Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Tod des Dichters“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Tod des Dichters“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Der Tod des Dichters

Er lag. Sein aufgestelltes Antlitz war
bleich und verweigernd in den steilen Kissen,
seitdem die Welt und dieses von-ihr-Wissen,
von seinen Sinnen abgerissen,
zurückfiel an das teilnahmslose Jahr.

Die, so ihn leben sahen, wußten nicht,
wie sehr er Eines war mit allem diesen;
denn Dieses: diese Tiefen, diese Wiesen
und diese Wasser waren sein Gesicht.

O sein Gesicht war diese ganze Weite,
die jetzt noch zu ihm will und um ihn wirbt;
und seine Maske, die nun bang verstirbt,
ist zart und offen wie die Innenseite
von einer Frucht, die an der Luft verdirbt.

1906

 

Kommentar

Wenige Monate nach dem Tod seines Vaters Josef, zu dessen Beerdigung Rilke im März 1906 nach Prag gereist war, schrieb er dieses Gedicht über die Totenmaske des ukrainischen Dichters und Malers Taras Chevchenko, dessen Büste heute am Boulevard Saint-Germain, Hausnummer 186, in Paris steht. Rilke könnte die Maske des 1861 Verstorbenen in Kiew oder Kaniw im Sommer 1900 im Museum oder auf einer Abbildung gesehen haben. Dessen populären Gedichtband Kobzar hatte er sich in Petersburg besorgt.
Das Bild der „Maske, die nun bang verstirbt“, macht vor allem eines klar: die innere Verwandtschaft des Dichters mit den Naturdingen, mit allem, was lebt; eine Verwandtschaft, die über den Tod hinausgeht und das Einverständnis mit dem Vergehen einschließt. Ausgerechnet im Tod kehrt sich die innere Frucht nach außen und offenbart jetzt ihr wahres „Gesicht“, das wohl einen tiefen Kern, aber nach außen keine schützende Schale mehr hat.
Das Gedicht präludiert die spätere Orpheus-Dichtung, die von der (romantisch idealisierten) Naturinnigkeit des Sängers/Dichters handelt, der die Verbindung zum Ursprung – in der orphischen Kosmogonie sind es Wasser und Erde – geradezu verkörpert. Daher sind (im assonantischen Einklang) „diese Tiefen, diese Wiesen! und diese Wasser […] sein Gesicht“.
Dass Rilke weit davon entfernt war, ein Volksdichter wie Chevchenko zu sein, wird kaum jemand bestreiten. Seine Verehrung nicht nur der ukrainischen, sondern vor allem der russischen Volkspoesie, namentlich des Bauerndichters Spiridon Drozzin, den er im russischen Nisowka besuchte, war nicht zuletzt der Nähe zur Lebensreform geschuldet, die ihn kurze Zeit später in Worpswede/Westerwede vorübergehend ein Landleben führen ließ.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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