ich gegangen, stets auf der Suche nach dem
was ferner liegen müsste, und als ich es
endlich erblickte, verschwand’s wie ein Trugbild

oder erstand als Gedicht

Melancholie ist deswegen vielleicht nicht ganz das richtige Wort, um die Haltung dieses Dichters zu beschreiben. Denn diese Zeilen sind über das süß klagende Einverständnis mit sich selbst hinaus, das die Melancholie kennzeichnet. In ihnen liegt kein Trost. Die Verse gehören zu einer milden Verzweiflung.
Cees Nooteboom ist, gemäß der üblichen Typologie der Reisenden betrachtet, eine Mittlerfigur zwischen einem Nomaden und einem Touristen, wobei er dem Letzteren mehr zugewandt zu sein erscheint als dem Ersteren, weil er mit dem Touristen eben jene Sehnsucht teilt. Deswegen muss er sich trotz allem immer neue Ziele setzen. Deswegen müssen Erwünschtes und Verwirklichtes immer auseinanderfallen. Und deswegen kommt das Bedürfnis nach geografischer Veränderung mit der Enttäuschung nicht zum Stillstand, sondern gerät darüber, buchstäblich, erst recht in Fahrt.
Weil aber am Ende die Kräfte doch erlöschen, während man immer noch reist, weil man weniger sieht, hört und riecht, während man unterwegs ist, geht die Außenwelt dahin mitsamt allem, über das sich noch zu reden lohnen könnte. Zugleich behauptet sich eine Innenwelt, bis sie sich an keinerlei Gegenstände mehr zu heften mag, und übrig bleibt schließlich ein dünnes, fast durchsichtiges Ich, dass sein Reisedasein mehr erleidet, als dass es noch etwas zu erleben in der Lage wäre:

Blind lauf ich weiter, ein fahler Hund
in der Kälte. Hier muss sein,

hier nehme ich Abschied von mir selbst
und werde dann langsam

niemand.

Nichts gibt es, was sich dagegen aufbieten ließe.

Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 20.4.2021

Cees Nooteboom: Abschied. Gedicht aus der Zeit des Virus

– Eine strenge Form hat Cees Nooteboom für Abschied gewählt. Drei Teile insgesamt. Jeder Teil besteht aus 11 Gedichten. Jedes Gedicht besteht aus drei Vierzeilern und einem kurzen, abschließenden Vers. –

Erst im Dezember hat Cees Nooteboom ein schönes, kleines, meditatives Buch Über das japanische Kloster Kozan-ji und die Zeichnungen der Lustigen Tiere veröffentlicht. Nun gibt es bereits einen neuen Nooteboom.
Die Frage, die sich durch das Buch hindurchzieht, findet sich gleich im ersten Gedicht: „Das Ende vom Ende, was könnte das sein?“.

Dies fragte sich der Mann im Wintergarten,
das Ende vom Ende, was könnte das sein?
Etwas ganz ohne Kummer, dachte er sich,
er schaute hinaus, sah eine Wolke, die aussah

wie eine Wolke, bleigrau, zu schwer für jede
Waage, den entblätterten Feigenbaum
Gegen die tausendjährigen Steine der Mauer,
die Gänse der Nachbarn, ihre Zensur,

wie die Nacht korrigiert werden sollte,
die Grammatik der Enteignung, niemand
mehr er selbst, keine einzige Erscheinung,
Rückzug nach der Niederlage,

doch keine Bestimmung.

Das niederländische Original von Cees Nooteboom und die deutsche Übersetzung von Ard Posthuma stehen nebeneinander, so dass wir beim Lesen einen Vergleich anstellen können bei den Worten, den Reimen und dem Rhythmus.
Das lyrische Ich, das dem des Autors sehr nahe zu stehen scheint, zieht Bilanz eines Lebens, das von Kriegserinnerungen geprägt ist und von ständigen Bemühungen, Erinnerungen und Erfahrungen in Worte zu übersetzen.

Der Krieg, der immer wiederkam,
ein Gast, den jeder kannte, der Kuss eines Mundes
ohne Zähne, die Sprache intimen Verrats, jetzt
wieder vernehmbar, ein sofort erkanntes Früher,

das er mit niemandem teilen konnte. Der Vater
ein Mann im Smoking am Geländer des
Boulevards, die Mutter neben diesem zukünftigen
Toten, schon gehüllt in die Zeit, die kommen sollte,

und er selbst noch verborgen, die Welt eine Wolke
ohne Regeln, und hinter den Eltern das Meer,
die Warnung, die niemand hören wollte, immer
dasselbe, Geräusch wie ein Atem nach innen,

der so viel verschlingt.

Wie viele Rätsel kannst du ertragen? Auch diese Frage zieht sich durch diese poetischen Landschaften. Aber Nooteboom gehört nicht zu den Dichtern, die es der Leserschaft schwer machen möchte. Seine Bilder sind klar, seine Gedanken zugänglich wie seine Stimmungen, die er mitteilen möchte, ohne sie künstlich zu verrätseln.
Allerdings verzichtet er auf eine direkte Erläuterung seines Untertitels „Gedicht aus der Zeit des Virus“. Von Corona ist explizit nicht die Rede, wohl aber von den Sorgen und Ängsten, die den Verfasser in dieser Zeit umtreiben:

Ein Schiff vergeht quer durch den Kopf,
die Fäulnis eines Ursprungs,
Dreimaster quer durch geschlossene Augen, wer
hat sie geschaffen?

Ein verkehrtes Paradies voll
Ungeheuern, die uns gleichen, ein
abgenagtes Gesicht mit einem
Strauch auf dem Rücken. Köpfe

zusammen mit mir im Spiegel
ohne Frage wieso und warum
oder was ich hier soll, Leichen, die sich bewegen
im Takt eines Tanzschritts, Karneval

der Angst.

Diese Angst hat Nooteboom wohl auch in den Zeichnungen von Max Neumann gefunden, die er am Anfang, am Ende und zwischen den einzelnen Gedicht-Einheiten in seinen Abschied aufgenommen hat. Sie zeigen sich in sich auflösenden schwarz-weiß gestalteten Gesichtern. Verletzlich wirken sie, orientierungslos, so wie die tastenden Worte in Nootebooms Gedichten.
„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ heißt es in Hermann Hesses berühmtem Gedicht „Stufen“, nachdem kurz zuvor von Abschied die Rede. Durch Nooteboom werden wir daran erinnert: Auch jedem Abschied wohnt ein Zauber inne.

Joachim Dicks, NDR, 11.2.2021

Abschied von sich selbst

– Gedichte über das Alter von Peter Paul Wiplinger, Cees Nooteboom und in einer facettenreichen Anthologie. –

Mag ein ewig junger Lyriker wie Jan Wagner auch frohgemut davon sprechen, Gedichte würden ewig jung halten, so stimmt das natürlich nicht. Und es wäre in gewisser Weise auch schade, denn dann entginge uns ein Lyrikgenre, das zu den produktivsten der Literaturgeschichte gehört: die Alterslyrik.
(…)

Auch der 1933 geborene Cees Nooteboom beglückt uns mit einem „Gedicht aus der Zeit des Virus“, und auch bei ihm sagt der Titel eigentlich alles: Abschied (übers. von Ard Posthuma, Suhrkamp, 2021) heißt sein Langgedicht in 33 Strophen, und es präsentiert einen Dichter, der fortwährend zwischen dem Ich und dem Er hin und her wechselt und sich vor dem Verschwinden der eigenen Person auf das Elementare konzentriert. Er taucht ein in Bilder fern vom „Palaver der Welt“ und auch von den Demütigungen des Alters. Nootebooms Altersgedicht hat etwas Erhabenes an sich, es ist, als schwebte der Dichter schon leicht über den Dingen, über der Welt, über der eigenen Person. Und es ist, was man Alterswerken besonders gerne nachsagt, nämlich ein weises Buch:

Wie viele Leben passen in ein Leben?
Wie oft ist derselbe Kopf jemand anderer?

Ganz am Ende ist der Dichter dann imaginär schon dort, wo Eichendorff den immerwährenden Frühling walten sah:

Hier muss es sein,
hier nehme ich Abschied von mir selbst
und werde dann langsam

niemand.

Andreas Wirthensohn, Wiener Zeitung, 13.9.2021

„Ich war wunderbar isoliert“

– Im Allgäu gestrandeter Weltbürger: der Schriftsteller und Lyriker Cees Nooteboom hat die Zeit in Isolation genutzt, um ein neues Werk aufzusetzen. –

Susanne Lang: Herr Nooteboom, Ihre Frau, die Fotografin Simone Sassen, hat für dieses Gespräch eine Festnetznummer im Allgäu durchgegeben. Was machen Sie dort?

Cees Nooteboom: Wir sind seit Silvester hier in einem Haus von Freunden, auf dem Land, fünf Kilometer vom nächsten Ort entfernt. Für gewöhnlich feiern wir hier den Jahreswechsel, bleiben anschließend noch einige Wochen und reisen dann wieder ab. Dieses Jahr hat eine Krankheit unsere Pläne durchkreuzt. Ich musste ins Krankenhaus – zum ersten Mal in meinem Leben, und ich werde im Juli 87! Das war eine eigenartige Erfahrung.

Lang: Inwiefern?

Nooteboom: Ich gehöre zu der Generation der geschlossenen Körper, was ich mit einer gewissen Ironie sage, denn vor ungefähr 30 Jahren ist in Holland ein Buch mit dem Titel Der geschlossene Körper erschienen. Damals wollte man nicht wissen, welche Prozesse im eigenen Körper ablaufen. Dummerweise war das auch bei mir der Fall. Ich wusste nicht, was mir fehlt. Im Krankenhaus hat man mir alles erklärt. Ich hatte Probleme mit Galle und Leber, musste operiert werden. Nachdem ich entlassen war, standen noch einige Kontrolluntersuchungen an, wir mussten also im Allgäu bleiben. Na ja, und zudem ist Coronapandemie. Unter normalen Umständen wäre ich jetzt in meinem Haus auf Menorca.

Lang: Sie stecken also fest, dabei reisen Sie und Ihre Frau für gewöhnlich sehr viel.

Nooteboom: Es ist eine erzwungen meditative Zeit, in der ich sehr viel von Deutschland mitbekomme. Man lebt in der Nähe einer kleinen mittelalterlichen Stadt, geht zum Markt und führt ein mehr oder weniger deutsches Leben.

Lang: Und, wie finden Sie dieses deutsche Leben?

Nooteboom: Ich kenne diesen Ort ganz gut, weil wir schon öfter hier waren, aber nur im Winter. Nun ist das Wetter unglaublich schön…

Lang: Warum lachen Sie?

Nooteboom: … Ach, ich führe eigentlich ein Literaturleben. Eine amerikanische Freundin hat meine Situation ganz gut auf den Punkt gebracht. Sie schrieb:

Gratuliere zur völligen Isolation in einer Bibliothek.

Dieses Haus ist voller Literatur, Borges, Proust, die deutschen Klassiker, das gesamte Werk Hölderlins, ich habe viel gelesen. Gleichzeitig habe ich an Gedichten für einen neuen Band gearbeitet, der nun in Holland erschienen ist.

Lang: Worum geht es in den Gedichten?

Nooteboom: Der Band heißt Abschied. Ich habe im Spätsommer auf Menorca zu schreiben begonnen, noch vor Corona. Aber der Untertitel des Bands lautet: „Gedichte aus der Zeit des Virus“, denn abgeschlossen habe ich ihn im Allgäu. Inspiriert haben mich zum einen Zeichnungen des Berliner Malers Max Neumann, die er mir geschickt hatte. Zum anderen aber auch die ungewisse Situation angesichts der Pandemie, nicht zu wissen, was wann wieder möglich sein wird.

Lang: Sie spielen in Ihrem Reisebuch Venedig mit dem Gedanken, wie es wäre, dort eingeschlossen zu sein. Nun wurde diese Eingeschlossenheit Realität. Erleben Sie sie als etwas Bedrückendes oder eher Inspirierendes?

Nooteboom: Mittlerweile erlebe ich sie eher inspirierend. Aber die Eingeschlossenheit lässt sich bei mir nicht von der Phase meiner Krankheit trennen, und das war eine essenzielle Erfahrung. Meine Frau durfte mich damals im Krankenhaus nicht besuchen, es gibt einen ganz anderen Tagesrhythmus, und wenn man entlassen wird, ist man erst mal vor allem müde.

Lang: Hat das den Gedichtband beeinflusst?

Nooteboom: Ich denke, die Themen stecken natürlich drin: Isolation und Abschied nehmen, was niemandem so leichtfällt. Wobei ich nach Erscheinen nun feststelle, dass manche Leute denken, es ginge im wörtlichen Sinne um meinen persönlichen Abschied.

Lang: Ist aber vielmehr metaphorisch gemeint?

Nooteboom: Die Ironie dabei ist: Mein allererster Gedichtband, der 1956 auf Niederländisch erschienen ist, heißt: Die Toten suchen ein Haus. Das hatte damals wie heute nichts mit Todesangst zu tun. Der Gedanke an Abschied ist in meinem Alter heute aber doch keine Überraschung. Manchmal fragen mich Leute, wieso ich mich mit dem Tod beschäftige. Ich antworte immer: Ganz einfach, weil ich das nicht mehr kann, wenn ich tot bin.

Lang: Hat Ihre Krankenhauserfahrung dazu geführt, dass Sie sich jetzt stärker damit beschäftigen?

Nooteboom: Nicht in direktem Sinne, nein. Die Klinikwelt hat mich eher fasziniert: Die Abläufe und die Krankenschwestern aus vielen verschiedenen Nationen – ukrainische, kroatische, aber auch viele deutsche – das hatte auch etwas von einer Reise in ein anderes Land. Beschäftigt hat mich die veränderte Welt draußen, als ich wieder entlassen war.

Lang: Weil sich dort plötzlich auch alle mit dem Thema Krankheit beschäftigt haben?

Nooteboom: Diese Leere überall hat mich berührt. Ich weiß noch, wie uns der Bruder meiner Frau abgeholt hatte, wir durften nicht zu dritt in ein Auto steigen. Dann waren alle Straßen leer, auch die Autobahn. In Bussen und Trams fuhren kaum Fahrgäste. Aber dann kommt man in dieses Haus auf dem Land, und alles ist wie immer: Wiesen, Wälder, auch noch schönes Wetter. Da ist man wieder bei sich. Ich war, positiv ausgedrückt, wunderbar isoliert.

Lang: Hat Ihnen diese Leere Angst gemacht?

Nooteboom: Angst nicht, nein. Aber es war sehr eigenartig. Beängstigend finde ich eher die jetzige Situation. Samstags ist Lindau wieder so voll wie früher. Als ich dann noch Bilder vom legendären ersten Flug nach Mallorca gesehen habe, hat mir das schon Angst gemacht. Das Flugzeug war voll besetzt. Offensichtlich wollen die meisten Leute Corona vergessen. Aber das wird nicht so leicht klappen. In irgendeiner Ecke des Gehirns bleibt es hängen, als Warnung vielleicht oder als Albtraum, der zurückkommt. Das spürt man auch bei den neuartigen Ritualen, die sich entwickelt haben.

Lang: Was meinen Sie?

Nooteboom: Man kann sie zum Beispiel gut in Lindau auf dem Samstagsmarkt beobachten. Er fand immer auf einem kleinen Platz neben einer Kirche statt. Jetzt ist er in die Nähe des Wassers verlegt worden, dort ist mehr Platz. Die Leute stehen Schlange an den Ständen, man hält sich an die Abstandsregeln. Wenn nur sechs Leute anstehen, dann ist das schon eine Schlange von 12 Metern. Die anderen Marktbesucher müssen aber diese Schlangen durchkreuzen, um zu anderen Ständen zu gelangen. Da spürt man doch viel Argwohn, bei aller ironischen Haltung, die manche Menschen dabei einnehmen.

Lang: Sie haben vorhin angesprochen, dass Sie 87 werden. Sie gehören offiziell also zur Risikogruppe. Spüren Sie das im Alltag, werden Sie anders behandelt?

Nooteboom: Nein, ich musste nur im Krankenhaus einen Coronatest machen. Ich kenne auch nur eine Person, von meiner Insel Menorca, die an Corona gestorben ist. Vielleicht habe ich auch deshalb keine Angst, weil mir der persönliche Bezug fehlt. Was ich aber bemerke, ist ein altersunabhängiges Verhalten: Leute weichen schnell einen Schritt zur Seite, wenn sie feststellen, dass sie einem zu nahe gekommen sind. Sie weichen ständig aus.

Lang: Eine Art Menschenscheu, weil man die anderen als potenziell ansteckend empfinden muss?

Nooteboom: Ja, die Situation birgt auf jeden Fall ein Dilemma. Ich muss zum Beispiel am 17. September unbedingt nach Palma de Mallorca reisen, weil ich dort den diesjährigen Prix Formentor verliehen bekomme. Ich freue mich sehr über die Auszeichnung. Aber als ich meine Dankesrede vorab geschickt habe, fragte ich mich schon, ob ich wirklich dort stehen werde. Vielleicht kommt ja eine zweite Welle? Ich bin kein Mediziner oder Epidemiologe, aber ich versuche doch, dem Risiko Rechnung zu tragen. Es herrscht unterschwellig ein Klima der Unsicherheit.

Lang: Das ist vielleicht die größte Herausforderung, dass man bei aller Technik und allem medizinischen Wissen eine Krankheit nicht kontrollieren kann. Müssen wir lernen, mit dieser großen Unbekannten zu leben?

Nooteboom: Vieles bleibt eine persönliche Abwägung, bei der ökonomische Aspekte eine Rolle spielen. Touristen zum Beispiel erhöhen die Gefahr, dass sich das Virus verbreitet. Das hat man in Neuseeland gesehen, das für eine kurze Zeit coronafrei war, bis wieder Menschen ins Land gereist sind. Andererseits habe ich einen Bericht über Mallorquiner gesehen, die es zwar sehr genossen haben, ihre Strände wie früher nicht mehr mit Massen von Touristen teilen zu müssen. Wenn diese Touristen aber ausbleiben, bleibt auch ihr Einkommen aus. Das Risiko ist mit der Existenzsicherung untrennbar verbunden.

Lang: Sie haben einmal gesagt, es fühle sich so an als habe man mehrere Leben, wenn man so viel reist wie Sie und an drei Orten zu Hause ist. Fehlen Ihnen diese Leben?

Nooteboom: Nach dem Leben in der Großstadt sehne ich mich momentan nicht. Vielleicht habe ich das richtige Alter für das Land bekommen. Nach Amsterdam werde ich in den nächsten Wochen auf jeden Fall wieder fahren. Dort ist mein Haus, sind meine Bücher und meine Gemälde. Aber mein Arbeitszimmer befindet sich auf Menorca, da frage ich mich schon, ob ich dort jemals wieder werde hinreisen können – und wenn nein, was dann?

Lang: Wie lautet die Antwort?

Nooteboom: Das kann ich mir kaum vorstellen, es ist ja Teil meines Lebens. Ich rufe oft meine Freunde auf Menorca an und bitte sie, doch mal nach meinen Kakteen zu sehen. Wir haben das Haus dort seit 50 Jahren, ich bin daran gewöhnt, dass ich gehe und wieder zurückkomme. Aber wenn es so kommt, dann ist es einfach eine Tatsache.

Lang: Das klingt sehr abgeklärt.

Nooteboom: Nun ja, ich meine, an Ihrer Stimme zu hören, dass Sie jünger sind, als ich es bin. Wenn man 87 wird, weiß man, dass nichts für die Ewigkeit ist. Damit habe ich mich abgefunden, ohne den ganzen Tag vor Angst zu zittern. Das wäre ganz anders, wenn ich 43 wäre. Da denkt man nicht ans Ende. Wobei, ich habe keine Ahnung, wie alt Sie wirklich sind.

Lang: Das haben Sie genau richtig geschätzt.

Nooteboom: Ha, das wäre eine schöne Gabe, wenn ich das Alter an der Stimme schätzen könnte.

Lang: Ich hätte eher gedacht, dass im Alter die Ungeduld zunimmt, weil man weiß, nicht mehr unendlich viel Zeit zu haben. Offenbar liege ich da falsch.

Nooteboom: Ich wollte schon immer vermeiden, dass in meiner Todesanzeige steht: Er hatte noch so viele Pläne. Denn die hat man nur, wenn man nicht gemacht hat, was man immer machen wollte. Das ist bei mir nicht der Fall. Nach meinem frühen Erfolg mit dem Roman Philip und die anderen habe ich einen weiteren Roman geschrieben, den ich einerseits als absolut notwendig, andererseits als nicht gelungen betrachte. Es geht um einen Schriftsteller, der für einen anderen Schriftsteller ein Buch weiterschreiben soll, weil dieser nicht weiterkommt. Der andere Schriftsteller, so heißt er auch im Roman, zieht auf die Insel, wo der erste gelebt hat, und entscheidet sich am Ende, das Buch nicht fertigzustellen. Der Roman erhielt in Holland einen Verriss, aber auch einen Preis. Danach habe ich 17 Jahre lang keine Fiktion mehr geschrieben, aber immer gewusst, dass noch was kommt.

Lang: Sie sind dann erst mal viel gereist.

Nooteboom: Als ich auf meinen unzähligen Reisen die Reisebücher geschrieben hatte, dachte ich mir rückblickend, es fehlte mir damals einfach, was man auf Französisch so schön connaissance du monde nennt. Ich hatte zu wenig Stoff gesammelt. Dann habe ich Rituale geschrieben und noch einige weitere Romane. Wäre ich davor gestorben, hätte ich das Gefühl gehabt, dass etwas fehlt. Aber jetzt wartet kein riesiger Roman mehr auf mich.

Lang: Sondern Gedichte und Reisebücher?

Nooteboom: Mein letztes Buch, das in Deutschland ziemlich unbekannt geblieben, aber mir ziemlich wichtig ist, heißt: 533 Tage. Das sind im Wesentlichen Meditationen und Gedanken. Ich habe es auf Menorca geschrieben, es hat mir großes Vergnügen gemacht. Für meinen letzten Gedichtband wurde ich von der Akademie in München ausgezeichnet. Das hat mich sehr gefreut, aber man kann von Poesie nicht erwarten, dass sie ein Publikumserfolg wird. Die Leute, die Romane lieben, kaufen keine Gedichte.

Lang: Hat sich Ihre Beziehung zu den Büchern durch die Rezeption verändert?

Nooteboom: Nehmen Sie mein Buch Der Ritter ist gestorben, darin habe ich etwas versucht, was wirklich nicht ganz gelungen ist. Zu diesem Urteil komme ich selbst. Es war dementsprechend nie ein Erfolg, aber es zu schreiben, war für mich unglaublich wichtig, daher habe ich das nie bedauert.

Lang: Welche Bedeutung hat Ihr erfolgreichster Roman Rituale für Sie, mit dem Sie auch in Deutschland bekannt wurden?

Nooteboom: Na ja, mir ist bewusst, dass der Erfolg für mich sehr viel verändert hat. Aber irgendwann ist ein Buch auch Vergangenheit, dann kommen neue.

Lang: Ist außer Ihrem aktuellen Gedichtband noch etwas Neues geplant?

Nooteboom: Im Herbst soll im Verlag Schirmer Mosel ein Buch über das japanische Kloster Kozan-ji in der Nähe von Kioto erscheinen. Ich schreibe eine Einführung über diesen wunderbar einfachen, aber beeindruckenden buddhistischen Tempel. Dort gibt es besondere Zeichnungen, Bildrollen von „lustigen Tieren“ aus dem 12. und 13. Jahrhundert, unglaublich wunderbar, lebendig und zeitlos. Eigentlich wollte ich im Mai nach Tokio reisen und den Tempel noch mal besuchen. Nun ja, auch diese Reise hat nicht stattgefunden und sie wird es wahrscheinlich auch nicht mehr.

Lang: Doch ein Anflug von Pessimismus?

Nooteboom: Sagen wir so: Ich spekuliere lieber nicht, sonst wäre ich vielleicht enttäuscht. Freunde aus New York fragen mich auch ständig, wann ich wiederkomme. Ich war dort immer gern und mag mich nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass es nicht mehr spontan möglich sein könnte. Dazu vielleicht eine kurze Geschichte: Unsere Gastfrau hier im Allgäu war mit einem großen Verleger befreundet. Als er im Sterben lag, vorletztes Jahr glaube ich, kam sie aus Deutschland nach New York geflogen, um dem Verleger aus Berlin noch einmal Königsberger Klopse zu kochen. Das fand ich sehr rührend. Da fliegt jemand über den ganzen Ozean, um für einen Menschen noch einmal ein urdeutsches Gericht zu kochen, weil er ihr das wert ist. Das sind sicher Ausnahmegeschichten, aber es macht doch glücklich, dass es sie gibt. Aber ich bin zufrieden, so wie vor der Pandemie auch – abgesehen davon, dass ich meinen neuen Lyrikband nicht in den Händen halten kann.

Lang: Wieso nicht?

Nooteboom: Irgendetwas ist beim Versand aus Holland schiefgegangen. Ich habe mal gehört, dass Peter Handke immer so wütend wurde, wenn andere das Buch vor ihm hatten. So weit geht es bei mir nicht. Aber langsam ärgert es mich. Und es macht mich traurig. Für Autoren ist es doch ein einzigartiger Augenblick, das Buch in den Händen zu halten. Mit Selbstverliebtheit hat das nichts zu tun, sondern ich möchte sehen, dass es wahr ist, dass es erschienen ist. Wenn man älter geworden ist, hat man das zwar oft erlebt, aber dieses Gefühl ändert sich nicht.

die taz, 12.7.2020

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Ulf Heise: Ein Abgesang ohne Melancholie
Freie Presse, 5.3.2021

Günter Rinke: Lesen in der Corona-Krise – Teil 14
literaturkritik.de, 30.3.2021

Andreas Müller: „Abschied – Gedicht aus der Zeit des Virus“ von Cees Nooteboom
Oberhessische Zeitung, 11.5.2021

 

 

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Tobias Wenzel: Zum 85. Geburtstag von Cees Nooteboom
NDR, 30.7.2018

Karsten Jauch: Von der Anschauung der Welt: Autor Cees Nooteboom feiert 85. Geburtstag
Thüringer Allegmeine Zeitung, 31.7.2018

Sabine Peschel: Cees Nooteboom – Meister der Erinnerung
Deutsche Welle, 31.7.2018

Tobias Wenzel: Cees Nooteboom wir 85
SWR2, 31.7.2018

Cornelia Zetsche: Cees Nooteboom zum 85. Geburtstag
Inforadio, 31.7.2018

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Stefan Meetschen: Katholischer Ungläubiger
Die Tagespost, 28.7.2023

Jens Dirksen: Ein melancholisches Glückskind
WAZ, 28.7.2023

Kristian Teetz Interview mit Cees Nooteboom: „Natürlich wäre der Nobelpreis schön gewesen“
RedaktionsNetzwerkDeutschland, 31.7.2023

Arno Widmann: Das Ich und die anderen
Frankfurter Rundschau, 31.7.2023

Lothar Schröder: Der reisende Holländer
Rheinische Post, 31.7.2023

Tilman Spreckelsen: Es ist an den Menschen, weiterzuschreiben
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7.2023

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + FacebookPIA +
Kalliope
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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Cees Nooteboom liest einige Gedichte auf Niederländisch und Spanisch in Mexico City im April 2012.

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