Jan Wagner: Zu Wulf Kirstens Gedicht „Selbst“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wulf Kirstens Gedicht „Selbst“ aus Wulf Kirsten: erdlebenbilder. 

 

 

 

 

WULF KIRSTEN

Selbst

Selbst die gartenmauer hangunter in die knie gesunken,
die klaffenden bruchsteinfugen holunderbesetzt,
am zaun wucherte wilder hopfen voller glocken
und rankte die welt vor meinen augen zu,
ich lag im gras, die arme unter dem kopf.

neben mir morschte ein birnbaum, erstickt
im braunen mulm, schosserbündel steilten ins licht,
kunstvoll gesetzt und gerundet spechtloch an spechtloch,
so wurde der baum den staren zur flöte,
ich sah in die grüne sonne, die arme unter dem kopf.

aus dem brombeerdörnicht und der hainbuchenhecke,
ein blätterüberdachter wall hinab zum wasser,
schwirrten sterzende kobolde aus dem zaunkönigsnest
und huschten durch mein abgezirktes kindheitsversteck,
in dem ich lag, die arme unter dem kopf.

ein tagträumer, der ganze nachmittage lustvoll vertrödelte
und begeistert den wolkenbildern nachsah,
lag still für sich als fauler stauner in blutigen zeiten
auf einem grasverfilzten wiesenhang dorfaus
mit angezogenen knien, die arme unter dem kopf.

 

So lehnt er sich Zeile um Zeile

in die eigene Kindheit zurück

Fast möchte man sich dazulegen, ins Gras zu Holunder, Birnbaum und Brombeere, neben die Hainbuchenhecke und jenen Tagträumer, der so vertraut erscheint – wird es doch niemanden geben, der nicht einmal selbst so ganz eins mit sich und der Welt den Wolken hinterhergeschaut hat. Dass jede der vier Strophen mit den Worten „die arme unter dem kopf“ abschließt, mit dieser klassischen Haltung des Müßiggängers also, verstärkt den Eindruck von Ruhe und zeitloser Geborgenheit. So lehnt man sich Zeile um Zeile in die eigene Kindheit zurück – der ja nicht nur die Dichter die prägendsten sinnlichen Eindrücke verdanken.
Wulf Kirsten jedenfalls, der am 21. Juni 1934 in Klipphausen geboren wurde und in den linkselbischen Tälern zwischen Dresden und Meißen aufwuchs, ist der Landschaft seiner sächsischen Heimat lange treu geblieben, auch während zweier Jahrzehnte, die er als Lektor im Aufbau Verlag verbrachte. Die Natur blieb sein zentrales Thema, auch im thüringischen Weimar, wo er seit langem als freier Lyriker, Essayist, Herausgeber, Ermutiger und Ermunterer jüngerer Dichter lebt.
Schläft also ein Lied in allen Dingen? Immerhin sind da Glocken, wenn auch nur die stummen des wilden Hopfens, und Musik kommt in einem schönen Bild zur Sprache – „kunstvoll gesetzt und gerundet spechtloch an spechtloch, / so wurde der baum den staren zur flöte“. Dennoch ist Wulf Kirstens Lyrik weit entfernt von romantischer Naturversenkung. Sie verliert sich nicht. Er selbst hat seine Sprache einmal als „körnig“ bezeichnet; neben dieser Körnigkeit, einer gewissen Erdenschwere, ist es vor allem ihre Präzision, die jegliches Abgleiten vom Einfühlsamen ins Sentimentale verhindert.
Auch wer nicht weiß, dass Kirsten einst am „Wörterbuch der obersächsischen Mundarten“ mitgearbeitet hat, wird bemerken, mit welcher Virtuosität dieser Wortarchivar Dialektalisches, Landschaftliches und Fachsprachliches einstreut. Mehr noch: Wer Gedichte von Kirsten liest, wird erst gewahr, wie reich die deutsche Sprache ist, ob er sich eines verlandenden Torflochs annimmt, ob es sich um den „notorischen krähenkongreß“, um einen Büffel oder die Vielzahl von Pflanzen handelt, die wohl nie zuvor mit so rauer Zärtlichkeit gefeiert wurden:

o pfennigkraut, o hundstot!
es lebe runk und strunk!

Auch in diesem Selbstporträt haben Wörter wie „dörnicht“, „mulm“ oder „sterzen“ ihre eigene Aura, und bei Ausdrücken wie „schosserbündel“ oder „bruchsteinfugen“ erkennt man verblüfft, dass paradoxerweise gerade dem präzisen Fachterminus eine Magie innewohnen kann. Kein Wunder also, dass nicht das erwartbare „abzirkeln“, sondern das Verb „abzirken“ gewählt wird, das vom lateinischen „circare“ stammt, in dem aber auch, wer weiß, ein Anklang der betörenden Circe enthalten sein mag.
Wulf Kirstens Naturgedichte sind keine Idyllen; seine Landschaft ist, wie jene Huchels, stets geprägt von der Geschichte, die sich ihr von den Bauernkriegen bis zu den Verwüstungen des zwanzigsten Jahrhunderts eingeschrieben hat – und die „blutigen zeiten“ lassen selige Schwärmerei kaum zu. So liegt der Junge denn in der vierten Strophe auch bereits „dorfaus“, bemerkt man in der Wiederholung der unterm Kopf ruhenden Arme die Variation und muss sich schließlich fragen, ob nicht die „angezogenen knie“ der allerletzten Zeile weniger hingelagert denn sprungbereit sind.
Möglicherweise also macht sich der Junge, in dem wir Wulf Kirsten in Klipphausen am Ende des Zweiten Weltkriegs sehen dürfen, gleich auf, bricht den Bann, um seine Kreise zu weiten oder, wie Kirsten schreiben würde, „durch heimatlichen muff und schluff“ zu „striffeln“, um jedenfalls die „Erde bei Meißen“ mit all ihren Narben zu durchwandern. So, Die Erde bei Meißen, lautet der Titel von Kirstens vielleicht berühmtestem Band, auch wenn vor nicht einmal zwei Jahren ein neues Buch erschienen ist. Von Faulheit kann keine Rede sein. Begeisterung und die Fähigkeit zum Staunen aber sind, zu unserem Glück, auch dem Dichter, dessen achtzigsten Geburtstag wir heute feiern dürfen, nicht abhandengekommen.

Jan Wagneraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtunddreißigster Band, Insel Verlag, 2015

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