Felix Philipp Ingold: Zu Felix Philipp Ingolds Gedicht „Schnee“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Felix Philipp Ingolds Gedicht „Schnee“. –

 

 

 

 

FELIX PHILIPP INGOLD

SCHNEE

ist das was widerlegt
wo nie
kein Ereignis stört.

Die Stille versteht sich
weil sie – anders als Gewichtiges –
gehört. Und aber

weiss die Schrift vom
Schreiben
 nichts.
Schön schonungslos

das Soll. Von
Kinderhand das eine
geknetet aus

beliebig vielem. Flocken
zu Knoten. Und
aus Gerüchen das Gerücht.

 

Das Wie und Was des Gedichts

Im Dezember 2022 war auf www.planetlyrik.de unter Skorpioversa ein kleines Gedicht mit dem Titel «Schnee» zu lesen, ein Gedicht, von mir signiert, also wohl auch von mir verfasst, folglich – mein Gedicht; hier ist es noch einmal in vollem Wortlaut:

SCHNEE

ist das was widerlegt
wo nie
kein Ereignis stört.

Die Stille versteht sich
weil sie – anders als Gewichtiges –
gehört. Und aber

weiss die Schrift vom
Schreiben
 nichts.
Schön schonungslos

das Soll. Von
Kinderhand das eine
geknetet aus

beliebig vielem. Flocken
zu Knoten. Und
aus Gerüchen das Gerücht.

Das Schnee-Gedicht ist damals, passend zur Wetterlage, erstmals veröffentlicht worden. Die Entstehung – die Herstellung – des Gedichts reicht viel weiter zurück als seine Erstveröffentlichung bei Planetlyrik. Es handelt sich nämlich um einen Archivfund, der mir vor nicht allzu langer Zeit unerwartet (zusammen mit manch andern Papieren) unter die Hand gekommen ist, so unerwartet, dass ich das von 2014 datierte Gedicht auf den ersten Blick nicht als mein Gedicht erkannte, sondern eher vermutete, es sei mir von irgendjemandem postalisch «zur Begutachtung» zugestellt worden – was damals hin und wieder vorkam.
Aber nein, bei näherem Hinsehn wurde mir dann schon klar, dass ich ein eigenes Gedicht vor Augen hatte, ein Gedicht jedenfalls, das von mir sein konnte – manches daran wurde mir beim Nachlesen plötzlich wieder vertraut, anderes blieb mir eher fremd und war mir kaum noch verständlich. Aber an «meinem» Gedicht, an jedem Gedicht haben ja, indirekt, immer auch andere Autoren mitgeschrieben: Was wären Brecht und Biermann ohne Heine? Mandelstam ohne Dante und Petrarca?

Die Tatsache, dass mir das Schnee-Gedicht als mein Gedicht mittlerweile zumindest partiell abhanden gekommen ist, ermöglicht mir nun dessen unvoreingenommene Lektüre und darüber hinaus womöglich ein Verständnis, das ich selbst, beim Schreiben, noch gar nicht hatte. Ich will den Text nicht bewerten (beurteilen), bloss ihn betrachten und beschreiben. Deutung ist Sache des Kritikers, der Leserin.
Formal präsentiert sich Gedicht in fünf Strophen, gefügt aus je drei reimlosen Zeilen, von denen die mittlere abwechselnd deutlich kürzer oder deutlich länger ist als die beiden andern:

xxxxxx xxxx xx xxxx xx
xx xxx xxxx xx
xxxxx xx xxx xx xxxxx xxx

Oder:

xxx xx xxxxxx
xx xxxxxx xxx xx xxxxxx xx
xx xxxxx

Der Titel des Gedichts, typographisch abgehoben, ist zugleich Teil des Gedichts: SCHNEE | ist das was widerlegt …» – Und um bei den Formalien zu bleiben: Es gibt hier textintern diverse Assonanzen, die das Gedicht klanglich locker vernetzen – gehört (Strophe II:3) ist ein Echo auf hört (I:3), schön und schon… (III:3), -los und Soll (III:3, IV:1), Flocken und Knoten (V:1, V:2), Gerüche und Gerücht (V:3) bilden lautliche Korrespondenzen von unterschiedlicher Bündigkeit.

Doch was ist, unabhängig vom allfälligen Sinn des Gedichts, aus dem Text zu erfahren?

Zu erfahren ist, dass Schnee das «widerlegt» (zum Verschwinden bringt), worauf er sich legt;
dass Schnee (in seiner Reinheit, Weisse) leicht zu «stören», zu verunreinigen ist;
dass Stille, anders als Worte («Gewichtiges»), sich von selbst versteht, weil sie nur sich selbst «gehört» und von niemandem gehört wird;
dass «die Schrift vom | Schreiben nichts» weiss (so wie der Schnee nicht weiss, dass er «weiss» ist);
dass ein «Soll», das ja immer «schonungslos» ist, auch schön sein kann – der Gleichklang von schön | schon(ungslos) ebenso wie das Palindrom (rückwärts lesen:) los | Soll stehen vordergründig für Übereinstimmung, markieren aber gleichzeitig den inhaltlichen Gegensatz oder Widerspruch;
dass der (ungenannte) Schnellball geknetet ist aus etwas, das sowohl eins (Schnee) wie auch vieles ist (Flocken, Eiskristalle) ;
dass durch das Kneten von Schnee/Flocken «Knoten» (Schneebälle) entstehen können
und aus «Gerüchen» (aus Flüchtigem, schwer Fassbarem) eben ein «Gerücht».

So viel, so wenig ist herzuleiten aus dem, was als Text dasteht. Manches wirkt (auch für mich als Autor) unlogisch, abrupt, irgendwie abwegig, und die Aussage des Gedichts insgesamt bleibt dürftig: Jedermann hierzulande ist vertraut mit der Beschaffenheit und Verwendbarkeit von Schnee, so wie jedermann mit der Ruhe, der Windstille, der Wehmut «im Walde» vertraut ist, die Goethe in seinem Nachtlied («Ein gleiches») mit kunstvoller Schlichtheit vergegenwärtigt. Das Kunstvolle (die Arbeit an der Sprachform, das kompositorische, rhythmische, klangliche Arrangement) ist es gerade, was die inhaltliche Dürftigkeit – oder Gewöhnlichkeit – kompensiert. Starke Natur- und Liebesgedichte sind beispielhaft für derartige Kompensation: Hier gilt es, die immer gleichen Klischees der Gefühlhaftigkeit durch immer wieder neue Formbildungen zu überbieten.

Aber nicht nur auf das Gesagte, auch – und oft mehr noch – auf das Sagen kommt es in der Dichtung an. Das Wie und das Was befinden sich in ständiger, ständig wechselnder, bisweilen ungleicher Beziehung: Wenn es in politischer Lyrik oder in Gelegenheitspoesie vorab um das Was geht, dominiert in formalistischen, experimentellen, hermetischen Gedichten klar das Wie.
Die grosse Dichtung, das gute Gedicht zeichnet sich dadurch aus, dass Wie und Was in ein Verhältnis gespannter Harmonie gesetzt werden. Widersprüche, Unterschiede, Unvereinbarkeiten zwischen Sprachform und Sprachbedeutung werden gleichermassen herausgestellt und verwischt beziehungsweise synthetisiert.
Mir ist das mit «Schnee» nur halbwegs gelungen – zuviel Spannung, zu wenig Harmonie. Beispielhaft versöhnt finden sich Harmonie und Spannung demgegenüber in Shakespeares Sonetten und in manchen Gedichten von Stéphane Mallarmé oder Ossip Mandelstam – versöhnt im dramatischen Clinch von Wörtern und Worten.

Felix Philipp Ingold

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