Gerhard Schulz: Zu Wulf Kirstens Gedicht „Gottfried Silbermann“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „Gottfried Silbermann“ aus Wulf Kirsten: die erde bei Meißen. –

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

Gottfried Silbermann

hof- und landorgelbauer im generalbaßzeitalter,
meißnischer daedalo.
geboren zu Kleinbobritzsch, erdnah und himmelweit,
zu füßen Frauensteins als wäldner.
kein bild, kein grab blieb nach.
ein menschenalter stur und still
am flußlauf der Bobritzsch, der Mulde
orgeln gepflanzt.
Sächsisch-Sibirien verakkordiert.
der rauhen köhlerlandschaft
blies er seinen atem ein.
sorgsam gesetzt
jeder registerknopf und jede pulpete.
zinnblätter ausgehämmert.
den baß gekröpft und akkurat gelötet.
mensuren berechnet, windfragen geklärt,
nicht gewohnt, zu sparen
das seinige und seinen fleiß.
mit haarzirkel, zinnschere und fausthobel,
mit schrägmaß, stimmdistel und windprobe hantiert
werk- und wundertätig an werken für die dauer.
nie stand die arbeit still.
sich keiner mühe überhoben,
die letzte silberne posaune angeblasen,
gestimmt und intoniert.
gestorben an bleigicht, erdnah und himmelweit.
ein meister aus Sachsen, still und stur.
vollkommner Silbermann,
kein bild, kein grab blieb nach.
eine orgellandschaft gestiftet.

 

Sächsischer Himmelsflug

Nicht Poesie war es, was mich zuerst zu diesen Versen hinzog, sondern Erinnerung. Ich habe jahrelang in einer Stadt gelebt, der Gottfried Silbermann eine seiner reichsten, schönsten Orgeln gebaut hat, und die „rauhe köhlerlandschaft“ am Fuße des Erzgebirges bis hinauf nach Frauenstein mit seiner alten Burgruine ist mir gut vertraut. Viel von der Musik des „generalbaßzeitalters“ habe ich auf der Orgel des Freiberger Doms gehört, gespielt „zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüths“, wie Bach es selbst verlangt hat für die auf dem Generalbaß als dem „vollkommensten Fundament der Musik“ errichteten Klänge. Gottfried Silbermann wurde zwei Jahre vor Bach geboren und starb drei Jahre nach ihm.
Zusammen mit seinem Bruder Andreas und seinem Neffen Johann Andreas gilt er als wichtigstes Mitglied der Familie: die erzgebirgischen Silbermanns verkörpern die hohe Schule des Orgelbaus im achtzehnten Jahrhundert. „Sächsisch-Sibirien verakkordiert“, das haben sie gewiß, aber auch weit über dieses Sachsen hinaus gewirkt. Zu ihren Haupt- und Meisterwerken in Freiberg und Dresden gesellen sich mächtige Orgeln im Straßburger Münster, in Basel oder der Abtei St. Blasien. Kraft und Gravität hat man ihren Arbeiten bescheinigt, zugleich die abgeklärte Reife und die Weichheit des Orgelklangs.
Für gefühlvolle Rückschau auf eigene Erinnerungen ist Kirstens Gedicht allerdings nicht das rechte Instrument. Dazu gibt es sich von Anfang an zu spröde, ja rauh wie die Landschaft selbst, von der es spricht. Von allen Wörtern, die ein lyrischer Vers beherbergen kann, scheint „Kleinbobritzsch“ das störrischste, untauglichste. Aber auch die Wörter aus der Technik des Orgelbaus stehen solcher scheinbaren Poesielosigkeit nicht nach. Pulpete, Mensuren, Haarzirkel, Zinnschere, Fausthobel, Schrägmaß, Stimmdistel, die Windprobe und die Windfragen, deren Klärung erst den guten Klang möglich machen – das alles ist Wissensstoff, nicht leicht zu eruieren und vorstellbar zu machen, wenn man sich nicht zufällig im Orgelbau auskennt.
Daß der Autor Bescheid weiß, zeigen die Verben, die von der Anwendung dieser Dinge sprechen, also das Hämmern, Kröpfen, Löten und Hantieren, das in der Werkstatt dieses Gedichts vor sich geht. Mögen aber diese Wörter im einzelnen schwierig sein – in ihrer Gesamtheit und Kompaktheit produzieren sie eine eigentümliche Musik. Abgegriffenem, abgenutztem Ausdruck, diesem Erbfeind aller guten Literatur, wird hier auf eine höchst sachliche Weise aus dem Wege gegangen, indem von nichts als konkreter Arbeit in einer genau erfaßten vergangenen Zeit und einem ebenso genau bestimmten geographischen Raum gesprochen wird.
Der eigentliche Reiz und letztlich wohl der Gedanke dieser Verse liegt in der Tat darin, daß aus dem Produkt der Arbeit, aus dem gehämmerten und geformten Metall Musik entsteht. „Erdnah und himmelweit“ ist die bündige Formel am Anfang und Ende des Gedichts. Die eine Sphäre ist faßbar und beschreibbar, die andere aber liegt weit entfernt von solcher Konkretheit, jenseits von Raum und Zeit im Freien und Unendlichen. Es bezeichnet den ganzen fruchtbaren Widerspruch der geist-leiblichen Existenz des Menschen, daß er nur in diese andere Sphäre gelangen kann, wenn er nicht den Boden unter den Füßen verliert. Dädalus war in griechischer Sage der Baumeister und Erfinder, der seinem Sohne Ikarus die Flügel baute, mit denen dieser dann zu hoch hinaus wollte.
Von Enge und Weite, von menschlicher Doppelexistenz – „erdnah und himmelweit“ – und von dem Medium Kunst zu Verständnis und Vollzug dieser Doppelheit spricht also dieses Gedicht. Am Ende steht neben dem Tod an „bleigicht“, der Gliederlähmung durch die stete Vergiftung mit dem Metall, die „letzte silberne posaune“, die, gut gestimmt und intoniert, zur Erhebung aufruft.
Kirsten hat seine Heimat, die erde bei Meißen – so heißt der Gedichtband, für den er 1987 den Peter-Huchel-Preis erhielt –, in Verse eingeführt, aber er ist gewiß kein Heimatkünstler. Das verbindet ihn mit dem Orgelbauer Gottfried Silbermann aus Kleinbobritzsch.

Gerhard Schulzaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989

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