Gabriele Wohmann: Zu Bertolt Brechts Gedicht „Der Radwechsel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Der Radwechsel“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –

 

 

 

 

BERTOLT BRECHT

Der Radwechsel

Ich sitze am Straßenrand
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

 

Der lange Tag im kurzen Leben

Mein Blick fällt auf einen unscheinbaren Vorgang. Vom unerheblichen Zwischenfall aufgehalten, läßt der Berichtende an seiner allumfassenden Lustlosigkeit keinen Zweifel. Die Panne behebt der Fahrer, dessen Arbeit er nicht schildert, weil sie ihn nicht interessiert. Wartend am Straßenrand prüft er seine Empfindung. Unumwunden gibt er die bittere Information: über die ungeliebte Herkunft, das genauso ungeliebte Ziel. Hat er nur einen schlechten Tag? Auf den ersten Blick, vorerst nur bis zum Ende der vierten Zeile, scheint die Lage aussichtslos.
Beim Weiterlesen erfahre ich allerdings, daß ich es mit einem gar nicht apathischen Passagier zu tun habe. Ungeduldig ist er. Obwohl ihn die Weiterfahrt nicht reizt? Hier spricht kein fröhlicher Tourist, den der erzwungene Aufenthalt nur deshalb stört, weil er ihm Zeit für sein neugieriges Vergnügen an der nächsten Station stiehlt. Muntere Leute würden ihn einen Spielverderber nennen. Sag ja zu deiner Reise, verdirb uns nicht die Laune, wir möchten bleiben, wie wir sind, aus Gedankenlosigkeit reiselustig.
Ich sehe die Straße und den defekten Wagen, den Fahrer mit dem Rad, den Wartenden vor mir, die ganze Kulisse, das ziemlich öde Bild. Brechts Geheimnis: Wortkarg liefert er zu der Diagnose einer Gemütsverfassung das Portrait des Reisenden in der Landschaft mit. „Ich bin nicht gern…“: Das klingt viel unwiderruflicher traurig als, ohne die ernste Zurückhaltung, etwa: „Ich hasse, ich verabscheue…“ Wut könnte vorübergehend sein und wäre therapiefähig. Brechts Feststellung kündet von Unheilbarkeit, der Seinsbefund ist endgültig. Erschiene da nicht dieser Lichtblick, paradoxerweise durch das unbequeme, unbekömmliche Gefühl der Ungeduld. Etwas muß es geben, das der nostalgische, noch vorwärtsstrebende Reisende doch erwartet.
Woher diese Unruhe? Das Gedicht gehört in den Zusammenhang der „Buckower Elegien“ und könnte vermutlich autobiographisch, politisch gedeutet werden. Ich nehme die Ungeduld lieber aus allem möglichen Bescheidwissen (oder Mutmaßen, Unterstellen) heraus und erkenne in ihr eine Lebensnervosität. Die kleine Reise von da nach dort steht für die Strecke von allerdings unbekanntem Maß, die wir Menschen von unserem Anfang bis zu unserem Ende zurücklegen.
Der kurze Aufenthalt ist dem Ungeduldigen zu lang. Wie leichtsinnig wünschen wir sehr oft – denn Lebenszeit läuft ab –, wir hätten, im kurzen Leben, den langen Tag schon hinter uns. Oder tröstet nicht gerade solches Weitersehnen? Das Gedicht verweist auf ein Verlangen, das dem Menschen einwohnt und für das es keinen irdischen Platz gibt. Man muß nicht gläubig sein – obgleich das angenehmer wäre –, um sich seiner Unerlöstheit bewußt zu werden und die innere Ungeduld als Todeshoffnung zu empfinden. Im Verschweigen ewigkeitssüchtiger Gefühle, im Weglassen aller Hinweise auf die Parabelhaftigkeit des Vorgangs Radwechsel offenbart sich Brechts Kunstinstinkt, und indem er nichts erklärt, kommt es zum bewundernswürdigen Gelingen dieser paar Zeilen.
Alles, was wir Menschen zu Lebzeiten ganz und gar nicht verstehen können, es steckt in der Frage, mit der uns der geschickte Brecht auch noch nach der letzten Zeile nicht eigentlich entläßt:

Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?

Und für die, denen der Wegweiser fehlt: Weil Brecht keine Antwort gibt, verliert das Gedicht seine Bodenhaftung. Nur weil die Frage offenbleibt, läßt es die Erdschwere hinter sich.

Gabriele Wohmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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