Giuseppe Ungaretti: Das verheißene Land / Das Merkbuch des Alten

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Giuseppe Ungaretti: Das verheißene Land / Das Merkbuch des Alten

Ungaretti-Das verheißene Land / Das Merkbuch des Alten

FÜR ALLEZEIT

Ohne ein Gran von Ungeduld geh ich ans Träumen,
mache ich mich an die Arbeit,
die nicht mehr enden kann,
und nach und nach, an der Spitze,
tun sich den wiedergeborenen Armen
hilfreiche Hände auf,
in deren Höhlung
tauchen die Augen auf, wieder, spenden Licht, aufs
aaaaaneue,
du wirst auferstanden sein, unversehens,
eine Unversehrte, und es geleitet mich
erneut deine Stimme,
für allezeit seh ich dich wieder.

Rom, am 24. Mai 1959

 

 

 

Erinnerung hat die gleiche Funktion wie das Gedicht:

Abwesendes als Abwesendes zu vergegenwärtigen. Das verheißene Land – das Land des Äneas, das Land des Dichters, die Liebe, der Dido – ist als das unerreichbare das nur zu erinnernde.
Im Merkbuch des Alten hat Ungaretti der Erfahrung des alten Mannes, dem letzten Andrang des Gefühls in der sich wehrenden Einsamkeit, der Wüste des Vergessens, eine Sprache gegeben, die mit der größten Einfachheit die größte Transparenz erreicht.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1997

 

Der alte Kapitän der Worte

– Das Spätwerk Ungarettis von Paul Celan verdeutscht. –

Im vergangenen Jahr ist Guiseppe Ungaretti 80 Jahre alt geworden, ein lebhafter, vitaler, sprühender Greis, der gestenreich spricht und mit lauter, orgelnder Stimme seine Gedichte in Musik verwandelt; der nicht müde wird, andere Länder zu bereisen, Deutschland, Skandinavien, Südamerika – um sich feiern zu lassen. Er genießt seinen Ruhm und seine Verehrung, heiter, dankbar, vielleicht auch ein wenig spöttisch, und ist bemüht, von diesem Ruhm an andere, an Jüngere weiterzugeben. Allegria strahlt er aus, und die ihn im vorigen Jahr in Deutschland auf seiner Lesereise erlebt haben, werden sich mit Vergnügen daran erinnern. So etwas ist selten bei unseren Vätern der Moderne. Ungaretti hat nichts von der müden Skepsis eines Benn, der Feierlichkeit eines Thomas Mann oder der Entrücktheit des alten Pound.
Sein Spätwerk liegt seit einiger Zeit vor (1950 und 1960 erschienen), zwei schmale Bücher, die wie ein Vermächtnis anmuten: Terra promessa, der Rückblick auf das verheißene Land, auf seine Utopia, und im Taccuino del vecchio das Abschiednehmen von der Welt, von der Zeit, vom Licht. Diese beiden Zyklen nehmen ohne Zweifel einen besonderen Platz in der italienischen Literatur ein. Der Dichter, der als Hermetiker begann, hat zur Klarheit und Transparenz gefunden, die seine Worte und deren Sinn durchscheinend machen. Er, der eher wider Willen zum Sprachrevolutionär geworden war (denn er kappte mit seinen blitzhaften, sichelartigen Kurzgedichten die rhetorische Wortflut seiner Vorgänger wie d’Annunzio), nähert sich jetzt Vergil, den er sein Leben lang verehrt hat, und besingt in seinem Namen die „Gemütszustände von Dido“, der sagenumwobenen Königin Karthagos, die sich selbst auf dem Scheiterhaufen verbrannt hat, als Äneas sie verließ. Und des „Dichters Geheimnis“, das er in einem der letzten Chöre ausspricht: ist es die Liebe, die Hoffnung, das Licht – oder ist es das Nichts? Ist seine Arbeit, ist sein Schreiben nichts anderes als ein „Variante über nichts“? Es ist vor allem die Erinnerung, die verwandelte Erinnerung, die das Vergangene gegenwärtig macht und die Zeit ausgräbt, ihm, dem Dichter, „ein Flüchtling, den anderen gleich, die waren, die sind, die sein werden“.
Die Verwandlung des Lichts wird zum großen, zum beherrschenden Thema des mittelmeerischen Dichters (und ihm kommt diese Bezeichnung noch zu), das Licht, das ihn von „Sterneinsamkeit zu Sterneinsamkeit“ verbannt. Angefangen hat das nach seiner ersten Reise in den Norden, die „schreckliche Sonne Rembrandts“ verwirrte. Jetzt wird das Licht zur Blendung, zum „furchtbaren Geißelhieb“; „Lichtwuchs, der der Liebe gleicht, den man aber auch Tod nennen“ kann.

Kein Sturm mehr die Liebe
wie er mich jüngst, inmitten
nächtlicher Blendung in Fesseln schlug zwischen
Ohne-Schlaf-und Getriebensein
ein Blinken ist sie, vom Leuchtturm,
das steuert er an, gelassen der alte Kapitän.

Der alte Kapitän der Worte, der Abschied nimmt von der Welt, der – geblendet – ins Dunkel eintritt, in die Allzeit, in das Immer, wo es keine Verwandlung mehr gibt: das „Licht wendet sich fort – tagwärts“.
Aus dem Dreigestirn der italienischen großen Hermetiker ist Ungaretti am spätesten zu uns gekommen – wenn man von einigen frühen Übertragungen Otto von Taubens absieht. Montale wie auch Quasimodo (der eine trotz des Nobelpreises) sind niemals bei uns heimisch geworden, Ungaretti hingegen erfreut sich wachsender Sympathie, ja er ist heute in Deutschland bekannter als etwa in Frankreich oder England, von Amerika oder der Sowjetunion ganz zu schwiegen. Vielleicht hat Ungaretti auch mit den deutschen Übertragungen Glück gehabt. Immer wieder hat man in den letzten Jahren bei uns versucht, sich sein Werk anzueignen. Außer Michael Marschall von Bieberstein, der über Ungaretti promovierte, haben sich so gewichtige Lyriker wie Ingeborg Bachmann und Hilde Domin mit seinem Werk beschäftigt; auch der Emigrant Viktor Wittkowski, der nicht mehr ins Nachkriegsdeutschland zurückfand und sich in einer Hausruine mitten in der Innenstadt von Köln den Freitod gegeben hat.
Jetzt hat sich auch Paul Celan des Spätwerks von Ungaretti angenommen. Seine Übersetzung unterscheidet sich wesentlich von allen bisher bekannten Verdeutschungen. Weil er sich weniger von den Worten als vom Sinn beeindrucken läßt; weil er, auch wenn er die Musikalität verletzt, etwas Poetisch-Adäquates schaffen will; weil er seine eigene sprachliche Diktion nicht unterordnet, sondern sie bewußt einsetzt, so etwa die für ihn typischen geschmäcklerischen Wortkopulationen, die Schubladensätze. Er weicht der Annäherung, dem Mittelwert aus. Er gibt nur eindeutige Lösungen, das bedeutet: Stellen, die unberührt lassen oder verärgern, weil sie am Original vorbeigehen, und Stellen, die bestürzen der entzücken, weil sie auf konsequente Weise ausschöpfen oder erhöhen. Es gibt Banalitäten, die einen verstören können, so etwa, wenn er ständig für den vokalen Dreiklang des attimo das scheußliche deutsche „Nu“ verwendet. Freilich ist Celan ein bewußter Schreiber, ein Wortschöpfer, er wird seine Gründe anführen können, warum er dieses oder jenes so oder so übersetzt hat. Meine Zweifel betreffen jedoch die Intentionen Celans (die auch schon bei den Übertragungen von Jessenin und Mandelstam deutlich wurden, da besonders), nämlich die eigene Sprachwelt dem Original überzustülpen; je autonomer diese ist, desto mehr wird (muß) sie sich aufdrängen. Insofern ist es vom Verlag vielleicht doch richtig gewesen, daß er auf den Umschlag die Namen von Ungaretti und Celan in gleicher Typographie druckt und die Fotos der beiden Verfasser nebeneinander, und in gleicher Größe, reproduziert. Ungaretti: in der Sprache Celans. Die Legitimation dafür muß dann das eigene Werk geben.

Horst Bienek, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.1969
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Poetische Verdunkelung

–Paul Celans Ungaretti-Übersetzung. –

Giuseppe Ungaretti, 1888 geboren, gilt seit dem Tode Paul Valérys als der größte lebende Dichter Europas, vor allem in den romanischen Ländern. Im deutschen Sprachgebiet blieb der Kreis seiner Kenner immer klein, und es ging ihm damit nicht anders als etwa dem kaum weniger bedeutenden Eugenio Montale oder Salvatore Quasimodo, dem nicht einmal der Nobelpreis zu einer nachhaltigeren Wirkung verhelfen konnte. Ehe Hugo Friedrich und Hans Hinterhäuser über Ungaretti schrieben, waren Übersetzungen einzelner Gedichte erschienen, so etwa diejenigen Otto von Taubes, und obgleich sich später auch andere, etwa Erik Jayme, Joachim Lieser, Michael Marschall von Bieberstein und Ingeborg Bachmann, dieser Aufgabe unterzogen, so fehlt doch bis heute eine Arbeit, die derjenigen von Jean Lescure vergleichbar wäre, der schon im Jahre 1953 eine französische Übertragung der fünf bis zu diesem Zeitpunkt veröffentlichten Lyrikbände vorlegte. Vom Autor assistiert, erreichte er eine Übereinstimmung mit dem Original, wie sie selbst bei verwandten Sprachen selten ist.
Zu der Schar der um Ungaretti bemühten deutschen Übersetzer ist in jüngster Zeit nun auch noch Paul Celan getreten, und zwar wählte er zwei Spätwerke, die Zyklen La terra promessa (Das verheißene Land, 1950) und Il taccuino del vecchio (Das Merkbuch des Alten, 1960), die – der eine teilweise, der andere vollständig – schon in Übersetzungen vorlagen.
Jeder, der sich nur ein wenig mit dem italienischen Dichter beschäftigt hat, weiß, daß seine Lyrik nicht ohne den Zusammenhang mit seinem Leben verstanden werden kann. Nicht ohne Grund hat er sein gesamtes Schaffen unter dem Titel Vita d’un uomo (Leben eines Mannes) zusammengefaßt. Gewiß, es handelt sich bei diesen „Gelegenheitsgedichten“ – Montale hat die seinen geradezu Occasioni genannt – um Transpositionen der Realität, aber trotz der Entdinglichung der konkreten „Materie“ ist die Verbindung mit ihr nie aufgegeben. Ungarettis ganze Entwicklung drängt ja immer mehr auf das Verheißene Land zu (auch ein Titel, der alle seine Dichtungen umgreifen könnte) – ein Versuch, die biographische Erfahrung bis zur Idee, bis zum Mythos zu läutern.
Es ist daher als ein unerlaubter Eingriff anzusehen, wenn man die einleitenden Bemerkungen Ungarettis zu den beiden Sammlungen ignoriert und dem deutschen Leser zumutet, ohne diese Hinweise auszukommen.
Da auch kein Vor- oder Nachwort des Übersetzers die notwendigen Voraussetzungen zum Verständnis der Gedichte schafft und nur ein schmaler, ins Buch eingelegter Zettel kärgliche (und teilweise irreführende) Auskünfte gibt, sieht man sich mit den Texten allein. Ingeborg Bachmann hat zwar gewiß recht, wenn sie, im Gegensatz zu Hugo Friedrich, betont, Ungaretti sei kein Hermetiker; aber sie dachte dabei wohl mehr an die knappen Evokationen der frühen Jahre als an die mythische Welt in La terra promessa, die auch italienischen Interpreten zu schaffen macht.
Es gilt noch immer als ausgemacht, daß nur der Dichter Lyrik fremder Sprachen in die eigene verpflanzen könne. Einfühlungsvermögen und Musikalität waren jedoch noch nie ein Privileg, und es kommt sogar vor, daß es gerade der Dichter ist, der dem Übersetzer im Wege steht.
Paul Celan hat nirgends ein Wort darüber verloren, von welchen Erwägungen er sich bei seinem heiklen Unternehmen leiten ließ. Das sich aus seinen Übertragungen ergebende Bild ist alles andere als einheitlich. Überall dort, wo er sich so eng wie möglich an Silbenzahl und Tonfall der Vorlage hielt, sind ihm, vor allem im Merkbuch, überzeugende Lösungen gelungen. Es ist aber nicht einzusehen, warum er sich so oft ohne erkennbaren Zwang von ihrem Duktus entfernt und daher viel von der Präzision, der mediterranen Klarheit preisgibt, die Ungarettis Sprache, sein „gehämmertes Wort“, wie Germaine Richier es nannte, auszeichnen. Wenig sinnvoll und konsequent wirkt es auch, wenn Celan einerseits die Vielzahl der im Italienischen den Augenblick bezeichnenden Wörter fast ausschließlich mit „Nu“ zu treffen glaubt und andererseits dort nach Nuancen sucht, wo die einfachste, nächstliegende Formulierung auch die genaueste wäre.
Es gehört zum Wesen der Dichtung Ungarettis, daß sie mit den überlieferten Wörtern auskommt. Sie hält sich stets in einer bestimmten Höhe auf, ohne je Pathos oder Geschwätzigkeit zuzulassen. Bei Celan dagegen das Niveau ständig, er bedient sich auch der Umgangssprache und dialektgefärbter Ausdrucksweise und zerstört damit das Gleichgewicht des Originals. Häufig nimmt er Zuflucht zu gewagten Wortkombinationen, die fast immer mehr verdunkeln und verwischen als erhellen. Solange sie nicht direkt falsch sind – wie oft muß man das Italienische zu Rate ziehen, um zu erkennen, was er meint −, mag man dem Dichter Celan solche Eigentümlichkeiten zugestehen, doch vergrößert er dadurch die Distanz zu Ungaretti nur noch mehr.
Unter den zahlreichen Manierismen des Übersetzers stört vor allem die Sucht, den rhythmischen Fluß durch Umstellung einzelner Wörter zu hemmen und den Hiatus einmal zu verbannen, ein andermal aber zu gestatten. Warum er in vielen Fällen die eingedeutschte Fassung eines Wortes benutzt und zum Beispiel expandierend, trist, desolat oder – peinlich falsch verwendet – fatal sagt, statt die passende Übersetzung zu nehmen, bleibt rätselhaft, wie so manches in Celans Verständnis zur italienischen und zur eigenen Sprache.

Helga Böhmer, Stuttgarter Zeitung, 28.12.1968
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Nachruf

… Zuletzt aber nicht zu spätest ist Paul Celan zu nennen mit seiner im Insel Verlag erschienen Nachdichtung der beiden letzten Ungaretti-Bände Das verheißene Land und Merkbuch des Alten. Diese Übersetzung ist fraglos die dichterischste, aber auch die am meisten problematische. Ungaretti und Celan sind hier eine Kommunion eingegangen, die den Nachdichter mindestens ebensosehr wie das Original charakterisiert. Der Grund für die Schwäche gerade dieser außerordentlichen Bemühung hat wohl etwas mit der angedeuteten Heimkehr des italienischen Dichters zu tun, die der deutsche Übersetzer von eigenen Prämissen her nicht richtig wahrhaben wollte, so daß er den alten Ungaretti noch unter den Voraussetzungen des jungen weiterverstand…

Joachim Günther, Neue Deutsche Hefte, 1970

Leuchtende Rätsel

– Ungaretti in Celans Nachdichtung. –

Giuseppe Ungaretti, der vor Quasimodo und Montale bedeutendste Lyriker der heute alten Generation (er wurde 1888 in Alexandria geboren), ist in Auswahl von Ingeborg Bachmann bereits 1961 übertragen worden. Auch die Reisebilder, ein Buch poetischer Prosa, sind inzwischen von ihm erschienen. Man kann aber dennoch kaum sagen, daß diese beiden Bände entscheidend zum Bekanntwerden eines großen europäischen Dichters beigetragen haben. Die damalige Auswahl war sehr knapp gehalten. Gerade weil wenig vorauszusetzen ist, hätte man sich in dem wichtigen neuen, übrigens zweisprachigen Band mit Ungaretti-Gedichten in Paul Celans Übersetzung Das verheißene Land – Das Merkbuch des Alten, ein Vor- oder Nachwort gewünscht. Ich meine, daß man das dem Leser schuldig ist. Die Unsitte der kommentarlosen Editionen zu wenig bekannter Autoren ist in den letzten Jahren häufig geübt worden. Dem Rezensenten bleibt nichts zu tun, als auf die Problematik solch eines Verfahrens hinzuweisen. Wenn schon der Übersetzer nichts zu dem von ihm Übersetzten sagen mag (was im Falle Celans durchaus verständlich ist), so hätte man einen anderen Kenner der Sache hinzuziehen sollen; denn man wird nun allzu unversehens mit einer Dichtung von verschlüsselter Schönheit konfrontiert, die dadurch nicht entschlüsselt werden kann (und soll), daß sie so kongenial ins Deutsche gebracht wird wie hier.
Ungaretti gehört zur Generation der Apollinaire, Max Jacob, Péguy. Sein erster Versband erschien bereits 1916. In Rom hat er später – bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr – an der Universität einen eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhl innegehabt. Die vorliegenden Gedichte sind Arbeiten der späten Jahre. Il taccuino del vecchio – Das Merkbuch des Alten kam 1960 heraus. Gerade in diesen späteren Texten faßt sich die Eigenart der Ungarettischen Poesie noch einmal zusammen: ihre Konzentration auf das Geheimnis, das leuchtende Rätsel, die Chiffre, die sich vom Dekorativen, von allem Aufwand in der Manier d’Annunzios abkehrte. Man hat Ungaretti einen Hermetiker genannt. Das ist ein Etikett, das nur recht ungefähr trifft, was sich in den Gedichtbänden des Italieners erkennen läßt. Es fällt übrigens auf, daß gar nicht wenige Gedichte Ungarettis datiert sind. Manchmal sind dem Datum noch der Ort und der Wochentag angefügt. Unter dem Titel Leben eines Mannes ist seit 1943 das Gesamtwerk erschienen. Das eine paßt zum anderen: man kann alles, was Ungaretti geschrieben hat, als eine einzige lyrische Autobiographie nehmen und das einzelne Gedicht als Notiz, als Bruchstück dieser Autobiographie, freilich einer „inneren“ Aufzeichnung, so kontinuierlich und ununterbrechbar, wie nur so geartete Niederschriften sein können.
Paul Celans Aufgabe war schwierig. Ein Gedicht wie das Lied, den Gemütszustand des Dichters beschreibend in eine andere Sprache zu überführen, ist wahrscheinlich nur möglich, wenn man über einen so ungemein großen Vorrat an sensibelster Intelligenz erkennenden Einfühlungsvermögen – kraft der außerordentlichen Fähigkeiten eigener Poesie – verfügt, wie das bei Celan der Fall ist. Der bloß tüchtige Übersetzer von Lyrik scheitert hier, denn er kann nichts Adäquates an dichterisch zutreffender Sprache aufbieten. Überall in dieser Canzone Ungarettis spricht sich das Geheimnis seiner Sprache selber aus, am stärksten in den vier Zeilen, die bei Celan deutsch heißen:

Je wahrer, je mehr es entzieht: das nicht loslassende Ziel,
das, so schön es ist, an die Ruhe rührt, nackter,
und, kaum ists reine Idee, als Zornkeim
neu erbebt, wider das Nichts, in sterblicher Hülle.

Hier hat man das Generalthema der Dichtung Ungarettis, das Exklusive des „Hermetischen“, die Geste des Sich-Entziehens, eine Fluchtgeste, die doch nicht nur Geste bleibt, vielmehr auf Existenz, auf Existenz mit Worten und durch Worte, verweist, auf Sprachexistenz des Poetischen. In der Canzone descrive lo stato d’animo del poeta wird die ganze Spannung solcher verbal bestimmten Existenz mitgeteilt. Celan ist unter den deutschen Lyrikern wahrscheinlich wie kein anderer prädestiniert, solche Spannung übersetzend, übermittelnd weiterzuleiten. Allein das Aufeinandertreffen von Ungaretti ist ein Vorgang, der erheblichen literarischen Genuß verschafft.: der sprachliche Reiz ist so groß, daß es sekundär bleibt, über Grenzen der Übersetzung im einzelnen (die vorhanden sind) zu rechten.

Karl Krolow, Der Tagesspiegel, 22.12.1968
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Herausforderung durch die fremde Sprache

An Ungaretti hat sich schon Ingeborg Bachmann versucht. Man durfte also neugierig sein auf diese neue Begegnung von zwei Dichtermajestäten, König Lear eisgrau, und Prinz Hamlet, zart verschlüsselt. Werden die klassischen Fälle, George und Mallarmé, Rilke und Valéry, erneuert? Was hat Paul Celan herausgefordert, gerade diese Anstrengung zu wagen?
Nun, man kann schnell Verwandtschaft feststellen. Ungaretti ist einer der Ahnherrn der hermetischen Dichtung, des trobar clus, des verschlüsselten Erfindens, wie es die alten Provenzalen nannten.
Wer ihn in München vor einem Jahr hat rezitieren hören, den Alten vom Meere, dem sind seine heiser raunenden sibyllinischen Orakel unvergeßlich geblieben. Celan ist seinerseits der entschiedenste Hermetiker unter den deutschdichtenden Zeitgenossen. Die Gedanken sind bei ihm so kunstvoll verschlungen, die Metaphern so rätselhaft bezogen, daß es keine Lösungen, sondern nur Ahnungen gibt.
Celan überträgt also eine Codeschrift in eine andere, in die eigene. Beide Texte stehen nebeneinander, man kann vergleichen, ob die Übertragung das Original erhellt oder tiefer verdunkelt. Aber bevor man auf Einzelheiten eingeht, muß man eine Vorbemerkung machen. Ungaretti hat, in der rauschenden Rhetorik der Jahre des Ersten Weltkrieges, die italienische Dichtung eine Kehrtwendung vollziehen lassen – weg von der Oper, hin zu Vergil. Es ist die gleiche Stilisierung zur Strenge hin, die bei De Chirico und Carrà in der Malerei wirksam wurde. Lateinische Poesie ist schwer – davon wissen unsere Gymnasiasten ein Liedchen zu singen (soweit sie sich noch darauf einlassen müssen). Die Worte laufen nicht dem Sinn nach, sondern sind kompositorisch gesetzt, und der Leser muß sie seinerseits zusammenkomponieren. Das kleine Wortbeiwerk, das wir als Signale verwenden, ist ausgespart. Genaugenommen wird nicht verschlüsselt, sondern verdichtet. Der Sinn ist durch kluge und geduldige Überlegung zu erschließen; nichts ist diesem Stil ferner als Sprachspiele, Wortketten, Klangkoketterien. Mallarmé und Valéry haben aus den gleichen lateinischen Voraussetzungen heraus die gleiche Askese betrieben und die gleiche heimliche Transparenz angestrebt.
Celan ist in dieser Tradition zu Hause. Dennoch geht er mit dem zarten Material des Textes zu hart um, glaubt mit aparten Prägungen, mit hingeworfenen Rätselwendungen den Schwierigkeiten des Originals genugzutun. Am störendsten wirkt das in der großen, tatsächlich nur durch philologische Intensität zu erhellenden Canzone, die „den Gemütszustand des Dichters“ beschreib.

Es trat alles vor sodann, unter Durchsichtigkeiten,
die Stunde glaubte gern, als, da die Ruhe
ermattete, da des ausgegrabenen Baum-
wuchses Ziel und Maß neu entfaltet war,
da in den Augen die Echos erstarben…

Da hilft auch das heftigste Nachdenken nichts. „Dissepolte arborescenze“ sind „aus der Vergangenheit wiederauftauchende Wucherungen, Schlingpflanzen“, nämlich die des Traumes. „La quiete stanca, da dissepolte arborescenze, riestesasi misura delle mete“ könnte übersetzt werden: die Ruhe, müde – nämlich von der Phantasiearbeit der Nacht −, kehrt aus den aufgestörten Phantasiegebilden zurück und erstreckt sich wieder als Maß für die zu setzenden Ziele. Bei Ungaretti erstirbt kein Echo in Augen; „estenuandosi in iridi echi“ heißt: „sich in regenbogenfarbigen Echoas abschwächend“, die ganze Strophe verschmilzt den Schaffensprozeß des Dichters mit dem merkwürdigen Zwischenzustand zwischen grauer Nacht und Morgenröte und dem Versuch, im Wachen den Traum zurückzurufen. „Der hauchdünnen Mauer-Absenker Beute, / der Minuten ewige Erben“, so fängt die nächste Strophe an. Gemeint ist das Traum- und zugleich Urbild, das „preda dell’impalpabile propagine di muri“ wird: Beute ungreifbar wachsender Mauern, eines sich verzweigenden Systems von Hindernissen gleichsam, und jede neue Mauer ist eine ewige, dauerhafte Erbin jeder Minute, also mit dem ehernen Ablauf der Zeit endgültig abschließend und ausschließend – wenn nicht das Bild in blitzartigen Durchbrüchen das Eis zerbräche.
In den kürzeren epigrammartig gerafften Gedichten – den Chören der Dido und den Versen aus dem Merkbuch des Alten – kann sich das Sprachtalent und die Klangbegabung Celans freier entfalten, und hier sind ihm wunderschöne Einzelheiten und manchmal auch adäquate Gesamtübertragungen gelungen, Stücke, die Ungaretti nicht verraten und Celan geworden sind. Ich will nur eines zitieren, aus den Gesängen der verlassenen Dido:

Hörst das Platanen-
blatt, hörsts nicht erknistern,
da’s aufs Kiesufer sinkt?
Mein Dahin, ich schmücks auf, heut abend;
es wird Laub zu sehn sein, trockenes, und dazu
ein Aufleuchten, hellrot.

Je mehr er liest und v ergleicht, um so mehr wird dem Leser freilich bewußt, wo das eigentliche Problem aller lyrischen Übertragung steckt: nicht in den Dichterindividualitäten, nicht im Philologischen, sondern in den Medien, den Musikinstrumenten der Sprachen selbst. „In den Irrnissen, den desolaten“ übersetzt Celan. Er will den Klang, das volle Silbenausschwingen von „desolati“ retten, aber er nimmt dafür die peinlich-banalen Obertöne von „desolat“ in Kauf. „… der da hinführt zur Schwelle des Schlafs“ endet seines der Dido-Lieder, so schön bei Celan wie bei Ungaretti, aber das letzte Wort, das darauf folgt, heißt deutsch „lautlos“, italienisch „sommessamente“. Nicht Celan ist daran schuld, daß unsere Adverbien so jäh abfallen wie Adjektive. Unvergeßlich bleibt mir im Ohr das letzte Wort eines Filmtitels, des kitschigen Titel eines kitschigen Films: Giorno per giorno, disperatamente … Da streckt die Sprache die Waffen.
Allerdings, nicht immer ist das Umschreiben für eine andere Stimme ein Verlust. In der Bilanz der Sprache gibt es mancherlei Soll und Haben, und die Dichter sind dazu da, die Aktivseite der eigenen durch kühne Bankoperationen zu bereichern. Ein Beispiel zum Schluß auch dafür. Eines der herrlichsten Gedichte aus dem Merkbuch des Alten ist der Todestraum, der mit den Versen „Es soll mich greifen, mit seinen blauen Fängen, der Geier“ beginnt und in dem Wunsch nach absoluter, nach Wüstenreinheit gipfelt.

Kein Schlamm mehr auf meinen Schultern,
rein, so haben mich die Feuer,
die krächzenden Schnäbel,
die Pestzähne der Schakale

Der letzte Vers heißt italienisch: „un ossame bianchissimo“, nutzt also die Möglichkeit des absoluten Superlativs. Bei Celan steht: „ein Gerippe, weißer als weiß“. Das ist eine Steigerung noch über das „bianchissimo“ hinaus, ein kleiner Ausflug ins Metaphysische, ein Bespiel dafür, daß für den Dichter der Text eines Dichters eine Herausforderung ist, und daß das Messen der Kräfte auch mit Siegen enden kann.

Werner Ross, Süddeutsche Zeitung, 16./17.11.1968
Diese Rezension bezieht sich auf die Erstausgabe.

Erinnerung als Stimulans der Poesie

– Giuseppe Ungaretti – Archipoeta der italienischen Moderne. –

Der heute achtzigjährige Lyriker Giuseppe Ungaretti gilt als Erzvater der modernen italienischen Dichtung. Ihm hätte so meinte man nicht nur in Italien – eigentlich der Literatur-Nobelpreis gebührt und nicht dem schwächeren Salvatore Quasimodo, dem der Preis 1959 nach dem unerforschlichen Ratschluss der Stockholmer Jury zufiel.
Ungaretti wurde am 10. Februar 1888 in Alexandria (Aegypten) als Sohn von Emigranten aus Lucca geboren. Er begann sein Studium in Aegypten und ging dann 1912 an die Sorbonne nach Paris. Dort trat er in Verbindung mit den bedeutendsten in Frankreich lebenden Schriftstellern, Malern und Philosophen, etwa Apollinaire, Peguy, Max Jacob, Picasso, Braque und Bergson, deren Werk er später in Italien bekanntmachte.
Im Ersten Weltkrieg musste Ungaretti nach Italien zurückkehren. Er wurde als Soldat an der österreichischen Front eingesetzt. Im Kriege wurde Ungaretti zum Dichter; die Ausnahmesituation des Soldaten, der ständig mit dem Tode konfrontiert war, weckte in Ungaretti die Kraft zur Reflektion und ihrer künstlerischen Gestaltung. In einem Rückblick auf jene Zeit schreibt er:

… es war vor allem der Krieg, der Kontakt mit dem unendlichen Leiden des Krieges; es war das Elementare: das unmittelbare, unverschleierte Gefühl, der Schrecken vor der Natur und das spontane und fluktuierende Einswerden mit der kosmischen Essenz aller Dinge… – … es war dieser Zustand extremster Hellsicht und extremster Leidenschaft, der mir meine früher erst erahnte Aufgabe enthüllte, wenn ich mir überhaupt die Erfüllung einer Aufgabe in unserer Literatur zuschreiben darf.

Ungaretti freilich schrieb nicht, wie viele Dichter in jenen Jahren, hymnisch-pathetische, patriotische Kriegsgesänge. Ihm ging es darum, menschliches Fühlen und Leiden in grösstmöglicher Dichte darzustellen – Wie etwa in dem berühmt gewordenen Gedicht „Soldati“, einem lyrischen Stenogramm, das schon die ganze Meisterschaft Ungarettis in der Ellipse im Aussparen zeigt, einem Gebilde, das hart und fest wie ein Kiesel erscheint:

SOLDATI

Si sta come
d’autunno
sugli alberi
le foglie

In der Uebertragung von Ingeborg Bachmann lautet dieses Gedicht:

SOLDATEN

So wie im Herbst
am Baum
Blatt und Blatt

Nach Kriegsende ging Ungaretti nach Rom und nahm eine untergeordnete Stellung im Aussenministerium an. Seine Gedichtbände, vor allem die Sammlung Sentimento del Tempo (1933), machten ihn zu einem der berühmtesten und zugleich umkämpftesten Lyriker seiner Zeit. Um sich und seine Familie versorgen zu können, gab Ungaretti seinen schlechtbezahlten Posten im Ministerium auf und wurde zunächst Auslandkorrespondent einer römischen Zeitung. 1936 dann wurde er auf den Lehrstuhl für italienische Literatur an der Universität von Sao Paolo in Brasilien berufen. Hier wirkte er bis 1942. Doch nach dem Tode seines neunjährigen Sohnes Antonio, um den er in den Kindertotenliedern „Giorno per giorno“ ergreifend klagt, hielt es ihn nicht mehr in Südamerika, und so ging er 1942 in seine Heimat zurück. Die hier entstandenen neuen Gedichte sind von der Trauer um sein von Faschismus und Okkupation gequältes Land gezeichnet. Später schuf die Universität Rom eigens für den heimgekehrten Dichter einen Lehrstuhl; hier hielt Ungaretti noch bis in sein siebzigstes Lebensjahr Vorlesungen über Literatur.
Ungarettis erste Gedichtbände Il Posto Sepolto (1916) und Allegria di naufraghi (1919) bezeichnen den Beginn der modernen italienischen Lyrik. Gegen die oratorisch-pathetische Lyrik D’Annunzios, gegen eine wortklingelnde Fin-de-siècle-Poesie, gegen einen überladenen, dekorativen Stil stellte Ungaretti das nackte Wort. Den Sängern und Hymnikern der Jahrhundertwende trat hier ein Chiffren-Poet entgegen, für den ein Gedicht immer nur ein Fragment ist: Das Wort reisst für einen kurzen Augenblick das Schweigen auf, und hinter dem Wort schliesst sich wieder die Stille. Das Schreiben ist für diesen Lyriker ein Kondensationsprozess, die Worte werden geformt, abgeschliffen, auf den Kern reduziert, bis das lyrische Gebilde rein und makellos dasteht.
Ungaretti nahm Abschied von den klassisch metrischen Formen und setzte an ihre Stelle den inneren Rhythmus. Es ging ihm dabei nicht um die Zerstörung von Rhythmus und Vers, sondern um ihre Neuentdeckung – was um so schwieriger war, als das Ohr inzwischen durch langen Missbrauch der Worte und Klänge verdorben schien.

Mein Verfahren war kein bloss äusserliches; es ging mir nicht darum, die Worte in ein metrisches Schema zu pressen, sondern ich versuchte, die Worte von einer rhythmischen Bewegung ergreifen zu lassen, die sie metrisch und gleichzeitig harmonisch verbindet, so dass sie die grösstmögliche emotive Kraft und expressive Genauigkeit gewinnen. Die Metrik ist nicht etwas Akademisches, sondern an das Leben der Wörter gebunden…

Ueber die futuristischen und symbolistischen Anfänge, über Mallarmés Geheimnis der Wortmagie führte Ungarettis Weg weiter zur „Poesia ermetica“, zum dunklen Stil des Hermetismus. Doch diese hermetische Dunkelheit in der Lyrik Ungarettis ist nicht zu verwechseln mit willkürlicher Verunklärung – im Gegenteil bestechen nicht wenige Gedichte dieses Poeten durch ihre Klarheit und Leuchtkraft. Der hermetische Charakter dieser Dichtung resultiert aus der möglichst weit getriebenen Konzentration und Reduktion des Worts. Hugo Friedrich schreibt, auf Alexandre und Ungaretti verweisend:

Dunkle Lyrik spricht von Vorgängen, Wesen oder Dingen, über deren Ursache, Ort, Zeit der Leser nicht informiert ist und nicht informiert wird. Aussagen werden nicht gerundet, sondern abgebrochen. Vielfach besteht der Gehalt nur aus wechselnden Sprachbewegungen, schroffen oder hastigen oder weich gleitenden, für welche die gegenständlichen oder affektiven Vorgänge lediglich Material sind, ohne herauslösbaren Sinn.

Im Spätwerk Ungarettis, in den beiden Zyklen La Terra promessa (Das verheissene Land, 1950) und Il taccuino del vecchio (Das Merkbuch des Alten, 1960) nähert sich die Poesie dann wieder der Tradition an, wird musikalischer und weiträumiger.
Für Ungaretti ist die Dichtung ein Geschenk, die Frucht eines Augenblicks der Gnade, dem ein geduldiges und verzweifeltes Suchen und Bitten vorausgegangen ist. Dichtung ist für ihn, wie er nicht müde wird zu betonen, zugleich subjektiv und universal:

Die Poesie gehört allen Menschen; sie entsteht aber aus einer persönlichen Erfahrung und muss deshalb in ihrem Ausdruck die unverwechselbaren Kennzeichen des Individuums tragen und gleichzeitig den Charakter der Anonymität wahren, der die Poesie zum Eigentum aller Menschen macht.

Für Ungaretti ist das Wichtigste in der Poesie das, was der Dichter für sich und die anderen ausdrückt, um sich selbst kennenzulernen. Dabei hilft ihm die Erinnerung, die den Worten erst Bedeutung und Gewicht gibt. Die Erinnerung wurde zum zentralen Thema seiner Poesie. In einer Zeit wie der heutigen, da die Schriftsteller weithin jeder Tradition und jeder literarischen wie geistigen Bindung absagen, wirkt besonders aktuell, was Ungaretti über die Erinnerung sagt:

In ihr fand ich alles zusammengefasst: den Gegensatz zwischen dem Individuum und der modernen Gesellschaft, die Stellung des Menschen zu Gott, das Wesen des Menschen, der Natur und Willen gemäss so gross und zugleich so zerbrechlich ist, dieselbe Kausalität und Finalität, die vom Anfang bis zum Ende der Jahrhunderte die Menschen in derselben Tragödie vereinigen, die sich in Geburt, Tod, Unruhe, Hass und Liebe unzählige Male wiederholt. Die Landschaften belebten sich für mich im Licht der Erinnerung…, alles wurde für mich durch die Fähigkeit der Erinnerung, durch die erst der Mensch zum Menschen wird, intensiver und schmerzlicher.

Allerdings redet Ungaretti nicht Traditionalismus und Restauration das Wort; sein Blick ist nicht rückwärts gewandt. Erinnerung ist in seiner Sicht ein Stimulans, das im Menschen den Wunsch nach Erneuerung, nach Ursprünglichkeit und Reinheit erweckt.
Ungaretti ist ein Kenner der Tradition, ein Humanist, der Geschichte, Mythos und Kultur kennt und in ihr lebt; das zeigen nicht nur seine Gedichte, sondern auch die Essays und Reisebilder, von denen 1963 eine Auswahl in der deutschen Uebertragung von Silvia Hildesheimer herauskam.
In Ungarettis vorletzter Gedichtsammlung Das verheissene Land ist, nach den Worten des Dichters, die Aeneis immer im Bild, aber das Erlebnis wird metaphorisch dargestellt in Bildern, die der Leser selbst entschlüsseln muss. Mythische Gestalten wie Aeneas, Dido und Palinurus treten auf, doch von der antiken Darstellung bleibt nur der Kern erhalten. Diese Dichtung ist breiter und ausladender angelegt als das Frühwerk, und insofern kann man hier von einer Versöhnung Ungarettis mit der Klassik sprechen. Andrerseits aber hat die Sprache hier noch stärker als früher den Charakter einer mystischen Offenbarung angenommen, ist die sinnliche Wirklichkeit noch stärker zugunsten des reinen Intellekts zurückgetreten. In diesem Alterswerk gibt der Dichter in den „Chören, Didos Gemütszustände zu beschreiben“ der Klage und dem Schmerz Didos Stimme, gleichzeitig seinen eigenen Abschied von der Welt ankündigend:

III

Es ist die windstille Stunde,
die meeresstille;
kein Laut; doch ich, ich bin die den Schrei
Schreiende, den Herz-,
den Liebes-, den Schamschrei,
das Herz brennt mir,
seit ich dich ansah, seit du mich ansahst
und ich nur mehr ein Etwas bin ohne Kraft.

Ich schrei und es brennt mein friedloses Herz
seit ich nur dies bin
ein Trümmerding, allein mit sich selbst.

IV

Dies & nur dies in meiner Seele: Risse, überwachsen,
Waldäquatoren, über Sümpfen
Dunstgraupen, Nebelklumpen, da,
schlafhindurch, verlangt es, wahnhaft,
nach Ungeborensein.

Die eben zitierten Verse stammen aus dem zweisprachigen Band Das verheissene Land –, Das  Merkbuch des Alten, der im Insel Verlag (Frankfurt am Main) erschienen ist. Die Uebertragungen schuf Paul Celan – und sie sind auch unverwechselbar „celanisch“: Sätze und Zeilen sind, stärker noch als im Original in ihre Einzelelemente aufgelöst, nebeneinandergestellt, es ergibt sich ein eher stockender Rhythmus. Das allerdings kommt den Intentionen Ungarettis entgegen, nach dessen eigener Aussage des Wort bei jeder Kadenz des Rhythmus, bei jedem Herzschlag anhalten müsse. Charakteristisch für Celan sind auch die Wortneubildungen, die Wortballungen, mit denen der Nachdichter die komprimierte Kürze des Originals nachzubilden sucht.
Das Problem, Ungaretti ins Deutsche zu übersetzen, ist schon häufig diskutiert worden, und an Uebertragungen haben sich schon zahlreiche Uebersetzer versucht – etwa Ingeborg Bachmann, Hilde Domin, Otto von Taube, Herbert Frenzel, Gerhard Rademacher, Alfred Andersch, Victor Wittkowski und Michael Marschall von Bieberstein (– der übrigens zu Ungarettis 80. Geburtstag die Notizen des Alten in einer bibliophilen Ausgabe im Verlag Ars Librorum in Frankfurt vorlegte). Doch mehr noch als bei anderen Lyrikern können Uebertragungen bei Ungaretti immer nur Annäherungswerte sein, Andeutungen und Deutungen des Textes, keine Wiedergaben. Die zweitausendjährige Tradition des Italienischen, das gerade in der Dichtung Ungarettis bis ins Lateinische zurückreicht, findet in unserer Sprache kein Aequivalent.
Die epigrammatische Kürze des Lateinischen findet sich auch in Ungarettis bisher letztem Werk, dem Merkbuch des Alten. Es ist das Vermächtnis des greisen Dichters, individuell und überpersönlich zugleich, verschwiegen und voller Altersweisheit. Hier drei Stücke aus der „Letzten Chören für das verheissene Land“ aus dem Merkbuch des Alten:

5
Die Wüste durchqueren mit Resten
einiger Bilder von einst im Sinn,

vom Gelobten Land:
nichts sonst weiss ein Lebender von ihm.

14
Dem Lichtwuchs, gipfelhin, ihm
gleicht die Liebe,

kaum löst sie vom Süden sich, schon
kannst du sie so nennen:
Tod.

27
Kein Sturm mehr die Liebe,
wie er mich jüngst, inmitten
nächtlicher Blendung in Fesseln schlug zwischen
Ohne-Schlaf und Getriebensein,

ein Blinken ist sie, vom Leuchtturm,
das steuert er an, gelassen,
der alte Kapitän.

Auf die Frage nach dem politisch-sozialen Engagement des Dichters angesprochen meinte Ungaretti, dieses Engagement manifestiere sich im gelungenen Werk selbst. Aufgabe des Dichters sei es, die Quellen des geistigen Lebens wiederzuentdecken, die von den sozialen Strukturen – wie auch immer sie beschaffen sind – getrübt und verdeckt würden. Der Dichter komme auf seinen eigenen, ihm von niemandem vorgeschriebenen Wegen dazu, die Grenzen der Geschichte zu durchbrechen, zu einer Freiheit jenseits der geschichtlichen Gegebenheiten:

Befreiung geschieht, Poesie entsteht, wenn es irgendeinem Menschen gelingt, seine eigene Zeit geistig zu bewältigen, so dass sein Gesang aus den geheimen Regungen seines Herzens wortlos aufsteigt oder in wesentlichen Worten, individuellem Rhythmus und eigenem Takt, der jedoch am traditionellen Rhythmus gemessen werden kann. Dann entsteht Poesie, auch, wenn sie die schrecklichen und trostlosen Aspekte der eigenen Zeit, die Kultur dieser Zeit und ihre Polemiken spiegelt. Dann überfliegt man in einem Schrei alle Epochen bis zum uralten Ursprung der menschlichen Stimme und überwindet in der Erleuchtung eines Augenblicks die ganze Geschichte, die in ihrer Entstehung, in ihrem Ziel, in ihrem ganzen sich schliessenden Kreis sich in Gegenwart verwandelt.

Jürgen P. Wallmann, Die Tat, 17.5.1969

Über die Abgründe der Sprachen hinweg

– Paul Celans Ungaretti-Übersetzungen. –

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises hat Paul Celan mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass das Gedicht im „Geheimnis der Begegnung“ steht. Dies galt nicht allein für seine eigene Lyrik, sondern in besonderem Maße für die von ihm übertragene. Spätestens seit der großen Marbacher Ausstellung Fremde Nähe im Jahr 1997 ist es kein Geheimnis mehr, dass Celan zugleich auch ein bedeutender Übersetzer war. In seinem Gesamtwerk nehmen die Übertragungen aus sieben Sprachen fast ebenso viel Raum ein wie seine eigenen Dichtungen. Vor allem aus dem Französischen hat der in Paris lebende Dichter viel übersetzt, nicht nur zeitgenössische Autoren wie René Char und Henri Michaux, sondern auch moderne Klassiker wie Arthur Rimbauds Trunkenes Schiff und Paul Valérys Die junge Parze. Von besonderer Bedeutung für Celan selbst, waren seine Übertragungen aus dem Russischen (Block, Mandelstamm, Jessenin), die zwischen 1958 und 1961 im S. Fischer Verlag erschienen. In seinen Übersetzungen stellte er das Dialogische seines Dichtens unter Beweis.
Celans Verhältnis zur italienischen Literatur war dagegen nicht besonders intensiv. In seinem Nachlass finden sich kaum Hinweise auf Italien und die italienische Literatur. Dennoch äußerte er im Herbst 1967 den Wunsch, die zwei späten Gedichtzyklen La terra promessa/Das verheißene Land und Il taccuino del vecchio/Das Merkbuch des Alten des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti für den Insel Verlag zu übersetzen. Eine ungewöhnliche Entscheidung für einen Dichter, dessen Italienischkenntnisse bei aller Sprachkompetenz alles andere als perfekt waren. Seine Lektorin Anneliese Botond bat er jedenfalls vor Beginn der Übertragung, ihm „für die Dauer der Übersetzung ein gutes italienisch-deutsches Wörterbuch und, wenn möglich, eine italienische Grammatik in deutscher Sprache“ zu besorgen.

Dass es Celans einzige Übertragung aus dem Italienischen blieb, und dass er das Risiko nicht scheute, zeugt allerdings davon, wie wichtig es ihm war, gerade diesen Autor zu übersetzen, dessen Lyrik wie die seine als „hermetisch“ galt. Denn riskant war die im Oktober 1967 begonnene und im April 1968 abgeschlossene Übersetzungsarbeit für Celan allemal, weil er diesmal kein übersetzerisches Neuland betrat. Ungaretti galt als der bedeutendste italienische Lyriker der Gegenwart, und viele Übersetzer hatten sich schon vor Celan darum bemüht, Gedichte des als nobelpreiswürdig gehandelten Dichters ins Deutsche zu übertragen. Otto von Taube, Victor Wittkowsk und Michael Marschall von Bieberstein gehörten ebenso dazu wie Hilde Domin und Heinz Piontek. Vor allem aber Ingeborg Bachmann war es gewesen, die mit ihrer 1961 im Suhrkamp Verlag erschienenen Gedichtauswahl Pionierarbeit geleistet und entscheidenden Einfluss auf die Rezeption Ungarettis in Deutschland genommen hatte. In ihrer Auswahl wandte sie sich vor allem dem Frühwerk Ungarettis zu, übersetzte etwa den bedeutenden Gedichtzyklus L’Allegria, bemühte sich aber auch mit weiteren Gedichten aus dem mittleren und späten Werk des Italieners, die Entwicklung seiner Dichtung zu dokumentieren. Aus dem Spätwerk hatte sie lediglich drei Gedichte übersetzt, die dem Leser die poetische Wende des Dichters vor Augen führen und gleichzeitig einen visionären Ausblick ermöglichen sollten.
Es dürfte daher kein Zufall sein, dass Celan für seine Ungaretti-Übertragungen gerade zwei inhaltlich zusammenhängende Gedichtbände aus dem Spätwerk wählte, die er vollständig übersetzte. Er schloss damit an Bachmanns Auswahl an und verringerte so die Gefahr, dass sich die Rezensenten mehr für den Vergleich der Übertragungen als für die Dichtung Ungarettis interessierten.
Peter Goßens hat allerdings in seinem vorbildlichen Nachwort zeigen können, dass Celans Wahl vor allem poetische Gründe hatte, und er das Original „nicht nur in eine andere Sprache, eine andere Kultur, sondern vor allem in eine andere Gegenwart und in eine andere Existenz“ übertrug. Celans Begegnung mit Ungaretti findet im Text statt. Der Titel des Buches, Agglutinati all’oggi/Angefügt, nahtlos, ans Heute, ist daher trefflich gewählt, denn er beschreibt, was Celan mit seiner Übertragung zu leisten versuchte. „Denn die Sprachen, so sehr sie einander zu entsprechen scheinen, sind verschieden – geschieden durch Abgründe“, schreibt Celan in einem Brief an Werner Weber:

Ja, das Gedicht, das übertragene Gedicht muß, wenn es in der zweiten Sprache noch einmal dasein will, dieses Anders- und Verschiedenseins, dieses Geschiedenseins eingedenk bleiben.

Es gehört zu den Verdiensten der von Goßens herausgegebenen Ausgabe, dass sie dem Leser den Übersetzungsprozess Celans anschaulich vor Augen führt. Überhaupt merkt man der Publikation an, dass der Herausgeber in Sachen Celans Ungaretti-Übertragung aus dem vollen Schöpfen konnte. Schon in seiner Dissertation hatte Goßens vor einigen Jahren eine Modelledition für Celans Übertragungen im Allgemeinen und die Ungaretti-Texte im Besonderen vorgelegt. Dabei hatte er auch auf Dokumente und Faksimiles zurückgegriffen. Die vorliegende Ausgabe will und kann diesen philologischen Anspruch nicht erheben, was man allerdings gelegentlich bedauert. Am schmerzlichsten dort, wo der Leser zwar eine Besonderheit der Celan’schen Übersetzungstechnik gezeigt bekommt, indem ihm die Seiten der originalsprachlichen Ungaretti-Bände – die Celan benutzte, um seine erste Übersetzung einzutragen – als Faksimile geboten werden, er die Abbildungen mit Celans Handschrift aber teilweise schlecht lesen kann. Eine Transkription der Handschrift wird hier schmerzlich vermisst, gerade weil der Herausgeber zu Recht anmerkt, dass der Erstdruck der Übersetzung bei Celan nur den abschließenden Teil eines Prozesses bildet, „dessen wichtigste Stufen in der vorliegenden Faksimile-Ausgabe versammelt sind“. Vielleicht hätte man dafür auf einige Briefe der Korrespondenz zwischen Celan und seiner Lektorin Anneliese Botond verzichten und die Historie der Übersetzung mit wenigen Sätzen im Nachwort darstellen können. Denn der Briefwechsel enthält wenig Substantielles zu Celans Übertragung, weil sich die Lektorin – trotz Celans Nachfrage – um eine Stellungnahme drückt. Als Celan ihr im Februar 1968 schreibt: „Ich habe mich vor allem darum bemüht, die Härten und Spannungen zu wahren, aus denen das Original lebt. Hoffentlich habe ich Ihre Erwartungen nicht enttäuscht“, bleibt er ohne eindeutige Antwort.
Celans Theorie des Übersetzens, die Goßens in seinem Nachwort klar und präzise herausarbeitet, teilten nicht viele Zeitgenossen. Über das Übertragen von Gedichten notierte sich Celan einmal: „es geschieht über die Abgründe der Sprachen hinweg: das Einende ist der Sprung. – Solcher Sprung ist Glück und Gelingen“. Die Rezensenten seiner Ungaretti-Übertragung – neun Rezensionen sind dankenswerterweise in dem Band mit abgedruckt −, konnten zumeist den gelungenen „Sprung“ nicht entdecken. Horst Bienek etwa sah bei Celan die Intention, „die eigene Sprachwelt dem Original überzustülpen“. Auch Alice Vollenweider tadelte energisch, „daß Celan Ungaretti nicht verraten hat, um eigene Gedichte zu schreiben, sondern ihn so radikal mißverstand“. Moderatere Töne stimmte dagegen Karl Krolow an: „Allein das Aufeinandertreffen von Ungaretti und Celan ist ein Vorgang der erheblichen literarischen Genuß verschafft: der sprachliche Reiz ist so groß, daß es sekundär bleibt, über Grenzen der Übersetzung im einzelnen (die vorhanden sind) zu rechten.“
Ungaretti jedenfalls bedankte sich im Februar 1969 sehr herzlich für die Übertragung. In Celans Handexemplar von Il taccuino del vecchio schrieb er die persönliche Widmung:

Lieber Celan, dieses Buch, das noch keine sehr lange Karriere hinter sich hat, hatte das Glück Ihrer überragenden Interpretation, die eine der größten und die ehrenvollste ist, auf die ich hoffen konnte.

Joachim Seng, literaturkritik.de, Juli 2006
Bezieht sich auf Peter Goßens (Hg.): Angefügt, nahtlos, ans Heute/Agglutinati all’oggi. Paul Celan übersetzt Giuseppe Ungaretti.

Das hermetische Tagebuch Giuseppe Ungarettis

Der Dialog des über 80jährigen Dichters Giuseppe Ungaretti mit seiner südamerikanischen Partnerin Bruna Bianco, dieses Liebesgespräch voll Hoffnung und Verzweiflung, stellt den letzten geschlossenen Gedichtzyklus im Rahmen des Gesamtwerkes dar. Das lyrische Oeuvre ist jüngst bei Mondadori in der den Klassikern der Moderne gewidmeten Reihe I Meridiani erschienen. Diese Ausgabe enthält erstmals einen vorzüglich bearbeiteten kritischen Apparat zu den Varianten und die wichtigsten Aufsätze zu den einzelnen Stationen des Menschenlebens (Vita d’un uomo lautet der Titel des Gesamtwerkes). Die Gründe einer Dichtung (Ragioni d’una poesia), Ungarettis zunächst in französischer Sprache erschienen und bislang nur wenig bekannte Poetik, wie die von ihm und Ariodante Marianni gesammelten Anmerkungen zu den einzelnen zwischen 1915 und 1968 entstandenen Gedichtbänden, führen notwendig zu einigen Klarstellungen oder doch Ergänzungen, nicht zuletzt auch einer Kritik gegenüber, die in Ungaretti immer nur den dunklen, den hermetischen Meister sehen wollte, sich dabei auf syntaktische und stilistische Mittel überhaupt verließ, ohne jener inneren Klarheit gerecht zu werden, die Ungarettis Dichtung eben von der hymnischen, ja oft pathetischen eines D’Annunzio abhebt und deren Wurzeln eben im Leben des Menschen zu suchen sind. Ungarettis Gedichte sind Tagebuchnotizen. Das gilt von den Kriegsgedichten der Heiterkeit (L’Allegria) bis zu den Versen des Schmerzes (Il Dolore), von den Notizen des Alten (Il Taccuino del Vecchio) bis zum Dialog. Ungaretti sagt, er habe kein Gedicht geschrieben, das nicht auf ein konkretes Erlebnis zurückzuführen sei, und er hat sich nun, in den genannten theoretischen Schriften, den Spaß erlaubt, Teile seines Werkes, an dem die Philologen seit einem halben Jahrhundert und oft recht verbittert (man denke an Francesco Flora’s Poesia ermetica) herumrätseln, selbst zu entschlüsseln, nicht etwa Satz für Satz oder gar Wort für Wort, sondern in der Darstellung jener weiten Lebenszüge und Werkbezüge, die von der Nachtwelt des ersten Bandes über die Morgenröte und Verwundbarkeit der folgenden Verszyklen hinreichen bis zur Mythenwelt des Verheißenen Landes (La Terra Promessa), zu dem alles hinstrebt und von dem alles ausgeht. Ungaretti hat eine besondere Vorstellung von der Wirklichkeit: Er spricht von einer sinnlichen Realität, der wir die ersten Bände mit ihrer musikalischen Prädominanz zuordnen und von einer vergeistigten Wirklichkeit, die die späteren Werke beherrscht. Beide gehen ineinander über, durchdringen einander, die letztlich ideale, die mythische Realität, die das Menschenleben mit all seinen Erwartungen und Ängsten in legendären Gestalten und Orten der Antike wiederspiegelt, sie kann nur aus der Erinnerung gewonnen werden und nur aus ihr zur Sprache finden. Erinnerung, Gedächtnis, Gedenken sind denn auch Schlüsselworte, nicht erst aber doch hauptsächlich in den späten Gedichten und verweisen, in enger Sinnverwandtschaft mit dem ständig ersehnten und erinnerten unschuldigen Land der Kindheit, auf eine thematische Kontinuität, die in der Lyrik des 20. Jahrhunderts nicht ihresgleichen hat. Die Suche nach dem verheißenen Land ist die immer gegenwärtige Ausgangs- und Zielsituation Ungarettis. Aus der konkreten Sphäre des täglich Erlebten und Erlittenen formt der Dichter eine andere, wachgeträumte Biographie.
Ungaretti, der sich wieder und wieder auf Leopardi, Petrarca und im Herzstück, seines Werkes, der Terra Promessa, auf Vergil, nicht aber auf die von der Kritik so gern zum Vergleich herangezogenen Dichter Pascoli und D’Annunzio beruft, er hat tatsächlich die italienische Dichtungssprache erneuert. Jedes einzelne Wort erhält neue Kraft, es steht allein als ein Klang inmitten des Schweigens, doch ist es nicht Fragment, sondern Essenz, ist das Wesentliche, zusammengedrängt im Aufschrei (Grido) des geplagten Menschen. Der berühmte Zweizeiler

M’illumino
d’immenso

Ich erleuchte mich
durch Unermeßliches

niedergeschrieben im Jahr 1917, mag es verständlich machen, warum der junge Ungaretti, trotz aller Verwandtschaft zum älteren Mallarmé, damals als ein Revolutionär angesehen und zunächst verurteilt wurde. Ein Gedicht wie die „Muschel“ in dem 50 Jahre später verfaßten Dialog verdeutlicht, daß auch der Klassiker Ungaretti ein Revolutionär der Sprachverwandlung geblieben ist, dem die Jüngeren kaum Ebenbürtiges zur Seite zu stellen haben.

*

Im Vorwort zur Heiterkeit (1914-1919) heißt es:

Dieses Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen anderen Ehrgeiz, und glaubt auch, daß die großen Dichter keinen anderen hatten, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen. Die Gedichte sind daher seine formalen Qualen, aber er wünscht ein für allemal begreiflich zu machen, daß die Form ihn bloß quält, weil er von ihr fordert, daß sie den Veränderungen seines Sinnes, seines Gemütes entspricht, und wenn er irgendeinen Fortschritt als Künstler gemacht hat, so möchte er, daß dies nichts anderes bedeute, als daß er auch einige Vollkommenheit als Mensch erreicht hat.

Diese Bemerkung, dem ersten Gedichtband vorangestellt, hat bis heute nicht an Bedeutung verloren, das Verhältnis von Leben, Erleben und Form im Werk Ungarettis ist damit festgelegt.

LEERE

Auch diese Nacht geht vorüber
Diese Verlassenheit ringsherum
der zitternde Schatten der Trammbahndrähte
auf dem nassen Asphalt
Ich sehe die Köpfe der Kutscher
im Halbschlaf schwanken

Der in Ägypten geborene Toskaner findet seine Freunde in den Kreisen um die Zeitschriften Voce und Lacerba: Prezzolini, Papini und Palazzeschi. Er sieht sie wieder in den Hörsälen der Sorbonne, hier in Paris befreundet sich Ungaretti mit Apollinaire, lernt er Valéry kennen und mit ihm und durch ihn die Sprache der großen französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts. Viele der ersten Gedichte Ungarettis sind aus dieser Begegnung her zu verstehen, sie drücken die Verlorenheit des Menschen aus, die Leere: „Noia“ hat ihre Entsprechung im „ennui“, wie wir ihn von Mallarmé her kennen, aber, so muß gleich hinzugefügt sein, diese „noia“ hat auch eine italienische Tradition: die Melancholie Leopardis. Es ist eine Nachtwelt, mit der wir es zu tun haben in den Versen der Allegria, die erst viel später durch die Aurora, durch das Morgenlicht der Erkenntnis abgelöst wird, gleichzeitig etwa wie dann auch die Verlorenheit endet, weil Zeit und Raum als Realitäten aufgelöst werden zugunsten einer von den Dingen distanzierten Sphäre.
Noia, nostalgia, malinconia und vanità – Leere, Verlangen, Trübsal und wieder Leere – das sind zunächst einmal vorherrschende Begriffe. Aber auch in dieser Nachtwelt erleben wir ein ständiges Zusammenspiel von elementar-biographischen Aussagen und Formeln. Am Schluß des Gedichts „Die Flüsse“, in dem Ungaretti sein Leben erzählt, das gespiegelt ist im Serchio, im Nil und in der Seine, und dann später im Kriegsfluß Isonzo, am Ende dieser Verse treibt den Dichter die Sehnsucht bis zur Identifikation mit der Nacht:

Dies ist meine Sehnsucht
die in jedem Fluß
mir durchscheint
nun da es Nacht ist
da mir mein Leben erscheint
wie eine Blütenkrone
von Finsternissen

Ein Gutteil der Allegria-Gedichte ist im Krieg niedergeschrieben, ich zitiere eines der berühmtesten:

So
wie im Herbst
am Baum
Blatt und Blatt

Erst der Titel löst das Rätsel: „Soldaten“. Die Technik der Suggestion findet hier volle Anwendung. Sie ist ein Teil jenes esotherischen Dichtens, das die Kritik viel später und zunächst sehr polemisch mit dem Begriff Hermetik einzufangen suchte.
Hier ist es notwendig, einen Augenblick lang über ein mit der Suggestion verwandtes, anderes Zeichen der Hermetik nachzudenken: die Kürze: brevitas. Ungaretti ist in seinen Versen zu einer äußersten Verdichtung der Sprache gelangt. Die Kürze als ein poetisches Stilmittel ist nicht von Ungaretti erfunden und auch nicht durch ihn aus Frankreich eingeführt worden, sie hat vielmehr eine sehr alte Geschichte, die mit der Entwicklung des dunklen und esoterischen Dichtens parallel geht. Hierzu drei Zitate aus recht verschiedenen Epochen:

Horaz: brevis esse laboro, obscurus fio
Guitone d’Arezzo: Gran canzon faccio e serro motti
Leopardi: i lavori di poesia vogliono per natura esser corti

Brevitas: ein Vorbild mittelmeerischer Poetik, kehrt heute wieder bei Ungaretti wie bei Montale, als Essentialismus. Anders ausgedrückt: semantische Dichtheit und Klangkonzentration führen notwendig zu dunklen und schwer verständlichen Versen.
Hüten wir uns aber davor, diesen „dunklen Stil“ mit einer Abwendung von der persönlichen, der biographischen Erfahrung gleichzusetzen. Ungaretti hat eine lebendige, eine mitleidende und mithoffende Stimme, die immer wieder – quer durch alle Stilfragen – unmittelbar nach vorne drängt. Das Erlebnis packt uns in Atemnähe:

„Aus anderen Sintfluten höre ich eine
Taube“
oder „Von welchem Regiment seid ihr,
Brüder?“
oder „Ich liebe dich, liebe dich und es
ist dauernde Qual“

Wir hörten eingangs, daß die Qualen um die Form notwendig sind als und in ihrer Entsprechung zu Sinn und Gemüt, und wir müssen uns diese Parallelität von Dichtung und Leben, diese Suche nach Vollkommenheit des Künstlers und Menschen immer wieder vor Augen halten. Im Wort, im Gedicht steckt das Zuhause dessen, der „in keiner Gegend der Erde“ heimisch werden kann.
Der zweite Band des Menschenleben, Zeitgefühl (Sentimento del tempo, 1920–1940) enthält die großen Zyklen „Le stagioni“, „La fine di Crono“ und „La pieta“. Der Kurzvers, die strophische Monade, die elementare Metrik der Allegria werden nun durch festgefügte Strophen und z.T. klassische Metren – wie Dantes Elfsilber, den „endecasillabo“ – abgelöst. Was uns beim lauten Lesen oder Anhören aber zunächst auffällt, ist eine Vorherrschaft musikalischer Effekte:

Zu einem Ufer, wo ewiger Abend war
In alten versonnenen Wäldern, stieg er
hinab
Und ging weiter
Und es rief ihn zurück ein Flügelrauschen
Das sich losgelöst hatte vom schrillen
Herzschlag
Des glühenden Wassers,
Und eine Maske (sie starb hin und blühte
wieder auf) sah er;
Zum Aufstieg gewandt sah er
Es war eine Nymphe, sie schlief
Aufrecht eine Ulme umarmend.

(Aus „Die Insel“)

Reiche Reime, Binnenreime, Alliterationen und Assonanzen. Für einen Augenblick läßt die Art der Aussage: Musik und, wie wir sehen werden, Stilfiguren den Inhalt der Aussage in den Hintergrund treten. Die Sprache ist, wie Edgar Allan Poe lehrte, in erster Linie Trägerin des Klangs, dann aber entdecken wir Bilder, die gerade durch diese Klangfiguren stark und eindringlich werden.

Le mani del pastore erano un vetro
levigato di fioca febbre

Die Hände des Hirten waren ein Glas
geschliffen aus fahlem Fieber

Mit dem Wechsel vom Elfsilber zum Neunsilber läuft das Gedicht aus, verklingt es.
Es ist hier nicht möglich, auf einzelne Stilfiguren einzugehen, aber hinweisen möchte im dom auf die Inversion, d.h. die Stellenvertauschung einzelner grammatikalischer Funktionen, wie Subjekt und Prädikat. Diese Inversion dient als erstes sprachliches Sinnbild für die Loslösung von den Dingen. Der Weg führt zur poesia della distanza. Gleichzeitig kommen mythisch-klassische Bezüge ins Gedicht, eine Entwicklung, die fortgesetzt wird und ihren Höhepunkt findet im Band La terra promessa, in der Suche über den Mythos, nach einer neuen, anders gearteten Wahrheit.
Ungarettis Versbände sind die dem Dichter notwendigen Antworten auf die Umstände, die Gelegenheiten des Lebens: Allegria gibt Antwort auf die Verlorenheit des Menschen im Krieg, in Sentimento del tempo klingt das Exil an und im nächsten Band Il dolore, der dem frühgestorbenen Sohn gewidmet ist, erhalten wir Antwort auf den Schmerz. Da heißt es:

Niemand, Mutter, hat je so viel gelitten…
Und sein Gesicht erlosch, aber mit noch
lebendigen Augen
Wandte er sich vom Kissen zum Fenster
Und Sperlinge erfüllten das Zimmer
Wo der Vater Krumen gelegt hatte
Um sein Kind zu zerstreuen…

Wir Italiener sind Kinder des Maßes, hat Ungaretti einmal gesagt, und dieses Maß bestimmt das Verhältnis von Lebenserfahrung und Poetik. So wird auch die strenge Lehre des französischen Symbolismus relativiert.
Das zentrale große Thema des Dichters, das überall anklingt, das Verheißene Land und die Notizen des Alten aber beherrscht, ist die Reise eben in diese Terra promessa, die die Einsamkeit der Wüste hinter sich läßt. Wir befinden uns im Bereich der Erinnerung, dem poetischen Raum zwischen Tun und Traum. Der Dichter wird durch die Stimme der Toten, durch die Erinnerung an sie zu neuem Leben erwecckt. Das Wiederauftauchen lang zurückliegender Ereignisse bringt ihn zur Arbeit, zum „acte poétique“. Und er bangt einzig um die „carità feroce del ricordo“ – um „die grausame Gnade der Erinnerung“. Wir dürfen die Terra promessa als den Höhepunkt ungarettischen Dichtens bezeichnen; dieser Band bezeichnet auch den Höhepunkt seines Ruhms. „Die Aeneis ist immer gegenwärtig“, so schreibt der Dichter, und das große Palinurusgedicht lehrt uns, wie die Didochöre, wie auch die Verwendung der „Endecasillabi“, daß wir es mit einer Heimkehr in die mittelmeerische Klassik zu tun haben. Aeneas und Odysseus, Leitbilder für Heimweh und Abenteuerlust, auch sie immer auf der Suche nach dem verheißenen Land der Erkenntnis, das doch auch die Züge des unschuldigen Landes der Kindheit trägt, werden in der „Canzone“ Brudergestalten des Dichters Ungaretti. Die „Canzone“ mit dem wichtigen Untertitel „Beschreibt den Seelenzustand des Dichters“ besingt ein neues Aufbegehren und gleichzeitig eine vorläufige Absage an die Jugend.

Und wenn auch jetzt noch glüht das Abenteuer
und wiederkehren Ängste und Begier,
So steig ich über Ithakas Gemäuer
In letzter Wandlung auf zum Morgenrot,
Nun wissend, daß der Gang der Handlung hier,
In dieser Stunde, abbricht in den Tod.

(übers. H. Frenzel)

„Avventura“ – Abenteuer -, „angoscia, ansia“ – Ängste −, „brama“ Begier −, sie sind gegenwärtig und bleiben gegenwärtig, auch in den letzten Gedichten des Taccuino, gleichzeitig aber wird die Verlorenheit des Menschen im Raum, von der wir, mit den Gedichten der Allegria, ausgegangen waren, immer stärker zurückgedrängt. Noch reizt das Abenteuer, schieben sich Mauern zwischen uns und die absolute Erkenntnis, aber im Fluß Lethe beginnen sich Raum und Zeit aufzulösen, der Dichter versucht einen Neuanfang in der gereinigten Sphäre der Erinnerung.
Ungaretti will mit den Gedichten der Terra promessa die eigene Lebenserfahrung zu Ideen und Mythen emporheben. Die irdische Lebensreise aber geht weiter:

Folgend so unserm Geschick
Geht meine Reise weiter

so schreibt der Dichter im ersten Chor des Taccuino, und wer Ungaretti kennt, wird unschwer die Übereinstimmung von Leben und Gedicht erkennen, vom Jetflug des 23. Chors im Taccuino bis zurück zu jenen Versen, die dem ersten Band den Namen geben: „Heiterkeit der Schiffbrüche“

Und plötzlich nimmst du
die Fahrt wieder auf
wie
nach dem Schiffbruch
ein überlebender
Seemann.

*

Im Dialog zieht sich der Liebende oft ironisch-lächelnd in einen ferneren Landstrich, zwischen hier und drüben, zurück. Er bedient sich einer Orakelmuschel, und seine Stimme ist nur noch vernehmbar in der Stunde der Geister, jener Geister, denen der Dichter sich „in einer nicht fernen Zukunft“ selbst schon zuzählt. Mitten im Liebesgespräch wird er sich seines Alters und seiner Narrheit bewußt, aber der große Rebell der Sprache will alles Neue und Schöne bis zuletzt auskosten. Noch einmal treten sich sinnliche Realität und jene oft beschworene Wirklichkeit, die nur aus der Erinnerung zur Sprache findet, als Rivalen gegenüber.
Das Geheimnis Ungarettis, des Menschen und Künstlers, liegt in seiner Fähigkeit, je nach Lust oder Not, in der Zeit zu sein oder aus der Zeit zu gehen, um das jeweils letzte Abenteuer zu bestehen.
Die italienische Literatur hat in Giuseppe Ungaretti einen neuen Meister gefunden. Sein Werk wie sein Leben bestimmen eine Epoche italienischer Lyrik und Poetik und, überblickt man die Verse der nachfolgenden Generationen, auch gleichzeitig ihr Ende. Ungaretti ist Wandler und Erneuerer der italienischen Dichtungssprache, er bleibt aber gleichzeitig tief verwurzelt in der mittelmeerischen Kultur, in einer poetischen Aussage, die reicht von Vergil bis Leopardi.
Ungaretti hat es in den Ragioni di una Poesia geschrieben und immer wieder mit seiner hellen fast jauchzenden Stimme den Freunden seiner letzten Jahre, jungen Malern, Dichtern und Musikern gesagt: Wenn sich der technischen Vollendung die Inspiration hinzustellt, dann, ja dann erleben wir ein Jahrhundert größter Bedeutung.
Für Ungaretti ist Dichten Ausgangs- und Endpunkt des Seins, lebensnotwendig. Im Halbschlaf schrieb er die Verse:

S’incomincia per cantare
e si canta per finire

Beginn um zu singen,
sing’ fort um zu Ende zu bringen.

Michael Freiherr Marschall von Bieberstein, Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 5, Oktober 1970

Celan – Ungaretti – Celan

– Die Suche der eigenen Sprache „in eines Anderen Sache“. –

I Prolog
Du fragst mich, wie es mir geht: ich schlafe gut, und am Tag gelingt es mir zu lesen. (…) – Und ich denke an uns.
Frau Dr. Si., die mich bis heute behandelt hat, meinte, daß ich gegen Mitte Mai meine Kurse an der École wieder aufnehmen könne und solle
(…), um sie bis Ende Juni fortzusetzen, da meine Heilung in meiner Arbeit liege. Mehr verlange ich gar nicht. (…)
Eine kleine Überraschung für Dich: Die
Frankfurter Allgemeine vom 24.3. hat eine Graphik von Dir aus Atemkristall veröffentlicht, mit einer ziemlich vernünftigen Anmerkung – hast Du es gewußt? (Denk daran, daß wir gemeinsam noch Dinge wie diese machen können.)
Ich werde mich diesen Sommer um die Druckfahnen für den neuen Band kümmern müssen – der ebenfalls einen wichtigen Einschnitt in meinem Leben bedeutet. Und ich habe Lust, Gedichte zu übersetzen.
(…)

So schreibt Paul Celan in einem Brief an seine Frau Gisèle am 4. April 1967. Er befindet sich noch in einer Klinik, infolge einer schweren psychischen Krise. In wenigen Zeilen wird hier ein Genesungsprogramm entworfen: die Arbeit („meine Kurse an der École“), aber vor allem die Dichtung („mich (…) um die Druckfahnen für den neuen Band kümmern“), die Kunst als Kommunikationsmittel des Ehepaars Celan („Denk daran, daß wir gemeinsam noch Dinge wie diese machen können.“), die Übersetzung („ich habe Lust, Gedichte zu übersetzen“). Aus dieser „Lust, Gedichte zu übersetzen“ stammt auch die Ungaretti-Übersetzung.

II Dichter und Übersetzer in der Fremde
Celans Poesie lebt – wie Toko Tawada formuliert hat – im „zukünftigen Licht der Übersetzung“. Aber er scheint auch die Poesie anderer Dichter im Lichte seiner eigenen Übersetzung zu lesen. In der Übersetzung öffnet sich der Raum, in dem die Stimme des Anderen mit der eigenen zusammenfällt. In dieser Hinsicht kann man einige Übersetzungen Celans aus Ungarettis Werk als Variationen, gar als Weiterführung von eigenen poetischen Diskursen lesen. Insbesondere die „Ultimi cori per la terra promessa“, „Letzte Chöre für das verheißene Land“, die dem Taccuino del Vecchio, dem Merkbuch des Alten, den Takt geben, zeugen von der dichterischen Begegnung zwischen Celan und Ungaretti.
Beide führen ihre Existenz im Exil. Ungaretti, geboren in Ägypten, dann lange in Brasilien, war immer auf der Suche nach einem verheißenen Land, dem er ganz angehören konnte: Paris, Italien. Celan, der nach der Vernichtung seiner Familie und seines Volkes, seiner Welt und seiner Heimat, von Czernowitz über Wien nach Paris flüchtete.
Es ist kein Zufall, dass die Sammlung des Merkbuchs zusammen mit einer Art Festschrift zu Ungarettis 70. Geburtstag erschienen ist, mit Beiträgen von „52 ausländischen Schriftstellern, Dichtern, Essayisten, aus Frankreich, England, Amerika, Deutschland, Spanien, von Bandeira bis Candido, von Char bis Dos Passos, von Eliot bis Emmanuel, von Guillen bis Jouve, von Maritain bis Paulhan, von Perse bis Pound, von Spitzer bis Supervielle, von Tate bis Zervos (…)“. Diese Namensliste allein genügt, um eine internationale Karte der Poesie zu entwerfen. Und es handelt sich um dasselbe Umfeld, in dem Celan als Exilant in Paris so wie vor ihm Ungaretti eine Herberge gesucht hatte. Begegnungsflächen in beider Leben und Werk gäbe es viele, auch abgesehen von der poetischen Internationale der fünfziger Jahre. Für beide ist die Erfahrung des Todes, des Gedenkens, der Trauer entscheidend. Ungaretti, anders als der junge Celan, spürte eine angeborene Familiarität mit der Trauer, die ihm die Mutter mitgab. Der Erste Weltkrieg und das Bewusstein der Sinnlosigkeit, der Entfremdung auf dem Schlachtfeld gaben ihm das Maß der Unsagbarkeit des Leidens vor; der Tod des kleinen Sohnes Antonietto und das Schuldgefühl des Überlebenden kamen dazu. Dichtung, die Suche nach der eigensten Sprache, war für Ungaretti eine Waffe gegen den Wahnsinn des Krieges, ein Ort des trauerenden Gedenkens.
Für Celan ist die Sprache das „Unverlorene“, „inmitten der Verluste“:

Sie, die Sprache, blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, ,angereichert‘ von all dem.

Ungaretti, in einem anderen Ton, aber mit vergleichbaren Worten:

Ist es in diesem Jahrhundert, das seine Kinder zum zweiten Mal in die Hölle des Krieges gestürzt hat, damit sie durch ein ungeheuerliches Leiden das Maß ihrer Zeit für sich erringen konnten, noch möglich, sich zu wundern, wenn die Kunst in die Enge geführt wird, indem sie sich durch die Erneuerung ihrer Ausdrucksmittel quält? Unbestimmt, wie es noch ist, sucht das 20. Jahrhundert seine eigene Sprache (…). Aber die Vergangenheit und die Dimension des Raums haben ihre Eloquenz verloren angesichts der Bescheidenheit und der Verzweiflung derer, die sie befragten.

Der Neubeginn ist für beide eine Suche nach dem eigentlichen Wort, ohne Konzessionen an den Ästhetizismus, immer die „Kreatürlichkeit des Einzelnen“ mitbedenkend. Beide suchen eine Strenge, die nur scheinbar als Hermetik bezeichnet werden kann. Schon Ingeborg Bachmann als erste Übersetzerin der Gedichte Ungarettis verweist auf die doppelte Rezeption des Dichters, dessen Werk von den Lesern zugleich als lyrisch-unmittelbar und als dunkel-hermetisch empfunden wird. Es handelt sich – nach Bachmanns Meinung – um eine Fehlrezeption:

Man sprach von einer „wiedereroberten lyrischen Primitivität“, von der Frische, der Unmittelbarkeit, der Grazie, der Begnadung Ungarettis. Neuerdings heißt es hingegen, er sei ein hermetischer Dichter – aber wer seine Gedichte liest, wird das kaum verstehen.

Lesen wir also ein Gedicht Ungarettis, das den vielsagenden Titel „Sono una creatura“, „Ich bin eine Kreatur“, trägt und das sich aus einem bestimmten Ort und Datum herschreibt – gerade wie dies bei Celan der Fall ist. Als Untertitel steht: „Valloncello di Cima Quattro il 5 agosto 1916“: Ort und Datum einer Schlacht im ersten Weltkrieg.

Come questa pietra
del S. Michele
così fredda
così dura
così prosciugata
così totalmente
disanimata

Come questa pietra
è il mio pianto
che non si vede

La morte
si sconta
vivendo

Wer mit Paul Celans Dichtung vertraut ist, wird sofort die Verschränkung von technischer Konstruktion und Kreatürlichkeit, die Suche nach dem exakten Ausdruck und gleichzeitig die Abgründigkeit der Trauer wiedererkennen.
Die Erfahrung des Todes und eines Leidens, für die es keine Worte gibt, bewirkt bei beiden ein neues Sprachbewusstsein. Ungaretti beschreibt in einem Brief an seinen Freund und Kritiker Giuseppe De Robertis die Aufgabe seiner poetischen Sprache:

Das Wort von allem was dekorativ, rhetorisch, manieriert war, zu scheiden (…). Die Verhältnisse trugen dazu bei: es war das Wort, das ich ,in mir‘ entdeckte, als ich im Schützengraben lag.

Celan benutzt sehr ähnliche Wendungen in seiner „Antwort auf die Umfrage der Librairie Flinker“ (Paris, 1958): Die Sprache der deutschen Lyrik ist „nüchterner, faktischer geworden, sie mißtraut dem ,Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. (…) Es ist also (…) eine ,grauere‘ Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ,Musikalität‘ an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit dem ,Wohlklang‘ gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte.“
Dementsprechend ist Ungarettis wie Celans Sprache eine Sprache, die sich selbst immer fremd bleibt, die wie auf Distanz anngelegt ist. Eine Sprache, die aber durch die Tätigkeit des Übersetzens im beständigen Dialog mit anderen Sprachen bleibt. Ungaretti übersetzte Racine, Shakespeare, Gongora, Mallarmé und schrieb Gedichte auf Italienisch und Französisch. Celan übersetzte Dichter aus acht Sprachen, unter anderen Mandel’stam, Valéry, Char, Rimbaud, Ungaretti, Blok, und schrieb Gedichte auf Deutsch und – wenn auch gelegentlich – Rumänisch.
Ein interessanter Zufall: Beide übersetzten Shakespeare. Der eine 1943/44 in Italien, inmitten des Krieges und der Besatzung („quelle settimane orrende“), der andere 1942/43 im Arbeitslager von Tabâreşti in Rumänien. Für beide handelte es sich um eine geistige Überlebensstrategie. Ungaretti schreibt:

Ich bin einer der letzten Überlebenden einer Generation von europäischen Dichtern, die Shakespeares Sonette in die eigene Sprache übertrugen. Es war, wie ein Rettungsbrett mitten im Schiffbruch des (Schein)willens zur Bemeisterung der Zeit, der seit Petrarca bis zu uns Alten Jahrhunderte lang als Ziel der Poesie angesehen wurde.

Warum Shakespeares Sonette? Eine Antwort kann man in Ungarettis Deutung des Sonetts LIX finden. Shakespeare erlaubt dem Dichter eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Zeit, des Gedächtnisses, des Gedenkens; mit dem Thema der physischen und geistigen Unsterblichkeit, „Themen, die der Dichter syllogistisch zirkulieren lässt, unter der Gestalt eines dritten Themas: dem der ewigen Wiederkehr“. Was bei Ungaretti Unsterblichkeit heißt, sollte bei Celan, Peter Szondis Interpretation folgend, Beständigkeit heißen.
In beiden Fällen ist die Art der Konfrontation, die Art des Meinens, eine sprachlich-poetische. Das Problem der Zeit, der Beständigkeit ergibt seine ganze Kraft als Übersetzungsproblem.

Ungaretti:

An einem kritischen Punkt seines Diskurses hatte der Dichter das Glück, über ein Wort wie ,record‘ zu verfügen. Wie konnte man auf Italienisch dessen doppelten Sinn – den buchstäblichen Sinn von ,archivio‘ (Archiv) und den moralischen Sinn von ,ricordo‘ (Erinnerung), dessen Wirkung die Blindheit des Gefühls durchbricht, bewahren?

Celan, interpretiert durch Szondi:

Constancy ist das Thema von Shakespeares Sonett. Shakespeare behauptet und preist die Beständigkeit seines friend, er beschreibt das eigene Dichten, dessen Gegenstand einzig die Beständigkeit des Freundes (…) sein soll. (…) Anders bei Celan. Er läßt die Sprache sprechen.

Die Struktur des Gedichts, nicht nur die semantische Ebene, ist regelmäßig, parataktisch, „beständig“ gefügt.
Das Gedächtnis bleibt „beständig“ als gerettete Zunge, Rettung der Namen, Rettung und Neubegründung der Sprache. Es handelt sich um eine Beständigkeit, die da ist – trotz „dem, was geschah“. Eine mögliche Wiederkehr der Sprache, der Stimme der Toten. Mit diesem poetischen Programm, das beiden Dichtern mit andersartigen, aber vergleichbaren Modulationen angehört, versuchen wir in zwei Celanschen Übertragungen von Gedichten Ungarettis, die Wahlverwandschaft beider Dichter aufzuspüren.

III Dichtung, in die Enge geführt. Übersetzung, die Raum schafft
„An Paul – / Ingeborg / Sommer 1961“ lautet die Widmung in Celans Exemplar von „Giuseppe Ungaretti: Gedichte. Italienisch und Deutsch. Übertragung und Nachwort von Ingeborg Bachmann. Suhrkamp Verlag 1961“. Vier Jahre später schlägt der Suhrkamp/Insel Verlag Celan vor, eine neue Übersetzung der späten Gedichte Ungarettis zu machen, von La Terra Promessa und Il Taccuino del Vecchio. Celan braucht noch zwei Jahre, um der Suhrkamp- Redakteurin Anneliese Botond seine Zustimmung zu geben. Die Welle der „Lust, Gedichte zu übersetzen“, die Celan in seinem Brief an Gisèle erwähnt, treibt auch das Ungaretti-Projekt mit sich.
Celan arbeitet an den Druckfahnen des Bandes Atemwende, der auch „Atemkristall“ beinhaltet. Und unmittelbar danach begibt er sich an die Ungaretti-Übersetzung. Diese Übersetzungen scheinen mit dem Ton von Celans Gedichten zu sprechen, als ob sich der Übersetzer mit dem italienischen Dichter identifizieren wollte. In einer Notiz für Anneliese Botond prägt Celan eine Deutung der Ungarettischen Sprache, die wie eine Selbstdeutung klingt:

Ich habe mich vor allem bemüht, die Härten und Spannungen zu wahren, aus denen das Original lebt.

Hier handelt es sich nicht darum, einen genetischen Zusammenhang aufzuweisen, sondern eine „Correspondance“ zu erkennen, die erst in der Praxis der Übersetzung zutage tritt.

WEGGEBEITZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Meingedicht,
das Genicht.

Aus-
gewirbelt,
frei der Weg durch den menschen-
gestaltigen Schnee,
der Büßerschnee, zu
den gastlichen
Gletscherstuben und -tischen.

Tief
In der Zeitenschrunde,
beim
Wabeneis
wartet, ein Atemkristall,
dein unumstößliches Zeugnis.

In diesem Gedicht, dem Höhepunkt des Zyklus „Atemkristall“, entwirft Celan eine, wenn auch negative Utopie: die Bewältigung der Bildersprache, des „bunten Gerede“ beziehungsweise der Negation des authentischen Wortes durch eine Wanderung jenseits des Menschlichen, in die kristallisierte Welt der Gletscher. Frost, Eis und Waben haben eine gemeinsame Eigenschaft: Sie bleiben verschlossen, geronnen, behüten aber in sich selbst eine andere Daseinsmöglicheit, die mit dem flüssigen Leben, mit dem Fließen des Lebens zu tun hat: Wasser, Honig. Es ist, als ob sie darauf warten würden, dass jemand (oder etwas) sie in den anderen Zustand bringe. Atemkristall ist eben ein Atemhauch, der geronnen ist. Er liegt „tief, in der Zeitenschrunde“, liegt aber sozusagen gespannt – gespannt in Erwartung. Der Atemkristall will Wort werden und war schon einst Wort, bezeugendes Wort. Wenn dieses zeugende atemkristallene Wort aus der tiefen Zeitenschrunde herauskäme, könnte es als positive Antwort auf die Celansche Frage gelten:
„Wer zeugt für den Zeugen?“
„Atemkristall“ bildet ein utopisches Moment im Werk Paul Celans. Da wird zumindest eine Möglichkeit gezeigt, ein Weg, der auf das Jenseits der Unaussprechlichkeit, des Schweigens verweist.
1967 – die Druckfahnen von Atemwende sind fertig; Celan schreibt weiter, in den Pausen zwischen seinen psychischen Krisen. Er schreibt und übersetzt. Er schreibt. Die Erfahrung der „Wirklichkeit“ des Anderen (des Du) fordert eine strenge „Engführung“ durch Wahn(sinn) und gewalttätige Körperlichkeit. Dies bedeutet das ständige Risiko der definitiven Gefährdung des eigenen Wortes. Aber von diesem Paradoxon lebt die späte Dichtung Celans, wo er die eigene Poetik „zuende denkt“: Nur in der radikalen In-Frage-Stellung seiner Mittel kann der poetische Text weiterbestehen. Er übersetzt. Gerade die Übersetzung bietet Celan einen Ort, an dem die Utopie noch wirksam scheint. In diesem Sinne wirkt die Übersetzung als Teil der eigenen Genesungs- und Überlebensstrategie. Die übersetzerische Tätigkeit findet in einem Raum statt, in dem es luftiger ist als in den Räumen der eigenen Poesie, wo es immer enger wird – bis fast zum Ersticken.
Die Übertragung des 26. Chors von „Ultimi cori per la terra promessa“ gestaltet sich als Variante oder Palinodie des Schlussgedichts des Zyklus „Atemkristall“:

Soffocata da rantoli scompare,
Torna, ritorna, fuori di sé torna,
E sempre l’odo più addentro di me
Farsi sempre più viva,
Chiara, affettuosa, più amata, terribile,
La tua parola spenta.

„La tua parola spenta / dein Wort, das erloschne“ schließt ein Gedicht, das in einem einzigen Atem ausgesprochen werden will. Der Leser muss beim letzten Vers ankommen, um dem Subjekt, der Hauptfigur des Gedichts, zu begegnen. Er erfährt, dass dieses „Du“, an das (an die) sich das Gedicht wendet, verschwunden ist: „soffocata da rantoli“, „weggeröchelt“. In den drauffolgenden vier Zeilen erfahren wir seine (ihre) Anabasis, ein Wiederauftauchen in einem anderen, fremden Zustand („fuori di se torna / außer sich wieder da“), Diesem Sich-selbst-Fremdsein des Du entspricht aber eine ,vertraute‘ und erkennbare Präsenz im Innern des lyrischen Ich: Das Ich hört sie als tiefe, intime Stimme („l’odo più addentro di me / tiefer in mir und tiefer, hör ich es“). Es spürt sie als physisches Erlebnis: „Farsi sempre più viva / Chiara, affettuosa, più amata, terribile“: „reger, lebendiger, / heller, inniger, stärker geliebt, furchtbar“. Das Ich spürt das Wiederkehren des Lebens über den Tod hinaus. Es ist eine innige, warme und gleichzeitig furchtbare Erfahrung.
Was kehrt wieder nach dem Tode, der den Atem erstickt hat? Was ist dieses Du? Es ist das Wort des (der) Anderen: „La tua parola spenta / dein Wort, das erloschene“, „Spenta“, „erloschen“, schiebt das semantische Feld aus dem Atem/Luft-Komplex in den Feuer/Licht-Komplex. Das wiederzubegegnende Wort steigt aus der Asche und bringt wieder Licht, Wärme, Luft. Es ist „terribile“, „furchtbar“, weil es für das Erlöschen, für das Ersticken zeugen soll. Das wiederzubegegnende Wort in Ungarettis Gedicht antwortet in der Tat auf die Erwartung des atemkristallenen Wabeneises in Celans Gedicht: „Dein unumstößliches / Zeugnis“ ist, wie „la tua parola spenta“ bei Ungaretti, Ziel-Wort und -Figur des ganzen Textes, nur am Ende genannt.
Wenn wir jetzt die Celansche Übertragung lesen, finden wir Spuren eines Dialogs auf Distanz zwischen den beiden Texten, wo Celans Stimme auf Ungaretti, aber auch auf seine eigenen offenen Fragen und Hoffnungen, auf seine Erwartungen antwortet:

Weggeröchelt,
da, wieder da, außer sich wieder da,
tiefer in mir und tiefer, ich hör es,
reger, lebendiger,
heller, inniger, stärker geliebt, furchtbar:
dein Wort, das erloschne.

Noch strenger als im Original richtet sich durch die appositionelle Konstruktion die ganze Spannung auf den letzten Vers. Ein Celansches Zeugnis ist eigentlich schon der erste Vers: „Weggeröchelt“, der einen ganzen Satz des Originals in ein Kompositum eigener Hand ,gerinnen‘ lässt. Das erste Wort beziehungsweise der erste Vers der Celanschen Übersetzung verweist auf den ersten Vers von Celans Gedicht „Weggebeizt“.
Wo das incipit als Kondensation des Originals bezeichnet werden kann, wird der Schluss mit Pausen und Hervorhebungen übersetzt, die im Original nicht zu finden sind. Bei Ungaretti liest man „la tua parola spenta“, in einem einzigen Atemzug. „Dein Wort, das erloschene“: Diese sehr Celansche (und auch hölderlinhafte) Wendung integriert im Vers, zwischen Wort, Erlöschung und Erlösung eine Pause, eine für Celan unabdingbare „Atemwende“. Es ist, wie schon die Wortkonkretion des Anfangsverses, eine Art Unterschrift des Übersetzers, der diese Übertragung als Dichtung eigener Hand wiederschreibt. Das Wort, einst erloschen, das wieder Licht wird, das Wort jenseits des letzten Atemzugs, der aus dem Tode, aus der Asche wiederkehrt. Das Wort, das sich sinnlich spürbar macht. So weist sich Wiederkehr ins verheißene Land aus: „da, wieder da, außer sich wieder da“.
Man kann vielleicht einen anderen Text zu diesem Thema in Erinnerung ziehen, wo eine vergleichbare verzweifelte Hoffnung zutage tritt: „ES IST ALLES ANDERS“ aus dem Gedichtband Die Niemandsrose 1963 erschienen. Hier thematisiert Celan eine Wiederkehr ins verheißene Land. In einer visionären Progression von Bildern und Orten wird eine Wiederkehr des „Anderen“ im „Ich“ besungen (Mandel’stam in Celan, Celan in Mandel’stam), durch das Tauschen der Hände und der Arme, des Wortes und des Namens.

der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm,
was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab, mit Händen,
du löst ihm den Arm von der Schulter, den rechten, den linken,
du heftest die deinen an ihre Stelle, mit Händen, mit Fingern, mit Linien,

– was abriß, wächst wieder zusammen –
da hast du sie, da nimm sie dir, da hast du alle beide,
den Namen, den Namen, die Hand, die Hand,
da nimm sie dir zum Unterpfand,
er nimmt auch das, und du hast
wieder, was dein ist, was sein war,
(…)

Die Formel der Wiederkehr, der Wiederholung wird als magische Formel benutzt. Sie ruft die Wiederkehr der physischen Liebe und des Lebens hervor.

(…), die Liebe
kehrt in den Betten zurück, das Haar
der Frauen wächst wieder,
die nach innen gestülpte
Knospe an ihrer Brust
Tritt wieder zutag, lebens-,
herzlinienhin erwacht sie
dir in der Hand, den Lendenweg hochklomm,
– (…)

Es ist auch die Wiederkehr in ein verheißenes Land, das alle Exilländer und Heimatländer zusammenrafft:

wie heißt es, dein Land
Hinterm Berg, hinterm Jahr?
(…)

es wandert überallhin, wie die Sprache,
wirf sie weg, wirf sie weg,
dann hast du sie wieder, wie ihn,
den Kieselstein aus
der Mährischen Senke,
(…)

längst
ist er fort, wie die Briefe, wie alle
Laternen, wieder
mußt du ihn suchen
(…)

Das ganze Gedicht fließt hin bis zum Licht eines neuen Beginns:

ein fluß,
du kennst seinen Namen, die Ufer
hängen voll Tag, wie der Name,
du tastest ihn ab, mit der Hand:
Alba.

Das Wiederwachsen von Augen und Armen auf verkrüppelten Gesichtern und Körpern war schon ein prägendes Bild der Poesie Ungarettis, und zwar des letzten, kulminierenden Gedichts des Merkbuch des Alten: „Per sempre“. Dieser Text thematisiert auch eine Wiederkehr nach dem Tode, im tiefsten Gedächtnis, im Traum. Es wird ein Moment isoliert, in dem die Erinnerung, „die Erinnerung (…) zerbricht die Blindheit des Gefühls“, und „spende(t) Licht, aufs neue“ („ridaranno luce“ heißt es im Gedicht). Ort des Gedichts ist der Traum, jenseits von Zeit und Ort, jenseits von Leben und Tod. Hier spannt sich der Raum für die Utopie einer wiedergewonnenen physischen und geistigen Integrität auf – in dem schon die Shakespeare-Übersetzungen angesiedelt waren. Diese Integrität beziehungsweise Unsterblichkeit ist erst möglich, wenn das Ich sich von der Stimme des Anderen durchdringen lässt, wenn diese Stimme wieder hörbar ist. Die Stimme wird zuerst als körperliches Gefühl spürbar. Diese Bewegung, die in die Tiefe der Kreatur als Leiden und Gedächtnis hinuntertaucht, um dann als Wort wiederzukehren, ist in beiden Gedichten, in „ES IST ALLES ANDERS“ und in „Per sempre“ nachweisbar.
Celan übersetzte „Per sempre“ erst 1967/68, aber kannte den Text schon seit dem Sommer 1961, in der Übertragung von Ingeborg Bachmann. Er kannte ihn also vor 1963, dem Entstehungsjahr des eigenen Gedichts „ES IST ALLES ANDERS“. Hier soll nicht von einem direkten Einfluss die Rede sein. Das ist unumstößlich nicht zu beweisen – und es ist nicht unser Thema. Hier geht es darum, die Texte miteinander ins Gespräch, in ihre „fremde Nähe“, kommen zu lassen.

PER SEMPRE
Roma, il 24 maggio 1959

Senza niuna impazienza sognerò,
mi piegherò al lavoro
Che non puo mai finire,
E a poco a poco in cima
Alle braccia rinate
Si riapriranno mani soccorrevoli,
Nella cavità loro
Riapparsi gli occhi
E d’improvviso intatta
Sarai risorta, mi farà da guida
Di nuovo la tua voce, per sempre ti rivedo.

FÜR ALLEZEIT

Ohne ein Gran von Ungeduld geh ich ans Träumen,
mache ich mich an die Arbeit, die nicht mehr enden kann,
und nach und nach an der Spitze,
tun sich den wiedergeborenen Armen
hilfreiche Hände auf,
in deren Höhlung
tauchen die Armen auf, wieder spenden Licht, aufs neue,
du wirst auferstanden sein, unversehens
eine Unversehrte, und es geleitet mich
erneut deine Stimme,
für allezeit seh ich dich wieder.

Rom, am 14. Mai 1959

IV Epilog
Ungaretti schrieb 1925 in „Inno alla Morte“:

Amore, salute lucente,
mi pesano gli anni venturi.

Abbandonata la mazza fedele,
Scivolerò nell’acqua buia
Senza rimpianto.

Er wird trotzdem als alter, verehrter Dichter im Juni 1970, in seinem 82. Lebensjahr sterben. Nur zwei Monate vor ihm wird Celan noch jung, in seinem 50. Lebensjahr, „ins dunkle Wasser“ der Seine geglitten sein.
Bei aller Nähe, der verschiedenartige Epilog ihres Lebens spricht auch für die Andersartigkeit der Wege ihrer Poesie. Der eine findet den Weg zum Wort, vertraut seiner Sprache und seiner Existenz:

Nur die Poesie – ich weiß, ich habe es schrecklicherweise gelernt –, nur die Poesie kann den Menschen zurückgewinnen, sogar wenn – bei wachsendem Unglück – jedes Auge bemerken kann, dass die Natur über die Vernunft herrscht und dass der Mensch viel weniger durch seine eigene Tätigkeit als durch die Willkür des blinden Elements bestimmt wird.

Der andere spürt die Gefährdung des eigenen Wortes. Aber in Celans Ungaretti-Übersetzungen zeigt sich noch eine Suche nach der Wiederkehr des Wortes, des Lebens, der Stimme und des hellen, warmen Lichts der wiedergeborenen Toten (Menschen und Orten). Eine Hoffnung auf Anabasis, die der eigenen Dichtung schon versperrt war.

Camilla Miglio, aus Text+Kritik. Paul Celan, Heft 53/54, edition text + kritik, November 2002

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Werner Menapace: Die Ungaretti-Übertragungen Ingeborg Bachmanns und Paul Celans
Diss., Insbruck 198o

 

 

Theo Buck: Exkurs: Celan als Übersetzer

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer + ÖM + ArchivIMDb +
PCLZ + PCLZKanal + KLG
Georg-Büchner-Preis
Porträtgalerie: Keystone-SDA
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Nachruf auf Paul Celan: Neue Literatur

 

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Hans-Jürgen Heise: Ungaretti: Die lichtvolle Hermetik
Die Tat, 10.2.1973

Fakten und Vermutungen zum Autor + KLfGIMDb +
Internet Archive + Kalliope
Porträtgalerie: Brigitte Friedrich Autorenfotos + Keystone-SDA +
deutsche FOTOTHEK
Nachruf auf Giuseppe Ungaretti: Tat

 

Giuseppe Ungaretti liest Inno alla morte.

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