Gert Ueding: Zu Walter Helmut Fritz’ Gedicht „Atlantis“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walter Helmut Fritz’ Gedicht „Atlantis“ aus Walter Helmut Fritz: Schwierige Überfahrt. –

 

 

 

 

WALTER HELMUT FRITZ

Atlantis

Ein Land,
das es nie gab.

Aber es fällt
den Gedanken schwer,
es zu verlassen.

Helle Wege sind entstanden,
die zum Horizont führen.

Keine Müdigkeit.

Man muß die Dinge
nicht nur so sehen,
als seien sie schon gewesen.

Im Hafen
liegen die Schiffe,
die bei jeder Ausfahrt
das Meer hervorbringen.

 

Land der Zukunft

Diesem Gedicht meint man fast mühelos folgen zu können, keine hermetischen Bilder, keine dunkle Metaphorik, klar und unmißverständlich scheint das Thema durchgeführt. Atlantis: von Platon wissen wir, wo dieser sagenhafte Inselkontinent gelegen haben soll, jenseits der Säulen des Herkules im Atlantischen Ozean, größer war er als Asien und Libyen zusammen. Bis heute gibt es Versuche, Spuren der versunkenen atlantischen Länder zu entdecken, doch auf diesen, die menschliche Phantasie so anhaltend faszinierenden Mythos oder den realistischen Kern der in ihm stecken mag, zielt das Gedicht von Walter Helmut Fritz nicht.
Die ersten beiden Zeilen enthalten eine ganz lapidare Mitteilung: die wesentliche Bestimmung von Atlantis ist seine Nichtexistenz, es teilt sie mit Bezeichnungen wie Luftschloß, Fata Morgana, Wolkenkuckucksheim. Man meint damit eine Einbildung oder Gedankenkonstruktion, allenfalls noch eine poetische Idee, der gesunde Menschenverstand hält wenig davon. Die Anordnung der Zeilen freilich verrät schon, daß es hier weder um eine genaue Begriffsdefinition noch um das spießige Verdikt geht, womit Vorstellungen dieser Art immer zu rechnen haben. Der Akzent liegt auf „Ein Land“ und auf der Vergangenheitsform, in der von seinem Nichtsein gesprochen wird. Wie also? Sollte Atlantis doch mehr sein als ein Hirngespinst?
Der nächste Gedichtabschnitt verstärkt diese Unsicherheit durch eine Entgegensetzung (mit „Aber“ eingeleitet, deren Aussage allerdings auch wieder zweideutig ist: es sind schließlich bloß die Gedanken, denen Atlantis so heimatlich vorkommt, daß sie sich schwer davon lösen können. Erst die nun folgenden beiden Zeilen bringen wirklich eine Wendung: wie zweifelhaft und unausgemacht jenes sagenumwobene Land auch immer sein mag, es hat etwas Reales bewirkt: Wege sind entstanden (die vorher also nicht waren), helle Wege dazu (die also keine Dunkelheit verschluckt), und sie haben eine Richtung, den Horizont. Hier angelangt, verfällt das Gedicht in einen ganz neuen Ton. War es bisher auf die knappe Aussage, auf Zweifel, Ratlosigkeit, Vergewisserung eingestellt, wechselt es jetzt über zu einer appellativen, unternehmenden, schließlich hoffnungsvollen Redeweise. „Keine Müdigkeit“, diese Zeile ist die Achse des symmetrisch gebauten Gedichts: Mahnung, Erinnerung, Aufruf – und zugleich Betonung der subjektiven Dimension des Themas, das damit aus seinen geographischen Zügen gänzlich gelöst und für eine neue Bedeutung vorbereitet wird, die auch die bisherigen Aussagen verändert.
Neben die räumliche tritt die zeitliche Bestimmung und was im Horizont der Zukunft liegt, die Dinge, die noch nicht sind, die aber sein können, weil sie real möglich sind, unterscheiden sich wesentlich von denjenigen, die bloß gewesen sind oder die nie sein werden. Atlantis und die Tatsache, daß es dieses Land nie gab, bedeutet also nicht etwa, daß es auch niemals existieren wird; ob es ins Dasein tritt, hängt ab von menschlicher Tätigkeit und von der Perspektive auf die Welt, die nicht nur als geworden, sondern ebenso als werdend anzusehen ist.
Die letzte Strophe schließt den Kreis des kunstvoll geformten Gedichts, indem es bildlich an die ersten Zeilen anknüpft, überschreitet aber zugleich die anfangs markierten Grenzen: schon liegen im Hafen die Schiffe, nicht um jenes Land zu entdecken, denn entdecken kann man nur, was schon vorher dagewesen ist, sondern um es hervorzubringen, gleichsam aus dem Meer aufsteigen zu lassen, in das es die Sage versinken ließ. Um ganz besondere Schiffe handelt es sich, sie befahren das Meer der Möglichkeiten, und ihre Route ist auf den Horizont der Zukunft gerichtet.
Das alte Hoffnungssymbol des ausfahrenden Schiff es hat sich bedeutsam verändert, steht für menschliche Tätigkeit, für den subjektiven Faktor in der Geschichte, für den schöpferischen Akt, der das, was sich noch nie und nirgends begeben hat, erst hervorbringt, aus Möglichkeit Wirklichkeit macht und aus dem Traumland Atlantis einen menschlichen Lebensraum.
Auch an ein gar nicht fabelhaftes Beispiel erinnert dieses Gedicht zuletzt: „Nova Atlantis“, Neu-Atlantis hatte Bacon Anfang des siebzehnten Jahrhunderts sein Buch genannt, worin er, eingekleidet in ein Seefahrermärchen, die technischen Errungenschaften der Zukunft vorführt, von Fernrohr und Mikroskop bis zu Telefon und Unterseeboot, von künstlichen Baustoffen und Mineralien bis zu Treibhäusern und neuen Nutztierzüchtungen. Auch dies ein Atlantis, das es nie gab, das keine Vergangenheit hatte, aber eine große Zukunft haben sollte.

Gert Uedingaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebter Band, Insel Verlag, 1983

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00