Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Das Buch als Monstrum (Teil 2)

Das Buch als Monstrum

Teil 1 siehe hier

Für mich ist das allfällig Monströse am Buch weniger ein Einzel- denn ein Massenphänomen. Monströs ist die Vielzahl der Bücher, ihre quantitative Unfassbarkeit, die permanente Wucherung, mit der sie sich vermehren und zugleich sich verschlingen. Was Jorge Luis Borges einst als «unendliche» Bibliothek beschrieben hat, ist nichts anderes als das Buch in seiner monströsesten Erscheinungsform – unzählbar viele Einzelstücke und noch mehr Doubletten, dazu Kopien, Raubdrucke, Fälschungen, Übersetzungen. Auch diese Art von Wucherung kann man grotesk finden, sie ist unheimlich und hinreissend wie ein gewaltiges rutschendes Bergmassiv.

Man braucht, um das zu sehen, nicht auf Borges zurückzugreifen; es genügt, sich die aktuell eintreffenden Vorschaukataloge deutscher Verlage mit insgesamt Hunderten, Tausenden von Neuerscheinungen vor Augen zu halten, um das Buch für ein «Monstrum» zu halten. Soll man lachen, soll man klagen darüber, dass selbst Vielleser und vollends Vielleserinnen aus dem Massenangebot zum kommenden Herbst bestenfalls drei bis fünf Bände bewältigen, also vollumfänglich rezipieren können? Und wie ist deren Auswahl zu treffen? Welche Kriterien gibt es dafür?

Und welche Gedanken und Gefühle mögen aufkommen im Bewusstsein, dass man bei millionenfacher globaler Buchproduktion immer auf ein paar wenige Titel beschränkt bleibt? Wie entgeht man depressiver Verstimmung, wenn man sich vorstellt, was alles man nicht gelesen hat und auch gar nicht gelesen haben kann?

Und woher gewinnt man den Impuls, dieser desolaten Vorstellung zum Trotz weiterzulesen?

Klar doch: Indem man weiterliest.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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