Eckart Kleßmann: Zu Albrecht Goes’ Gedicht „Über einer Todesnachricht“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Albrecht Goes’ Gedicht „Über einer Todesnachricht“ aus Albrecht Goes: Lichtschatten du

 

 

 

 

ALBRECHT GOES

Über einer Todesnachricht

Fühlt es das Weltherz denn nicht,
Wenn so viel Liebeskraft stirbt?
Wiegt ihm ein Leben so leicht,
Weiß es so eilig Ersatz?
Wir, ach, wissen ihn nicht,
Und heißen wohl unersetzlich,
Was unsrem Herzen entreißt
Der großmächtige Tod.
Wege, ihr oftmals begangnen,
Wie endet ihr plötzlich im Dickicht!
Stimme, du zwiesprachvertraute,
Einsame, fürchtest du dich?

Sie freilich, die er uns nahm,
Der geheime Verwandler,
Schweigen sie dunkelen Schlaf,
Lauschen sie fernem Gesang?
Oder wärs, daß sie wirklich
Leicht nur ans Gitter gelehnt
Nachbar noch hießen und Freund
Jeglichem Lassen und Tun?
Wärs, daß wir rufen, und sie
Kommen, die selig Befreiten,
Wärs – und sie blieben für immer
Liebend auf unserer Bahn?

 

Im Jahr Stalingrads

Bei manchen Gedichten tut man gut, sich ihres Entstehungsjahrs zu erinnern. Dieses wurde im Jahr Stalingrads und der Ausrufung des „totalen Kriegs“ geschrieben: 1943. Fast scheint das widersinnig: Wer 1943 in Deutschland eine Zeitung aufschlug, der konnte sie nicht übersehen, diese aneinandergereihten Todesanzeigen, die mit dem Zeichen des Eisernen Kreuzes versehen waren. Sie meldeten den „Heldentod“, so hieß das damals, des Vaters, des Bruders, des Sohnes, des Ehemannes – „gefallen für Führer und Reich“.
Manchmal lasen wir in solcher Anzeige, daß nun der letzte von drei Söhnen „für Deutschland sein Leben gegeben“ habe, und neben der „stillen Trauer“ stand unter anderem das so entsetzlich geschmetterte, so entsetzlich falsche „in stolzer Trauer“. Es war die Zeit des Massensterbens an der Front und daheim, als die Bomben auf die Städte fielen. Allein in Hamburg verbrannten 1943 in einer einzigen Nacht 35.000 Menschen. Und in Auschwitz, Treblinka, Maidanek starben noch weit mehr.
Widersinnig. Damit will ich sagen, daß da einer inmitten des millionenfachen Sterbens zu fragen wagt beim Tod eines einzigen:

Fühlt es das Weltherz denn nicht,
Wenn so viel Liebeskraft stirbt?

Ein Träumer, weltfremd? Aber der Fünfunddreißigjährige, der diese Klage in klassischen Distichen schrieb, war das gewiß nicht. Er befand sich damals als Wehrmachtspfarrer an der Front in der Sowjetunion, und das Massensterben kannte er so gut wie den einsamen Tod des Deserteurs unter der Salve des Exekutionspelotons.
„Weiß es so eilig Ersatz?“ Da wird ein Wort verwendet, das damals viel gebraucht wurde: Ersatz. Es gab ja für alles „Ersatz“, für Kaffee wie für Brotaufstrich, warum denn nicht auch für ein Menschenleben, das millionenfach auswechselbar schien? Sprach doch das Vokabular der Herrschenden unbefangen vom „Menschenmaterial“. Und wie austauschbar war der industrialisierte Massenmord in den Vernichtungslagern.
Beim Tod eines geliebten Menschen verlangt uns nach Erklärung: Warum? Und warum gerade dieser? Plötzlich wird einer von unserer Seite gerissen – aber wir hatten noch gestern mit ihm gesprochen, ihm geschrieben, an ihn gedacht. Warum? Was geschieht mit uns nach dem Tod? Ist es das Auslöschen einer Existenz für alle Ewigkeit? Oder kommt etwas danach?
Für diesen Dichter ist der Tod „der geheime Verwandler“, nicht der feindliche Vernichter. „Der Tod tröstet“, heißt ein Blatt von Käthe Kollwitz. Das erinnert an „Bin Freund und komme nicht zu strafen“ – die Worte des Todes („Freund Hein“) bei Matthias Claudius im Gedicht „Der Tod und das Mädchen“. Ich erinnere mich noch gut, daß damals – 1943/44 – am sogenannten „Heldengedenktag“ im März das Radio stets Schuberts gleichnamiges Streichquartett übertrug, eine jener Perversitäten, in denen das Mörderregime nicht zu übertreffen war.
Hier nun wird nicht der Tod „Freund“ genannt, sondern jene, die er aus der Welt genommen hat. Sie begleiten unsern Weg, sie existieren von uns getrennt – „leicht nur ans Gitter gelehnt“ – liebend und schützend. Wohl, in den zwei Strophen stehen jeweils drei Fragezeichen. Aber der Fragende weiß und bejaht, auch wenn er das behutsame „wärs“ setzt, sonst spräche er nicht von „selig Befreiten“.
In den 45 Jahren, in denen dieses Gedicht nun da ist und auf uns wirkt, haben seine Verse ihre Bewährung vor dem Leben bestanden, haben wir ihre Wahrhaftigkeit erfahren. Vielleicht sind diese zwei Strophen darum so überzeugend, weil sie geschrieben wurden gegen die Lüge im verlogenen Geschrei, gegen den Massenmord und seine Heldenmaske, gegen die moralische Zerstörung des Menschen. Mitten im Jahr Stalingrads und der Gaskammern hat ein junger Dichter den Mut gehabt, ein Wort zu wagen für die täglich geschändete Menschlichkeit, von nichts anderem beschützt als von Wahrhaftigkeit und Liebe.

Eckart Kleßmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00