Friedrich Christian Delius: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Hingabe“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Hingabe“ aus Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Band I: Gedichte. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Hingabe

Ich sehe mir die Bilderreihen der Wolken an,
Bis sie zerfließen und enthüllen ihre blaue Bahn.

Ich schwebte einsamlich die Welten all hinan,
Entzifferte die Sternoglyphen und die Mondeszeichen um den Mann.

Und fragte selbst mich scheu, ob oder wann
Ich einst geboren wurde und gestorben dann?

Mit einem Kleid aus Zweifel war ich angetan,
Das greises Leid geweiht für mich am Zeitrad spann.

Und jedes Bild, das ich von dieser Welt gewann,
Verlor ich doppelt, und auch das was ich ersann.

 

Ein Kleid aus Zweifel

So gut wie alle Gedichte der Else Lasker-Schüler sind Liebesgedichte oder als Liebesgedichte zu lesen. Die meisten sprechen ein Du an, viele richten sich, verschlüsselt oder nicht, an bestimmte Personen. „Hingabe“, ein Gedicht aus ihrem letzten, 1943 in Jerusalem publizierten Band Mein blaues Klavier, scheint eine Ausnahme zu sein: kein Du, und in jeder Strophe mindestens ein Ich. Und doch ist es ein dialogisches, ein fragendes Gedicht, ein Selbstgespräch mit dem Kosmos.
Wolken, Sterne, Mond, der kindliche Blick des Menschen in das Weltall hinauf. Perspektiven in die Unendlichkeit, Fragen, meditative Momente, die jeder erlebt hat und die in Tausenden von Gedichten und Liedern abgehandelt wurden. An diesen Zeilen läßt sich zeigen, was eine große Dichterin aus einer trivialen Situation zu machen versteht. Die Originalität liegt weniger in den Wörtern, Bildern und Metaphern, obwohl ihr mit „einsamlich“ und „Sternoglyphen“ starke Neuschöpfungen gelingen und „Mondeszeichen um den Mann“ mit jenem diskreten Dadaismus bestechen, der so viele Lasker-Schüler-Texte auszeichnet.
Die Originalität liegt in der Scheu, im Verzicht auf jede staunende Kumpanei mit dem Kosmos. Statt dessen die Beharrlichkeit des Blicks, die Radikalität: Sich selbst in Frage stellen, ohne Triumph, ohne Sentimentalität, „ob oder wann / Ich einst geboren wurde und gestorben dann?“ Nicht nur die Daten von Geburt und Tod werden unwichtig, sondern das Leben als Ganzes rückt in schönste, fast glückliche Fragwürdigkeit auf.
Obwohl gerade die letzten Gedichte der Lasker-Schüler den Gestus der Glaubenden, Betenden haben, ist dieses nicht religiös gefärbt – trotz des Sujets Kosmos, das für viele Menschen ohne den Faktor Gott nicht denkbar ist. Hier werden keine Fragen an höhere Mächte delegiert.
Das Schweben und „die Versenkung des Blicks in die Welten all hinan“ machen demütig, aber nicht klein. Die Höhe ist die Tiefe ist die Höhe. Das relativiert alles und hat Konsequenzen für die Schreibende, die brutal wären, wenn sie auf feste Weltbilder angewiesen wäre:

Und jedes Bild, das ich von dieser Welt gewann
Verlor ich doppelt, und auch das was ich ersann.

Da mag eine Anspielung auf das Bilderverbot der Juden verborgen sein, aber stärker ist wohl der selbstkritische Aspekt. Hier ist mehr ausgedrückt als die Gewißheit, keine Gewißheit zu haben und keine haben zu dürfen. Das einzige, was wärmt und eine gewisse Sicherheit verspricht, ist das Kleid aus Zweifel.
Dies wäre schon ein überragendes Gedicht, wenn es, sagen wir den Titel „Sternenhimmel“ oder „Der Blick ins All“ trüge. Seine Qualität wird noch gesteigert durch die Titelwahl: „Hingabe“. Man kann sein Leben hingeben, sich einer Täuschung, einer Hoffnung hingeben oder sich einem geliebten Menschen hingeben. Alle diese Konnotationen passen und reichern das Gedicht an. Ich vermute, daß Else Lasker-Schüler das Wort gewählt hat, um einen Liebesakt anzudeuten. Nicht nur wegen der „Mondeszeichen um den Mann“. Hier geht es um mehr: um die Bejahung mitten im Zweifel, um Versöhnung mit dem Chaos, um Hingabe mit Selbstbewußtsein, ohne Angst vor dem Zerbrechen der Bilder.
Solch eine Hingabe ist keine harmonische Angelegenheit – und ist nichts für harmonische Gedichte. Die fünf Doppelzeilen werden nicht von starrer Metrik gehoben, eigenwillig und rauh folgen die Worte einander. Der zehnfache Reim auf –an, zweimal sogar ziemlich „unrein“, unterstreicht den Fortgang wie den Gleichklang des Spinnens: das Zeitrad läuft weiter.
Auch Sterben ist Hingabe, im Liegen ist der Blick nach oben gerichtet. Erst beim Schreiben dieser Zeilen dachte ich an das Grab der Dichterin auf dem Ölberg in Jerusalem.

Friedrich Christian Deliusaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

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