Franz Josef Degenhardt: Poesiealbum 108

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Franz Josef Degenhardt: Poesiealbum 108

Degenhardt/Sandberg-Poesiealbum 108

SPIEL NICHT MIT DEN SCHMUDDELKINDERN

„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach’s wie deine Brüder“,

so sprach die Mutter, sprach der Vater, lehrte der
aaaaaPastor.
Er schlich aber immer wieder durch das Gartentor
und in die Kaninchenställe,
wo sie Sechsundsechzig spielten
um Tabak und Rattenfelle –
Mädchen unter Röcke schielten –
wo auf alten Bretterkisten
Katzen in der Sonne dösten –
wo man, wenn der Regen rauschte,
Engelbert, dem Blöden lauschte,
der auf einem Haarkamm biß,
Rattenfängerlieder blies.
Abends, am Familientisch, nach dem Gebet zum Mahl,
hieß es dann: „Du riechst schon wieder nach Kaninchenstall.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach’s wie deine Brüder!“

Sie trieben ihn in eine Schule in der Oberstadt,
kämmten ihm die Haare und die krause Sprache glatt.
Lernte Rumpf und Wörter beugen.
Und statt Rattenfängerweisen
mußte er das Largo geigen
und vor dürren Tantengreisen
unter roten Rattenwimpern
par cœur Kinderszenen klimpern –
und, verklemmt in Viererreihen,
Knochen morsch und morscher schreien –
zwischen Fahnen aufgestellt
brüllen, daß man Freundschaft hält.
Schlich er abends zum Kaninchenstall davon,
hockten da die Schmuddelkinder, sangen voller Hohn:
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern…“

Aus Rache ist er reich geworden. In der Oberstadt
hat er sich ein Haus gebaut, nahm jeden Tag ein Bad.
Roch, wie bessre Leute riechen,
lachte fett, wenn alle Ratten
ängstlich in die Gullis wichen,
weil sie ihn gerochen hatten.
Und Kaninchenställe riß er
ab. An ihre Stelle ließ er
Gärten für die Kinder bauen.
Liebte hochgestellte Frauen,
schnelle Wagen und Musik,
blond und laut und honigdick.
Kam sein Sohn, der Nägelbeißer, abends spät zum Mahl,
roch er an ihm, schlug ihn, schrie: „Stinkst nach Kaninchenstall.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern…“

Und eines Tages hat er eine Kurve glatt verfehlt.
Man hat ihn aus einem Ei von Schrott herausgepellt.
Als er später durch die Straßen
hinkte, sah man ihn an Tagen
auf ’nem Haarkamm Lieder blasen,
Rattenfell am Kragen tragen.
Hinkte hüpfend hinter Kindern,
wollte sie am Schulgang hindern
und schlich um Kaninchenställe.
Eines Tags in aller Helle
hat er dann ein Kind betört
und in einen Stall gezerrt.
Seine Leiche fand man, die im Rattenteich rumschwamm.
Drum herum die Schmuddelkinder bliesen auf dem Kamm:
„Spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder.
Geh doch in die Oberstadt,
mach’s wie deine Brüder!“

 

Franz Josef Degenhardt: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern“

 

Franz Josef Degenhardt,

von einer Mischung aus Lied und Chanson herkommend und einer Haltung, die eher bohemienhaft antibürgerlich als ausgesprochen politisch engagiert zu nennen war, ist der bedeutendste Macher und Sänger politischer – und das heißt ausnahmslos linker – Lieder in der Bundesrepublik geworden. Lange galt ihm die Welt als Ursache und Ziel des Spotts, nur als Objekt seines beißenden Humors – heute haben sein Humor und sein unabweisbares Talent einen, wie er wohl auch sagen würde: positiven Inhalt, eine – zumindest – Zielvorstellung erhalten, wie das, was er einst nur verspottete, zu ändern sei.

Heinz Ludwig Arnold, Verlag Neues Leben, Klappentext, 1976

 

 

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Zum 60. Geburtstag des Herausgebers:

Bernd Heimberger: Initiator, Inspirator, Integrator
Berliner LeseZeichen, 3/2000

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