Gabriele Wohmann: Zu Reiner Kunzes Gedicht „Bittgedanke, dir zu Füßen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Reiner Kunzes Gedicht „Bittgedanke, dir zu Füßen“ aus Reiner Kunze: Eines jeden einziges Leben. –

 

 

 

 

REINER KUNZE

Bittgedanke,
dir zu Füßen

Stirb früher als ich, um ein weniges
früher

Damit nicht du
den weg zum haus
allein zurückgehn mußt

 

Frommer Wunsch

Ehe ich die Zeitungsseite mit den Todesanzeigen umschlage, prüfe ich, ob einem der Verfasser die pure Annoncierung seines Toten nicht genügt hat. Bisher habe ich noch jedesmal weltliche Trostversuche untauglich gefunden und – um die Ewigkeit selber – weit hinterher allem, womit Bibelzitate Zuversicht spenden: den Lebenden für die Gestorbenen. Bis ich neulich diesen Fund machte, rechts oben in der Anzeige, Reiner Kunzes „Bittgedanke“. Hier ist eine Liebesgeschichte verdichtet und dem Tod konfrontiert. Ich suchte nach der längst weggelegten Zeitungsseite und schnitt die Anzeige aus: ein kurzes Gedicht mit langer Wirkung.
Wie in einem Film macht eine Szene als Standbild halt. Ich sehe jemanden, der, von einem Begräbnis zurückkehrend, die Witwe beobachtet. Die Aura ihres Verwaistseins erleuchtet ihn: So soll seine Frau nicht eines Tages „den weg zum haus / allein zurückgehn“ müssen. Beide sind dem Tristan-und-Isolde-Stadium entwachsen, ihre Zusammengehörigkeit ist erlaubt, ihre Liebe ist fortgeschritten, der Gedanke an die Vergänglichkeit hat sich eingeschlichen. Sie haben den Liebeszustand der Fürsorglichkeit erreicht. Der Tod, ihrer oder seiner, wird nun immer mitbedacht. Keiner von beiden überschätzt sich, wenn er seinen Tod für die schmerzlichste Zumutung an den andern hält. Es geht nicht um ein Endlosband der Höhepunkte, sondern um das Existenzsystem
„Stirb früher“: Was für eine, auf den ersten Blick, tabuverletzende Bitte. Ungeheuerliche Liebesumsicht, denke ich aber sofort, denn hier will jemand den geliebten Menschen schützen. Traditionell verkünden wir und erkennen auch gar nicht den Denkfehler: Ich will vor dir sterben! Kunze hat genauer nachgedacht, und deshalb ändert er die pathetische Reihenfolge gänzlich unpathetisch. Denn „laß mich früher sterben“, die herkömmliche Bitte, offenbart den Wunsch, sich vor Seelenqual und, alltäglich betrachtet, Unbequemlichkeit zu drücken.
Kunze hebt den Weg nach Haus aus dem Leidsyndrom, das anschaulicher nicht wiederzugeben wäre. Ich betrachte das ältere Paar. Ihr Zusammenleben ist Glücksfall und Strapaze zugleich. Sie müssen leider Angst umeinander haben. Iß genug! Zieh dich warm an! Hast du auch deine Medikamente nicht vergessen? Paß an der Kreuzung auf! Und geh nicht zu spät ins Bett! Klingt nicht alles ständig nach: Lebe länger? Und es ist auch so gemeint, heißt aber nicht: Überlebe mich. Gleichwohl ist „stirb früher“ eine völlig neue Epiphanie. Konzentriertes, vorausempfindendes Mitleid.
Wer tot ist, macht Erfahrungen, die wir nicht kennen; ich will unterstellen: Er ist erlöst. (Diese Hoffnung läßt mir das Gedicht.) Wer weiterlebt, ist das ganz und gar nicht. Hinterbliebene erklären, die erste Zeit nach dem Tod des Partners sei weniger schlimm gewesen als die Ruhe nach den Scherereien mit Formalitäten. Ich kann mir das sowenig vorstellen wie Kunze, der mich hier lehrt, am Beispiel Tod alles Gewohnte umgekehrt zu denken. Tat mir denn nicht, bevor ich diesen wahrhaft frommen Wunsch kannte, doch am meisten der Tote leid? Diesen Kaffee jetzt kann er nicht mehr trinken. Er kann nicht mehr mit nach X fahren, er verpaßt diese Nachricht, etwas, worauf er sich gefreut hat, entgeht ihm, dieser Artikel hätte ihn interessiert. Lauter lebensanhängliche Gedanken aus lauter Todesangst. Nun setzt aber der mit der Liebesbitte voraus, der Tod sei weniger zu fürchten als das Leben. „Stirb früher“, empfiehlt Kunze so sanft, als gehe es um den harmlosesten aller Zusprüche. Schlaf vor mir ein, ich warte so lang, beruhigt der Mann seine Frau, die Angst hat vor seinem Schnarchen.

Gabriele Wohmannaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Sechzehnter Band, Insel Verlag, 1993

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