Gert Kalow: Zu Erich Frieds Gedicht „Besichtigung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Erich Frieds Gedicht „Besichtigung“ aus Erich Fried: Warngedichte. –

 

 

 

 

ERICH FRIED

Besichtigung

Man muß das Unglück
von allen Seiten betrachten

denn von rechts sieht es aus wie Recht
und von links wie Gelingen

und rückwärts wie Rücksicht
und vorne wie Vorteil und Fortschritt

und von oben und unten scheints
es hat Kopf und Fuß

Man muß das Unglück
von allen Seiten betrachten

wenn man dann Glück hat
merkt man es ist das Unglück

 

Ein Amulett aus Worten

Erich Fried, 1921 geboren, ist von den lebenden Lyrikern unserer Sprache der weitaus produktivste. Seine ersten beiden Gedichtbände, enggedruckt und auf holzhaltigem Papier, erschienen gegen Kriegsende in London, wohin er 1938 aus seiner Heimatstadt Wien geflohen war (und wo er, mit einer Engländerin verheiratet, noch heute lebt) – politische Poesie von Anbeginn: Deutschland (1944) und Oesterreich (1945). Der erste größere Band mit dem lapidaren Titel Gedichte, der Fried bereits im Vollbesitz seiner außergewöhnlichen Evokationskraft zeigt, folgte mit beträchtlichem Abstand 1958. In der Zwischenzeit hatte sich Fried als Übersetzer insbesondere von Dylan Thomas und T.S. Eliot einen Namen gemacht – einen Ruhm, den er durch das später im Auftrag verschiedener bundesdeutscher Bühnen begonnene Großunternehmen seiner Shakespeare-Neuübersetzung beharrlich vermehrte und weitervermehrt.
Wohl keiner unserer emigrierten Schriftsteller hat die Zweisprachigkeit, in der er zunächst höchst unfreiwillig zu leben gezwungen war, so konsequent in eine Freiwilligkeit verwandelt und fruchtbar zu machen gewußt wie Fried. Das bei Emigranten, nicht nur deutschen, fast allgemein zu beobachtende Phänomen, daß sie ihre Muttersprache nach Wortschatz, Syntax, Dialekt zeitlebens unverändert im gleichen Zustand, in der gleichen historischen Gestalt sprechen und konservieren, die sie im Moment ihrer Ausreise besaß, tritt bei ihm nicht auf. Die Zweisprachigkeit hat in seine Beziehung zum Deutschen zwar eine Distanz gebracht, die er jedoch vermittels einer ungemein freien Assoziationsfähigkeit – Frucht nicht zuletzt der alltäglichen Nähe einer anderen Sprache – in eine gesteigerte Intimität verwandelt hat. Wenn manche von Frieds ersten Londoner Gedichten in Vokabular und Sprachduktus Anzeichen von Vergangenheits-Abhängigkeit aufwiesen, so sind bereits die 1958 publizierten Gedichte weitgehend frei davon. Die Anstrengung, drohende Spracherstarrungen abzuwehren und aufzulösen – eine Gefahr weiß Gott nicht nur für Emigranten – ist eine Hauptintention aller Arbeiten dieses Autors, dessen erstaunliche „sprachmoralische “ Kraft eben daraus folgt, daß er es verstanden hat, eine Beschädigung in eine Kraft umzukehren.
Den Gedichten folgte 1960 Ein Soldat und ein Mädchen, Frieds einziger Roman, 1963 Reich der Steine. Zyklische Gedichte, 1964 der bislang umfangreichste und m. E. wichtigste Poesie-Band Warngedichte. 1965 erschien Kinder und Narren, experimentelle Prosa, eine Wanderung durch verbale Felder, grelle oder auch ironische Ausleuchtung charakteristischer Assoziationsstrukturen, Automatismen der Umgangssprache – ein erstaunliches Buch, dessen völliger Mißerfolg eine Blamage weniger für den Autor als für einige Kritiker darstellt. Fried hat seither fast nur noch Gedichte publiziert, von 1966 an neun schmale Bände, mit dem Hauptakzent auf politischen Themen: flugschriftartige Hefte (darunter 1974 das sehr kritische Höre, Israel), die ihn zu einem weithin beachteten Sprecher einer undogmatischen, nein: antidogmatischen Linken gemacht haben. Charakteristische Titel: und Vietnam, und (1966), Anfechtungen (1967), Befreiung von der Flucht (1968), Unter Nebenfeinden (1970), Die Freiheit den Mund aufzumachen (1972), Gegengift (1974).
Wer Fried in diesem Zusammenhang Vielschreiberei vorwirft, geht von einem Poesie-Begriff aus, den Fried selbst als überholt, als zumindest für ihn selber nicht gültig zurückweisen würde. Jemand, der Lyrik ganz bewußt nicht als ästhetische Ware, sondern als politisch-populäres Transportmittel geballter Informationen reaktivieren will, setzt selbstverständlich Dinge in Versform, die früher, im 18. und im 19. Jahrhundert, als Epigramm oder als Aphorismus angeboten worden wären – einem akademischen Publikum zu Nutz’ und Frommen. Ausschlaggebend für die Wahl der Form ist der Adressat. Jedenfalls bei einem Autor wie Erich Fried, der auf dem „Frankfurter Forum für Literatur“ 1966 ausdrücklich erklärt hat:

Dichten ist keine literarische Betätigung.

Die Probe aufs Exempel läßt sich leicht erbringen, indem man einige dieser Quartheft-Gedichte in Prosazeilen setzt. Der Informationsgehalt wird nicht vermindert, nur die Transportabilität. Das Gedicht kann bis zu den Analphabeten dringen. Für den gelehrten Leser ändert sich durch die Prosaform nichts, fast nichts. Zum Beispiel „Die Lüge von den kurzen Beinen“, das Titelgedicht des Quartheftes von 1969, liest sich dann:

Die Beine der größeren Lügen sind gar nicht immer so kurz. Kürzer ist oft das Leben derer, die an sie glaubten.

Oder „Vorbeugehaft: Rechtserwägung“:

In Vorbeugehaft gehören höchstens jene von rechts wegen, die die Vorbeugehaft einführen wollen von links wegen.

Oder „Nebeneffekt bei der Erziehung des Menschengeschlechts“ (1974):

Auch in der Schule der Revolution gibt es Musterschüler.

Die Beispiele ließen sich seitenweise fortsetzen. Aber gäben sich auch die längeren Gedichte Frieds als Material für ähnliche Reduktionsspiele her? Etwa dieses relativ frühe, nahezu unbeachtet gebliebene, aus dem Band Warngedichte:

BESICHTIGUNG

Man muß das Unglück
von allen Seiten betrachten

denn von rechts sieht es aus wie Recht
und von links wie Gelingen

und rückwärts wie Rücksicht
und vorne wie Vorteil und Fortschritt

und von oben und unten scheints
es hat Kopf und Fuß

Man muß das Unglück
von allen Seiten betrachten

wenn man dann Glück hat
merkt man es ist das Unglück

Handelt es sich hier nicht um ein Stück recht willkürlich in Zeilen gesetzter Prosa? Das Vokabular besteht aus schierer Alltagssprache. Erst bei genauerem Hinschauen oder -hören werden subtile Verzahnungen wahrnehmbar. Ihre Unauffälligkeit macht freilich zugleich ihre Stärke aus: das Gedicht, das zunächst so zwanglos daherkam, wirkt, je häufiger man es liest, desto kompakter, unauflöslicher. Der optische „Grundriß“, das Druckbild wirkt betont ruhig. Keine Besonderheit im Versbau, kein formales Raffinement lenkt die Aufmerksamkeit auf sich und vom Gegenstand der Besichtigung weg. Sechs zweizeilige Verse, von den zwölf Zeilen die meisten (genau: sieben) nur vier Worte lang. Die anderen fünf sind nur geringfügig länger, mit einer Ausnahme: Zeile drei ist mit acht Worten eine Art Doppelzeile, in einer geometrischen Relation zu den beiden Anfangsoder Auftaktzeilen. Signifikanter als die Zahl der Worte ist die Zahl der Silben, weil auf ihnen der Rhythmus „fußt“, und hier ist die Schwankung noch geringer: zwischen fünf und neun. Die silbenreichste ist nicht die wortreichste dritte, sondern die sechste, genau in der Mitte. Man könnte sagen, daß das äußerst lapidare Gedicht hier seine redseligste Stelle hat. Lapidar bedeutet hier, in einem gar nicht sehr übertragenen Sinne: einsilbig, wie Stein. Mehr als zwei Drittel der Worte, aus denen das Poem besteht, sind einsilbig, unzerbrechlich. Basisdeutsch.
Der Zeilenschnitt folgt, von einer Ausnahme abgesehen, immer dem Satzbau, ersetzt jegliche Interpunktion, macht sie überflüssig. Tatsächlich besteht das ganze Gedicht aus nur zwei Sätzen; das Zeilengefüge sieht einfacher aus als die logische Struktur ist; man spürt auch hier die Intention, etwas an sich Kompliziertes so transportabel, so durchschlagsfähig wie möglich zu machen.
Was an der kunstvollen Ruhe dieser sechs „Strophen“ als bestimmendes kompositorisches Element zuerst auffällt, ist die wortwörtliche Übereinstimmung des ersten und des fünften Verses. Es handelt sich zudem um den einzigen Vers, der nur aus einem nicht-untergliederten Hauptsatz besteht, in welchem folglich der Zeilenschnitt, wenn man ihn beim lauten Vorlesen erkennbar macht, ein bißchen gewaltsam oder vielmehr artifiziell klingt. Wie wenn man einen Holzstab mit erhobenen Händen zerbricht. Die Reprise des ersten Verses im fünften wirkt, wie jede Verdoppelung oder Wiederholung, wir kennen das aus der Musik, als Betonung. Ohne daß die Stimme des Sängers oder Sprechers sich höbe, klingen die gleichen Worte oder Töne das zweite Mal lauter, sie hallen länger nach.
Das Gedicht besteht also aus drei Sorten Text, die sich nicht nur dem spezifischen Gewicht nach, sondern auch formal deutlich voneinander unterscheiden:

a) die Strophen eins und fünf, der durchgehende Träger- oder „Basisvers“, sind ein klarer Hauptsatz von imperativischem Charakter, ein An- oder Aufruf, ein Appell;

b) die Strophen zwei drei vier, den Rahmen füllend, ordnen sich als Nebensätze unter, spielen sich Bälle zu, greifen sich wechselseitig unter die Arme, bilden eine Kolonne, aber nicht militärisch, sondern spielerisch-theatralisch; sie begründen, argumentieren, erläutern, werben; sie bringen die Besichtigung in Schwung;

c) Vers sechs schließt sich an den Basisvers a) auf eine ähnliche Weise an wie b) oder vielmehr spiegelverkehrt, komplementär: das denn, das erste Wort der zweiten Strophe, begründet die merkwürdige Aufforderung, das wenn der vorletzten Zeile leitet die conclusio ein. Die dritte Sorte Text ist die rarste – nur ein Vers statt zwei resp. drei Versen –, aber zugleich die schwerste. Dem Sinn nach wie rein äußerlich: a) besteht aus einem Satz, b) aus einem Gefüge von Nebensätzen, das c) schlußfolgernd bündelt und umstülpt. Die dritte Sorte Text springt aus dem Rahmen oder von der Bühne herunter ins Publikum.

*

Erich Fried weiß so wenig wie irgend einer von uns, was das Unglück ist. Er gibt nicht vor, es auf eine Formel gebracht zu haben. Er fordert uns auf, das Unglück zu besichtigen. Welches Unglück? Man kann eine Massenkarambolage auf der Autobahn oder ein abgestürztes Flugzeug besichtigen. Eine vom Erdbeben verwüstete Stadt. Aber das Unglück? Stellt Fried uns eine Falle oder setzt er uns, wie er es in nicht wenigen seiner Gedichte tut, ein Rätsel vor? Offenkundig um diesen Eindruck zu vermeiden, um den Leser nicht ins Schleudern, in falsches „metaphorisches“ Assoziieren geraten zu lassen, beginnt er das Gedicht so betont kunstlos, in durchsichtigstem Deutsch. Wenn die Aufforderung, Unglück nicht einfach als etwas Gegebenes hinzunehmen, als etwas, von dessen Anblick man sich üblicherweise wegwendet, beim Leser ankommt, dann ist die Hauptarbeit des Gedichts bereits getan. Bezieht das Unglück seine Macht nicht aus unserer Passivität oder unserem Fehlverhalten?
Fried erscheint hier nicht als moralischer, aber als ein metaphysischer Positivist. Moralische Positivisten glauben, Gut und Böse säuberlich trennen zu können. Sie treten in linker wie in rechter Couleur auf; ihre allemal zwanghafte, ihnen selber jedoch unbewußte Intention ist nicht eigentlich politisch, sondern magisch, vorpolitisch. Fried hat diese Intention in einem anderen frühen „Warngedicht“ beschrieben, das längst in allen deutschen Lesebüchern hätte Platz finden müssen (es handelt sich um eine beziehungsreiche Auseinandersetzung mit Brechts antistalinistischem Lehrstück „Die Maßnahme“):

DIE MASSNAHMEN

Die Faulen werden geschlachtet
die Welt wird fleißig

Die Häßlichen werden geschlachtet
die Welt wird schön

Die Narren werden geschlachtet
die Welt wird weise

Die Kranken werden geschlachtet
die Welt wird gesund

Die Traurigen werden geschlachtet
die Welt wird lustig

Die Alten werden geschlachtet
die Welt wird jung

Die Feinde werden geschlachtet
die Welt wird freundlich

Die Bösen werden geschlachtet
die Welt wird gut

Die Textsorte b), im Gegensatz zu a) und c), die völlig frei davon sind, ganz aus Metaphern und Binnenreimen erbaut, höchst kunstvoll erbaut, handelt von nichts als dem Unglück und seinen Verkleidungen. Wobei es Fried auf eine unnachahmliche Weise gelingt, die Optik des jeweiligen Betrachters mit ins Bild zu rücken. Es entsteht ein Amalgam aus Philosophie (= realer Lebensweisheit) und Spiel, wie es in der deutschen Poesie zu den größten Seltenheiten zählt. Das Unglück ist nicht Fortschritt oder Rücksicht (das könnte uns so passen, nicht wahr?); es sieht aus wie, es ist ununterscheidbar von Rücksicht, wenn man es von rückwärts, aus der Verzagtheit betrachtet. Wir denken dann, der sich da vorne so überaus höflich aufführt, sei ein Meister des understatement, während er gerade sich selbst gegenüber schuldig wird, weil er feige versäumt, etwas Unverzichtbares durchzusetzen.
Das Unglück ist nicht dasselbe wie Recht, auch nicht im Auge eines Konservativen, aber von rechts betrachtet werden beide leicht ununterscheidbar, und zwar desto ununterscheidbarer, von je weiter rechts einer guckt: „Recht geschieht ihm!“ heißt’s da, wenn der arme Schlucker, der aus Verzweiflung gestohlen hat, ins Loch muß. Und wievielen, die von vorne gucken, aus bevorzugter Optik, erscheint nicht das Unglück, z.B. die Verpestung von Umwelt, als Vorteil und Fortschritt – per Saldo und technischer Perfektion? Wie leicht halten andererseits Betrachter von links für Erfolg oder Gelingen, wenn der bestehenden Ordnung „eins ausgewischt“, d.h. wenn in Wahrheit nur die Alarmsituation (die immer und automatisch der Rechten zugute kommt) verstärkt wurde? Und erscheint nicht dem, der von ganz unten schaut, schon der fest auftretende Fuß, und sei es der eines gestiefelten Knechts, als Zeichen von Erfolg oder gar Glanz? Wer ganz darüber schwebt und die Szene „von oben“ betrachtet wiederum, hält vielleicht den, der grübelnd in sich selbst verstrickt ist, für eine bevorzugte Existenz.
Wirklich, man muß das Unglück von allen Seiten betrachten, wenn man nicht auf den Schein hereinfallen und sich in der Welt verirren will. Und am Ende falschen Leitbildern folgen. Führern etwa, die laut das Glück versprechen, während sie selber insgeheim ein armseliges Häufchen Unglück sind, das mit den andern sich selber betrügt.

wenn man dann Glück hat –

diese Zeile fährt ins Gedicht wie ein lautloser Donner. Nicht nur weil sie so völlig aus dem Rhythmus herausfällt (der einzige Akzent auf dem 4. Wort!). Das Thema springt um: von Unglück auf Glück. Der imperativische, der Befehlston von a) löst sich auf, schmilzt. Das Ganze liest sich nun anders: es muß, wer Glück anstrebt, das Unglück genau anschauen und erkennen lernen. Ohne diese Anstrengung der „Besichtigung“ ist Glück nicht zu haben. Aber mit der Anstrengung allein ist es nicht getan; das Glück herbeizuzwingen steht außerhalb unserer Macht. In welcher Gestalt es auftauchen mag, darüber spricht Fried nicht. Es gehört, nur soviel sagt er, schon dazu Glück, es ist insofern der Anfang von Glück, bei der Betrachtung des Unglücks zur Realität durchzustoßen. Es ist allemal eine moralisch-intellektuelle Kraft, Realität wahrzunehmen. Mach Dein Wahrnehmungsvermögen frei von Verzerrungen! Frieds Nachricht liegt nahe der großen Einsicht von Simone Weil:

Reinheit ist die Fähigkeit, die Befleckung zu betrachten.

Glück hat etwas mit der Fähigkeit zu tun, Unglück zu sehen.
So ist dieses Gedicht zugleich ein ansteckendes Stück Selbstbefreiung: es predigt nicht, sondern führt vor, wie man das macht. Es ist eine Ermutigung, gegen verinnerlichte Unterdrückung aufzustehen, es ist ein Stück Text von einem der erwachsenen, ressentimentfreiesten deutschen Autoren dieser Generation. Es ist emotionslos friedlicher Zorn oder pures Ozon, ein Medikament gegen Angst, ein Amulett aus Worten – sofern man darunter einen Gegenstand versteht, hier einen verbalen Gegenstand, der dazu gemacht und tauglich ist, Unglück abzuwehren.

Gert Kalow, Merkur, Heft 328, September 1975

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