Gerhard Oberlin: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, …“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, …“. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke,
ein Sturm oder ein großer Gesang.

1899

 

Kommentar

Wer fragt? Im Stunden-Buch ist es ein russisch-orthodoxer Mönch, der spricht, aber wenn er dies schon „jahrtausendelang“ tut, kann es nur „der Mensch“ als solcher sein oder sämtliche Arten der Gattung homo, vertreten von der Spezies, die sprechen kann.
Es sind Fragen, die die Maßlosigkeit der biologischen Art oder Gattung belegen, aber genau in dieser Eigenschaft auch deren Tragik. Tatsächlich spricht aus der Vorstellung, ein „großer Gesang“ zu sein, die hohe Meinung der Spezies über sich selbst und damit auch deren Illusionismus.
Keine Verstiegenheit liegt dagegen in der Feststellung, um „Gott“ zu kreisen wie Vögel um einen „uralten Turm“, denn das entspricht wiederum den Tatsachen. Menschen vieler Kulturen taten es, manche Menschen tun nichts anderes als eben dieser fiktive Ikonenmaler des Stunden-Buchs, der seine Gebete alle 24 Stunden im Turnus analog der Erdumdrehung (und damit dem Sonnenkreis) wiederholt.
Ob man da von Gott, dem Heiligen schlechthin oder dem Numinosen spricht, macht wohl keinen Unterschied. Rilke würde wie Novalis, wie Schleiermacher jede Festlegung abgelehnt und unter einem „Absoluten“ das kosmische Ganze mit seinen unendlichen Prozessen des Werdens und Vergehens verstanden haben.
Freilich: Das Kreisen um „Gott“ enthüllt auch die Vergeblichkeit dieser Handlung, der man allenfalls einen rituellen Sinn zubilligen kann, wenn es nicht gar eine sinnlose Leerlaufautomatik ist, die sie treibt. Geschieht es aber „jahrtausendelang“, wird der Wahn offensichtlich, der in anthropomorphen Gottesbildern ebenso seine Brisanz erweist wie in den animistischen und totemistischen Kulten, die ihnen kulturgeschichtlich vorausgehen. Im Übrigen macht die Frage des Beters nach seiner jahrtausendealten Identität diese nach so langer Zeit sowohl überflüssig wie absurd.
Die Sache mit den „wachsenden Ringen“ passt natürlich ins Bild des Kreisens und, sofern Jahresringe gemeint sind, zum Zyklus der Jahreszeiten, der ein astronomischer ist. Hier ist ein Alterungs- und Reifungsvorgang assoziiert, der ohne Zerfall nicht zu denken ist und der in der Nachbarschaft der kosmischen Wiederholung eine gewisse Gesetzlichkeit und damit ein sinnhaftes Tun beansprucht.
Auch der hüpfende Takt suggeriert solche Gesetzlichkeit des alternierenden Fortschreitens. Wem er zu verspielt erscheint, um solchen Rückblick auf die Jahrtausende des Betens zu rhythmisieren, den muss man an die wiegende Körpersprache orthodox-russischer oder -jüdischer Gläubigen erinnern.
Am Ende wird das Gedicht zu einer vernichtenden Bilanz der Kultur- und Geistesgeschichte. Die Spezies Mensch oder gar die Gattung homo als ganze haben weder Ort noch Identität in diesem Kosmos gefunden. Ihr Zentralgestirn ist in Wirklichkeit ein Fantasiegebilde. Um einem bloß gedachten Mittelpunkt ist kein Kreis zu schlagen und damit auch das Kreisen fiktiv, jedenfalls nicht als gezirkelte Linie möglich.
Wenn wir beim Kreis an jenes vitruvianisches Menschenbild denken, das uns Leonardo da Vinci am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts als kleine Zeichnung hinterlassen hat, erweist sich Rilkes Stilisierung des Beters als längst vorweggenommen. Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass der Nabel der Welt mit dem des Menschen identisch sei und dieser den Erdkreis ausfülle wie die Luft die Atmosphäre um den Globus, so lieferte ihn bereits die italienische Spätrenaissance.
Rilkes Mönch indes ist aus dieser Stilisierung ausgetreten, stellt zumindest in Frage, wer er sei, wobei die Alternative „Falke“, „Sturm“ oder „großer Gesang“ nur eine sinnvolle Antwort übrig lässt: „ein großer Gesang“. Wenn wir uns diesen dann allerdings beschwingt vorstellen wie eben dieses Gedicht in Daktylen, kann die Antwort nur lauten: der Dichter selbst.

Gerhard Oberlin, aus Gerhard Oberlin: Rilke verstehen. Text + Deutung, Königshausen & Neumann, 2022

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