Michael Braun: Zu Franz Josef Czernins Gedicht „Die hinter Eis und Nacht und Graus“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Franz Josef Czernins Gedicht „Die hinter Eis und Nacht und Graus“ aus Franz Josef Czernin: reisen, auch winterlich

 

 

 

 

FRANZ JOSEF CZERNIN

aaaaaaaDie hinter Eis und Nacht und Graus

dunkel ortlos, hergezogen,
halbwegs himmel-, schattenreich,
da mir irrlichternd weiter vor- und
nachtanzst, ferner wild aus reihen;

jeder schimmer davon unter-,
übergang, viel sternumschweifen
hellauf lockt mich, kaum gehörig
hattest dies arglüstern in den

kreis gebogen, stets fortlaute,
-laufe, flüchtig unterwandert,
überflogen, kreuz hier, quer
umgeisternd wirbel, stimmen schauerst

gründlich, glanzwund reisst zu boden;
wirr dies wiederpaart, da mich
dagegen fehl verhallte, sprunghaft
immer vor-, nachtfahrend dich

verschreiend; flockendicht durch weh
und eis; mich grabenschwarz verweist,
schmeisst aus der runde unversehens
ganz: in finstern sind, höchstoben.

 

Die poetische Passion

des Dichters Franz Josef Czernin ist sein leidenschaftlicher Sinn für Verwandlungen. Für zentrale Autoren der Weltliteratur hat er schon akribischste Übertragungen vorgelegt, etwa für William Shakespeare. Die Formen der Verwandlung, die Czernin bevorzugt, gehen über die traditionellen Figurationen der Überschreibung, Kontrafaktur, Permutation und Transfiguration weit hinaus. Sein Begriff von „Metamorphose“ zielt auf eine elementare Verwandlung eines zugrunde liegenden Ursprungstextes. Jedes Gedicht antizipiert nach seiner Auffassung alle möglichen Gedichte durch die Variation und Permutation bestimmter Kombinationsregeln.
Dieser strenge Begriff von „Metamorphose“ liegt auch Czernins Verwandlungen des spätromantischen Winterreise-Zyklus des Dichters Wilhelm Müller zugrunde. Bereits der Titel „reisen, auch winterlich“ zerlegt die ursprüngliche Bedeutung des Titels. Was einst die Winterreise war, beinhaltet jetzt die Potenzialität unterschiedlicher Reisen, führt aber vor allem in die Landschaft der Wörter. Den Müller-Verwandlungen ist das letzte Gedicht aus der Winterreise vorangestellt, „Der Leiermann“. Dieses „Leiermann“-Gedicht, 1821/22 entstanden, spricht von einem geheimnisvollen Drehorgelspieler, der in völliger winterlicher Erstarrung und Verlassenheit sein Instrument bedient – in sinnloser Endlosschleife: „Wunderlicher Alter, / Soll ich mit dir gehn?/ Willst zu meinen Liedern / Deine Leier drehn?“
Das vorliegende Gedicht aus Czernins Verwandlungs-Zyklus „reisen, auch winterlich“ ist selbst eine Art und Weise, eine Leier zu drehen, allerdings in so artifizieller Manier, dass immer neue Bedeutungen qua Neuverknüpfung der Wörter und Wortelemente daraus entstehen. Der Text knüpft an Wilhelm Müllers „Die Täuschung“ an, eine Verszeile daraus ist dem Gedicht vorangestellt.
Das Gedicht selbst schöpft sein Material durchaus aus der spätromantischen Topik des Urtextes, dekonstruiert das Material aber vollständig, um es dann in vorsätzlich verzögerter, den melancholischen Volksliedton aushebelnder Rhythmik neu zusammenzufügen. Am Ende entwirft Czernin eine Art Weltformel moderner Poesie: „Sagt und zeigt nicht alle Poesie seit jeher dasselbe? Wenigstens eine Poesie, die Liebe, Verlassenheit, Vergänglichkeit, Sterben und Tod als ihre Gegenstände sucht? Warum aber sagt und zeigt sie dann wieder und wieder anders?“

Michael Braun, Volltext, Heft 2, 2019

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