Felix Philipp Ingolds Skorpioversa – Ein letztes Gedicht

Ein letztes Gedicht

 

Am 13. September 2000 erschien in der FAZ ein Kurzgedicht von Ilse Aichinger, das möglicherweise ihr letztes war, jedenfalls ihr letztes zu Lebzeiten gedrucktes. Die Besonderheit des Drucks bestand darin, dass der knappe Text als Faksimile der Handschrift der Autorin (mit deren Signatur) veröffentlicht wurde. Ein durchaus unübliches Dispositiv, allein schon deshalb, weil Aichingers Manuskript nicht ganz leicht zu entziffern ist; in Druckschrift liest sich der Text wie folgt:

Nicht nur der Club der toten Dichter
ist dagegen; auch die Gemse, der
Thunfisch und das Känguruh.
Ilse Aichinger

Das kleine Gedicht – oder ist es bloss ein beiläufiges Notat? – trägt keinen Titel, ist nicht datiert, die Zeilenbrüche scheinen zufällig gewählt oder durch das Kleinformat des Zettels bestimmt zu sein.
Am Beginn steht ein Hinweis auf einen populären Film aus der Zeit um 1990 («Dead Poets Society»), dessen Protagonist, ein Englischlehrer, seine Schulklasse höchst erfolgreich für die Dichtung zu begeistern versucht. Die Schulklasse wird zum Fanclub in Sachen schöne Literatur, bei Ilse Aichinger steht sie aber nicht für, sondern gegen etwas – der Club ist ganz einfach «dagegen». Wogegen, das wird nicht gesagt, nicht einmal andeutungsweise. Doch in unmittelbarem Anschluss daran heisst es weiter, dass «auch» andere «dagegen» seien, und als die andern figurieren drei Tiere, die also mit den Literaturfans gleichgesetzt, zumindest mit ihnen verglichen werden: Gemse, Thunfisch, Känguruh.
Die drei Tiere (oder Tierarten) haben nichts miteinander zu schaffen, sie leben in völlig unterschiedlichen Biosphären und können einander in der Wirklichkeit nicht begegnen: Die Gemse ist im Gebirge zugang, der Thunfisch im Wasser, das Känguruh im Flachland. Die dreigliedrige Aufzählung unverbundener, sogar gegensätzlicher Begriffe beziehungsweise Gegenstände ist bei Ilse Aichinger eine rekurrente rhetorische Figur, die in manchen ihrer Erzählungen («Bleiben, Freude, Kontur») wie auch in ihrem Buchtitel «Kleist, Moos, Fasane» (1987) zum Tragen kommt.
Damit ist allerdings nichts erklärt und auch nichts zu erklären. Dass ganz unterschiedliche Tiere und mit ihnen eine ganze literaturbegeisterte Schulklasse «dagegen» sind, hat hier recht triviale ausserliterarische Gründe. Nicht auf die Wortbedeutungen kommt’s hier an, vielmehr auf die Wörter selbst, und genauer noch: auf deren Schreibweise. Der kryptische Text verliert jedes Geheimnis (und damit die Magie hermetischer Dichtung), wenn man weiss, dass zur Zeit seiner Entstehung die deutsche Orthographiereform viel zu reden gab und höchst kontroverse Debatten auch im Literaturbetrieb auslöste. Nach den Vorgaben der Duden-Redaktion sollten demnach die Begriffe «Gemse» neu als Gämse, «Thunfisch» als Tunfisch, «Känguruh» als Känguru geschrieben werden.
Damit wird klar, dass Ilse Aichinger ihre «Tiere» weder aus metaphorischen noch aus klanglichen Gründen auftreten lässt; dass sie ihnen nur einfach ihre Stimme leiht, um den Protest «dagegen» zu ermöglichen – dagegen also, geschulmeistert und in ihrer Wortgestalt verletzt zu werden: So wie auch die «toten Dichter», hätten sie denn noch eine vernehmbare Stimme, «dagegen» wären, von der Schule oder vom Kanon nach Belieben vereinnahmt und klassifiziert zu werden.
Kennte man freilich den zeitgeschichtlichen Kontext der Notiz nicht, könnte man sie tatsächlich für ein rätselhaftes Nonsensgedicht halten und beliebige Lesarten daran erproben. Schon immer (schon seit den Orakelsprüchen von Delphi) hat sich der Hermetismus durch seine kontextfreien Verlautbarungen interessant gemacht. Nach Auflösung des Rätsels geht seine diesbezügliche Magie unweigerlich verloren.

 

© Felix Philipp Ingold & Planetlyrik

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