Erich Fried: Zu Georg Trakls Gedicht „De profundis“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „De profundis“ aus Georg Trakl: Das dichterische Werk. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

De profundis

Es ist ein Stoppelfeld, in das ein schwarzer Regen fällt.
Es ist ein brauner Baum, der einsam dasteht.
Es ist ein Zischelwind, der leere Hütten umkreist.
Wie traurig dieser Abend.

Am Weiler vorbei
Sammelt die sanfte Waise noch spärliche Ähren ein.
Ihre Augen weiden rund und goldig in der Dämmerung
Und ihr Schoß harrt des himmlischen Bräutigams.

Bei der Heimkehr
Fanden die Hirten den süßen Leib
Verwest im Dornenbusch.

Ein Schatten bin ich ferne finsteren Dörfern.
Gottes Schweigen
Trank ich aus dem Brunnen des Hains.

Auf meine Stirne tritt kaltes Metall
Spinnen suchen mein Herz.
Es ist ein Licht, das in meinem Mund erlöscht.

Nachts fand ich mich auf einer Heide,
Starrend von Unrat und Staub der Sterne.
Im Haselgebüsch
Klangen wieder kristallne Engel.

 

Ein Verlorener in welcher Welt?

Wenige Gedichte erschüttern mich immer wieder wie dieses. Warum eigentlich? Widerspricht es nicht allen Regeln für ein wirksames Gedicht? Zahllose Adjektive – schwarzer Regen, brauner Baum, sanfte Waise, spärliche Ähren, süßer Leib, finstere Dörfer, kristallne Engel – und noch sieben weitere in nur einundzwanzig Textzeilen! Und welcher Aufwand: Gott und Engel werden bemüht, Landschaft, Wetter, ein Todesfall oder Mord. Pathos: „Gottes Schweigen / Trank ich aus dem Brunnen des Hains.“ „Im Haselgebüsch / Klangen wieder kristallne Engel.“
Im ganzen Gedicht nichts Scharfsinniges, ja, es ist nicht einmal klar formuliert: Ist die Ich-Person einer, der den Tod der sanften Waise nur beklagt, oder ist es ihr Mörder, der dieses „De profundis“ spricht? Und ist die Landschaft keine Kitschkulisse, die Figur der sanften Waise nicht Klischee, von der nächtlichen Heide, die schon von König Lear her wohlbekannt ist, und vom kalten Metall auf der Stirne ganz zu schweigen? Und heißt es nicht eigentlich „erlischt“ statt „erlöscht“?
Über alle Einwände dieser Art triumphiert das Gedicht, ja vielleicht besteht sein Zauber gerade auch aus all dem. Es hat die Kraft und Einfachheit – und gelegentlich die Unbestimmtheit – des Volksliedes, ohne das Volkslied nachzuahmen. Bei den ersten drei Worten fällt mir das Lied vom Schnitter Tod ein, später auch „Es dunkelt schon in der Heide“, „Es zog eine dunkle Wolke herein“ und andere mehr.
Ich kenne kaum ein Gedicht, bei dem expressionistische Diktion und Volksliedhaftes so eng verbunden sind. Manches wird gerade dadurch gestaltet, daß es nur einfach gesagt wird, ohne einen Versuch der Gestaltung, etwa:

Wie traurig dieser Abend.

Und was ist die Rolle der vermeintlichen Klischees, des Kitschigen (als wüßten wir wirklich, was Kitsch ist und was nicht)? Wird hier nicht das Unheil ganz und gar aus den Bausteinen der „heilen Welt“ vor uns aufgebaut? Wird nicht dadurch die Sehnsucht nach der unverletzten Welt, nach dem zerstörten Schönen und Liebenswürdigen so stark in uns, daß wir uns – lange nach dem Lesen des Gedichtes – vielleicht auch noch fragen, ob nicht die so verbreitete Ablehnung der „heilen Welt“ durch die Kritik gerade der Sehnsucht nach ihr und der Bitterkeit entspringt, daß sie uns genommen ist? Hier aber sind Armut, Mord oder doch Tod und Verwesung und verzweifeltes Herumirren so dargestellt, daß die Schönheit, die Idylle zugleich zerstört und noch da ist. Ohne diese Sehnsucht inmitten des Entsetzlichen, der Verlassenheit, könnte das Gedicht nicht „De profundis“ heißen.
Die Kunstmittel sind so unauffällig, daß man nicht sagen kann, ob sie dem Dichter bewußt waren, etwa wenn „sanfte Waise“ auch etwas von einer sanften Weise – Melodie – vermittelt oder wenn die beiden Worte „spärliche Ähren“ ihren Inhalt durch ihren Klang verdeutlichen, ebenso wie zuletzt, wenn es heißt: „Klangen wieder kristallne Engel.“ Auch die Alliterationen sind unaufdringlich.
Wie gewaltig das Gedicht Grenzen zu überschreiten vermag, zeigt sich auch darin, daß es eigentlich gar nicht mehr wichtig ist, ob die Ich-Person um das arme Mädchen nur klagt oder selbst von der Schuld an ihrem Tod in die Irre getrieben wurde.

Erich Fried, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechster Band, Insel Verlag, 1982

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