Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Sonett“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Sonett“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Sonett

O das Neue, Freunde, ist nicht dies,
daß Maschinen uns die Hand verdrängen.
Laßt euch nicht beirrn von Übergängen,
bald wird schweigen, wer das „Neue“ pries.

Denn das Ganze ist unendlich neuer,
als ein Kabel und ein hohes Haus.
Seht, die Sterne sind ein altes Feuer,
und die neuern Feuer löschen aus.

Glaubt nicht, daß die längsten Transmissionen
schon des Künftigen Räder drehn.
Denn Aeonen reden mit Aeonen.

Mehr, als wir erfuhren, ist geschehn.
Und die Zukunft faßt das Allerfernste
rein in eins mit unserm innern Ernste.

1922

 

Kommentar

Das in der Ausgabe des Insel-Verlags von 1966 unter „Entwürfe“ abgedruckte Gedicht ist formvollendet bis auf die Schlusszeile, die traditionell ja die Hauptlast der Synthese trägt, hier aber in einem stummen Begriff „steckenbleibt“. Der Autor hielt es zur weiteren Bearbeitung zurück, wenn es nicht gar als Werkstattrelikt oder Ausschuss endgültig in der untersten Ablage landete.
Auch die damalige Überproduktion mochte dafür verantwortlich gewesen sein, entstand es doch im Umkreis der 55 Orpheus-Sonette und der Elegien, die allein im Februar 1922 im schweizerischen Muzot verfasst beziehungsweise vollendet wurden. So wurde es nicht einmal für wert befunden, eine andere Überschrift als den schmucklosen Genretitel „Sonett“ zu tragen.
Nicht auszuschließen ist freilich auch, dass es Rilke zu kopflastig, zu programmatisch, mindestens aber zu heterogen erschien. Ob wir es tatsächlich mit „Gedankenlyrik“ zu tun haben, deren Inhalt sich eins zu eins in Klartext übersetzen lässt, darüber lässt sich streiten. Denn zum einen ist die Denkfigur, dass „das Ganze“ (also der Kosmos) mehr „Neues“ bereithält als alles neue Menschenwerk und Wissen, in der Pionierepoche der Naturwissenschaft kein diskursiver Gedanke; und zum anderen ist die Zwischenbilanz „Aeonen reden mit Aeonen“ eine mythisierende Prägung. Indem sie ins Kosmologische ausgreift, marginalisiert sie alles Menschenmaß zur quantité négligeable und die humane „Weltgeschichte“ zur Eintagsfliege.
Wenn es sich auch um zeittypische Aufklärungs- und Technokratiekritik handelt, so erzeugt doch die Hypostasierung des Kosmos als „das Ganze“ und „das Neue“ zusammen mit jenem numinosen „Mehr, als wir erfuhren, ist geschehn“ ein mythisierendes Raunen, wobei die beiden Schlusszeilen in ihrer Vagheit ein noch breiteres Auslegungsfenster eröffnen.
Wenn anzunehmen ist, dass das Gedicht für sich beansprucht, aus jenem „innern Ernste“ heraus geschrieben zu sein, den es als visionär auffasst, denkt man an Novalis’ „ernste Gemüther, denen die Natur das Antlitz einer Gottheit war“,1 aus den „Lehrlingen zu Saïs“. Das „Allerfernste“ der Zukunft ist dann das Raunen der „Aeonen“, wie es dem „innern Ernste“ des Dichters vernehmlich ist, dessen Intuition nach veritas – so das lateinische Äquivalent im Grimm’schen Wörterbuch unter „Ernst“2 –, nach Wahrheit also, strebt.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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