Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Tod“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Tod“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Der Tod

Da steht der Tod, ein bläulicher Absud
in einer Tasse ohne Untersatz.
Ein wunderlicher Platz für eine Tasse:
steht auf dem Rücken einer Hand. Ganz gut
erkennt man noch an dem glasierten Schwung
den Bruch des Henkels. Staubig. Und: „Hoff-nung“
an ihrem Bug in aufgebrauchter Schrift.

Das hat der Trinker, den der Trank betrifft,
bei einem fernen Frühstück ab-gelesen.

Was sind denn das für Wesen,
die man zuletzt wegschrecken muß mit Gift?

Blieben sie sonst? Sind sie denn hier vernarrt
in dieses Essen voller Hindernis?
Man muß ihnen die harte Gegenwart
ausnehmen, wie ein künstliches Gebiß.
Dann lallen sie. Gelall, Gelall ….
……………………………………………..

O Sternenfall,
von einer Brücke einmal eingesehn –:
Dich nicht vergessen. Stehn!

1915

 

Kommentar

Für Rilke, den Perfektionisten der Formsymmetrie, ein ungewöhnliches Gedicht. Spürbar ist, wie er angesichts des Gegenstands buchstäblich „um Form ringt“, während sie ihm mehr und mehr entgleitet und schließlich im rhythmischen Stottern, dann im Abbruch endet, dem ein erratischer Nachhall folgt. Nur der Reim hält durch, wiewohl unpassend, nicht profan genug für den angedeuteten Balladenstil, der ihn dann auch demonstrativ entbehrt, wo die dritte Zeile statt auf „Platz“ reimlos auf „Tasse“ endet (was sich durch ein wenig Umstellung leicht hätte ändern lassen).
Er schrieb das „merkwürdige Gedicht“1 im November 1915, nachdem er Tolstois Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch gelesen hatte, in welcher die Gedanken der sterbenden Titelfigur um den möglichen Kausalzusammenhang zwischen falscher Lebensführung und letalem Leid kreisen. Die gesellschaftlichen Aspekte stehen dabei im Vordergrund, eine Dimension, die wir in diesem Gedicht nicht vorfinden, so wenig motivische Parallelen zwischen beiden Texten auszumachen sind. Allerdings führt eine anspielungsreiche Brücke von Tolstoi zu Rilkes Beschreibung der grässlichen zehn Sterbewochen des Gutsbesitzers Christoph Detlev Brigge im Malte Laurids Brigge.2
Geradezu surrealistisch herbeikonstruiert wirkt das Bild der Tasse auf dein Handrücken, die obendrein einen nicht näher bestimmten Absud enthält. Da er zu einem „Trinker“ gehört, könnte es sich um Absinth handeln, der allerdings eher im Glas gereicht wird und zumeist auch minzgrün statt „bläulich“ ist. Heraufbeschworen wird ein Milieu, wie es Edouard Manet, Edgar Degas oder Vincent van Gogh lange vor der Jahrhundertwende dargestellt hatten und Rilke in einer weiteren Sterbeszene im Malte beschrieb.3 Zur surrealen Bildmotivik gehört auch die Aufschrift „Glaube, Liebe Hoffnung“, wie sie in Erinnerung an den ersten Korintherbrief (1 Kor 13, 13) noch heute Tassen und Teller ziert. Rilkes Stillleben arrangiert die glasierte Tasse so, dass die Seite mit dem abgebrochenen Henkel die verblasste Rest-Aufschrift „Hoff-nung“ zeigt, wobei das Wort über die Bruchstelle gezogen ist, wie der Bindestrich andeutet – eine bewusste Montage.
Auch wenn sich die Bildkomposition (wie in einem Gemälde jener Zeit) nicht vollends erschließt und der „Trinker“ nach einem (alkoholischen) Frühstück gewissermaßen „durch Tod abwesend“ ist, kommt doch das Resümee im zweiten Teil zwar nicht ohne weitere Bildelemente aus, liefert uns aber immerhin ein Stück Klartext. Denn nunmehr wird an eine Ungezieferplage erinnert, der man mit Gift ein Ende macht, weil sie durch das reichliche Futterangebot überhand nimmt. Die Pointe liegt hier sogleich auf der Frage, weshalb die Verführung zur Falle wird. Die Analogie von Menschen- und Tierwelt schließt ein, dass die gleiche Gesellschaft, die sich gewisse „Wesen“ anfüttert, auch diejenige ist, die diese mit ihrem Futter vergiftet und ihnen dabei hilft, sich die „harte Gegenwart“ auszutreiben.
Das Bild herausgenommener Gebisse und lallender Münder erinnert an expressionistische Invalidendarstellungen und damit an die Folgen des Kriegs, den Rilke damals von München aus kurz vor seiner Einberufung in den österreichischen Militärdienst erlebte. Max Beckmann hat entsprechende Motive dargestellt, etwa in seiner Lithographie „Der Nachhauseweg“ aus der Mappe Die Hölle von 1919.
Durchaus wahrscheinlich auch, dass Rilkes Bild von jenen „Kriegskrüppeln“ inspiriert ist, die 1915 in den deutschen Städten bereits zum Straßenbild gehörten. Joseph Roth hat sie in einem seiner Feuilleton-Beiträge unter dem Titel „Lebende Kriegsdenkmäler“ am 31. August 1920 in der Neuen Berliner Zeitung beschrieben, wo es in einem Abschnitt über die sog. „Kieferbeschädigten“ im Garnisonlazarett heißt:

Hier siehst du die Fratze der Großen Zeit. So sah der Krieg aus: Das Kinn ist weggeschossen und Nase und Oberlippe hängen frei in der Luft. Oder nur ein halbes Kinn fehlt. […] Oder irgendeinem fehlt der Mund, die Lippen fehlen, die Lippen, mit denen er küssen, flüstern konnte.4

Wenn Invaliden mit schweren Verkrüppelungen die Zivilbevölkerung an die Schrecken des Krieges erinnern, sind sie meist unwillkommen. Ein verbreiteter Zynismus sorgt dafür, dass ihr oft exzessiver Alkoholismus als probater „Entsorgungshelfer“ betrachtet wird. Das Gedicht scheint diesen Aspekt anzusprechen, wenn es fragt, ob man nicht besser solche „Wesen […] wegschrecken muß mit Gift“ bzw. ihre „harte Gegenwart | ausnehmen, wie ein künstliches Gebiß“, damit ihre Klage und Anklage in „Gelall“ untergeht.
Der erratische Schluß ist ein Privatissimum für Eingeweihte und ästhetisch schwer zu rechtfertigen. Hier erinnert der Autor sich und andere an einen Meteoriten, den er von einer Brücke im November 1912 in Toledo sah, ein Ereignis, das er der Schlossherrin von Duino, der Fürstin Marie von Thurn und Taxis, berichtet hatte und auch in seiner Spanischen Trilogie verarbeitete. Offenbar sah er im Verglühen des Himmelskörpers ein kosmisches Geschehen, dessen Gesetzmäßigkeit ihm die Schrecken des Todes nahm.
So ist das Gedicht alles in allem eines, das den Tod, insbesondere die Angst vor den Schrecken des Todes im Kontext des Krieges thematisiert und offenbar Trost in jenem kosmischen Bild findet, das dem gesetzmäßigen Fallen ein „Stehn!“ entgegensetzt. In eben dieser Eigenschaft erinnert es an das Herbstgedicht vom 11. September 1902, das schließt:

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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