Fritz J. Raddatz: Zu Günter Kunerts Gedicht „Konjunktiver Doppelgänger“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Kunerts Gedicht „Konjunktiver Doppelgänger“ aus Günter Kunert: Im weiteren Fortgang. –

 

 

 

 

GÜNTER KUNERT

Konjunktiver Doppelgänger
(für Peter Huchel)

Vom Regen gewaschen
von Krähen geweißt
von Eidechsen besucht
so stünde ich da.

Meine unerkennbaren Schultern
trügen den Tag und die Nacht:
das wäre mein Glaube.
An meiner Oberfläche rieben sich
die Winde wund. Von mir aus
ginge ein Glitzern manchmal
und die geringfügigen Zangen
der Insekten schrieben auf mir
ihre Memoiren.

Innerlich und äußerlich
völlig gleich
insofern kein Zeitgenosse der Zeit
die an mir erst ihr Dasein erkennt
an der Verwitterung meines Gesichts
das mich zur Gänze überzieht.

Ich wäre die Wahrheit
aber erstarrt
vor dem eigenen Anblick.

 

Fast ein Kassiber

Ein Spezifikum der Lyrik in der DDR ist, daß sie ihr eigenes Kommunikationssystem bildet. Die Lyrik ist im Lande der selbst die Strände abgellenden Radiopropaganda ein um so leiseres, aber eindringlicheres Verständigungsmittel geworden. Antworten, Variationen, Widmungen, Paraphrasen oder eingebaute Zitate bilden ein engmaschiges Netz, in dem sich keineswegs einzelne einspinnen, sondern in dem Deutung und Bedeutung ständig hin- und hergeschoben werden. Biermann wendet sich an Kunze. Volker Braun zitiert Sarah Kirsch. Manfred Jendryschik oder Heinz Czechowski paraphrasieren Erich Arendt: ein so hochkompliziertes wie hochpolitisches, gelegentlich Kassiber-ähnliches Hin- und Herweben.
Günter Kunerts „Konjunktiver Doppelgänger“ ist ein Beispiel. Das Gedicht ist eine solche Antwort an Peter Huchel. Gemeint ist offensichtlich dessen Gedicht „Psalm“, mit dem er 1963 seinen Band Chausseen, Chausseen abschloß. Das Gedicht begann mit der Negativ-Verheißung: „Daß aus dem Samen des Menschen / Kein Mensch / Und aus dem Samen des Ölbaums / Kein Ölbaum / werde“, und es schloß mit Verfinsterung:

Und nicht erforscht wird werden
Ein Geschlecht,
Eifrig bemüht,
Sich zu vernichten.

Doppelgänger Kunert, dessen elf Jahre später zusammengestellte Gedichtsammlung Im weiteren Fortgang keineswegs optimistische Züge aufweist, wehrt sich in seinem Gedicht gleichwohl gegen Huchels „Resignationsangebot“; es ist die Abwehr von Verführung, das Atemholen angesichts eines drohenden Erstickungsanfalls. Der Konjunktiv ist nicht etwa lediglich grammatikalische Form, sondern existentielle Gegenposition: würde ich, Günter Kunert, mich einlassen auf Huchels Weltgefühl des Halms im peitschenden Schnee, dann wäre ich abgestorben, „Vom Regen gewaschen / von Krähen geweißt“, ein Stück nature morte. Denn diese Imago beschwört Huchel herauf, negiert Entwicklung, Geschichte. Kunert ruft: gleichsam „und führe mich nicht in Versuchung“: er will den eigenen Geschichtspessimismus nicht noch potenzieren lassen.
Sein dem exilierten Kollegen trotzig gewidmetes Gedicht ist damit ein Akt der Selbstbestätigung, ja Selbstbehauptung. Der Indikativ würde das Ende seiner dichterischen Existenz bedeuten, würde Schultern unerkennbar machen und ihn ent-wesentlichen zu einem Etwas, an dem nur die Winde sich noch wund rieben. Auf Huchels Drohung der Resignation, sein Locken ins Schwarze, reagiert Kunert nicht etwa mit Wachs in den Ohren – um dem Sog zu widerstehen, bindet er sich an keinen Mast: sondern er betont sein Ich. Mit nahezu pathetischer Gebärde. Das bis auf eine Zeile ganz zeilengleiche Gedicht wehrt nämlich den frappantesten, düstersten, verkrustetsten Satz Huchels ab. Bei dem heißt es:

Die Ode wird Geschichte.
Termiten schreiben sie
Mit ihren Zangen
In den Sand.

Kunerts Antwort darauf steht exakt in der Mitte seines Gedichts, ist Mittelachse und Schwebebalken zugleich. Seine Abwehr der geringfügigen Insektenzangen ist Menschwürde – aus Angst. Denn der Gestus der Angst trägt das ganze Gedicht. Nicht Angst um sich, sondern: vor sich. Das ist die Doppelbedeutung des Konjunktivs, ein großes „Vielleicht“, Wenn der um ein Vierteljahrhundert Ältere doch recht hätte? Es ist diese Entgeisterung in des Wortes doppelter Bedeutung, die die drei Schlußzeilen prägt, das Abwägen des Wahren gegen das Lebbare. Für Huchel handelt es sich nur noch um ein Geschlecht, eifrig bemüht, sich zu vernichten. Für Kunert ist das ein Beschwörungsritual gleich dem Blick des Basilisken. Er will den Kampf nicht aufgeben, sich nicht verlieren. Noch nicht. Der Titel des Bandes heißt Im weiteren Fortgang, aber das Titelgedicht zeigt, wie sehr gebrochen er dies Wort begreift. Es kann ja heißen Fortschritt wie Abgang.

Fritz J. Raddatzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiter Band, Insel Verlag, 1977

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