Gunnar Ekelöf: Dīwān über den Fürsten von Emgión

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Gunnar Ekelöf: Dīwān über den Fürsten von Emgión

Ekelöf-Dīwān über den Fürsten von Emgión

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Könnte ich Hohes beschreiben
wählte ich Blau
und zwei Staubkörner Gold:
Einen Stern überm Kopf
einen Stern an den Füßen
und unter den Sohlen ein Spiegelbild
das ausläuft in einem Stern

Könnte ich Weites beschreiben
wählte ich eine Umarmung
weil ich Sinne besitze
falsche und primitive
die nicht die Wirklichkeit begreifen die Ist −
Keinen Stern gibt es dort
wo du dein Haupt hast
Keinen Mittelpunkt gibt es
wo deine Füße stehn
Doch einen Fingerbreit deiner Anmut
hab ich verspürt.

 

 

 

Kommentar

Übersichtsdarstellungen zur schwedischen Lyrik der 60er Jahre heben für gewöhnlich das verstärkte Interesse am sprachlichen Experiment und der konkreten Poesie hervor, etwa bei Erik Beckman oder Bengt Emil Johnson, andererseits aber das Streben nach einer neuen Einfachheit und Sachlichkeit, das bald, während der Zeit des Vietnamkrieges, entschiedene politische Implikationen erhalten sollte. So unterschiedliche Lyriker wie Göran Sonnevi, Lars Gustafsson oder Tobias Berggren sind alle dieser zeittypischen Welle mit ihren Forderungen nach politischer Bewußtwerdung verhaftet. Vorherrschend war ein kompakter Konsens in bezug auf die sekundäre, dienende Rolle der Literatur gegenüber der wichtigsten Zielsetzung: der Schaffung einer sozialistischen oder sonstwie utopischen Gesellschaft.
Und dennoch war gleichzeitig, und ist es heute noch mehr, bei der schwedischen Kritik fast ebenso einhellig die Ansicht verbreitet, das bemerkenswerteste poetische Werk jener Zeit stamme von einem Lyriker, der sich weitab vom Kreis der engagierten Dichter befand: Gunnar Ekelöf, der mit dem sogenannten Akrit-Zyklus, drei Gedichtsammlungen, die in den drei Jahren vor seinem Tod im Jahr 1968 entstanden, den Höhepunkt seines Schaffens erreichte. Ekelöfs visionäre Dichtung der 60er Jahre ist für jene Zeit eine Anomalie, zugleich aber läßt sich ebenso eindeutig nachweisen, welch einzigartige Rolle Ekelöf bis zum Schluß als Lehrmeister der in den 60er Jahren hervortretenden Generation spielte. Zwar wurde er bisweilen zur Zielscheibe von Polemik, doch wie so oft verriet die Polemik nur eine tieferliegende Abhängigkeit. Der Einzelgänger Ekelöf blieb eine unstreitige Autorität, und im Unterschied zu fast allen anderen inzwischen klassisch gewordenen Werken der schwedischsprachigen Dichtung, blieb Ekelöfs Lyrik völlig unabhängig von den Wechselfällen des literarischen Klimas lebendig.
Ekelöfs Spätwerk – die Trilogie Dīwān über den Fürsten von Emgión (Dīwān över fursten av Emgión, 1965), Das Buch Fatumeh (Sagan om Fatumeh, 1966) und Führer in die Unterwelt (Vägvisare till underjorden, 1967) – weicht aber nicht nur vom gängigen lyrischen Sprachgebrauch seiner Zeitgenossen ab, es markiert auch in seinem eigenen Schaffen etwas radikal Neues. Am deutlichsten zeigt sich dies im Dīwān, dessen faszinierender Entstehungsprozeß in der Tradition der Moderne vielleicht nur mit der Genese von Rilkes Duineser Elegien, gut fünf Jahrzehnte zuvor, vergleichbar ist.
Die Gedichte der ersten Abteilung des Dīwān entstanden im wesentlichen während einer aufgewühlten Nacht, als Ekelöf Besuch von seinem Engel erhielt, Ende März des Jahres 1965 in einem Hotelzimmer in Istanbul. Es handelt sich um hymnisch aufgeladene Gesänge auf Ekelöfs ureigene Muse, die sich selbst auslöschende Göttin und Jungfrauenmutter der Mystik – die angerufen wird als „Jungfrau aus Feuer und Nichts“. Der auslösende Faktor des Schöpfungsaktes war die Begegnung mit der byzantinischen Kunst, insbesondere mit einem „zerküßten“ Madonnenbild in einer kleinen Kapelle in der Nähe der Ruinen des Blachernenpalastes.
Ekelöf tritt nun mit einer teilweise neuen hohen Sprache von großer Schlichtheit und Kraft hervor. Ebenso augenfällig aber ist die schmerzliche Nacktheit der Identifikation mit der Gestalt des gefangenen und geblendeten kurdischen Grenzfürsten von Emgión, der in seiner Not Trost bei der gestrengen Jungfrauenmutter sucht, die jenseits der manichäischen Gegensätze steht, jenseits von Gut und Böse, von Teufeln und Göttern, die die Welt beherrschen. Wäre der Dīwān heute erschienen, er wäre von einer verblüffenden Aktualität und Ekelöf würde sicher zum Kreis der Engagierten gezählt, allerdings aus ganz anderen Gründen als in den 60er Jahren. Ekelöfs Engagement für die Sache der Kurden lag ganz auf der Linie seiner Solidarität mit dem als Sündenbock Verfolgten, dem Heimatlosen und Außenseiter ohne Platz in einer kollektiven Wertgemeinschaft.
Bedeutet die Rollenfiktion etwas Neues in Ekelöfs Werk, so ist das Grundthema alt. Das mit einem geblendeten Einzelgänger verknüpfte Ödipusmotiv findet sich in seinem gesamten Schaffen. Und die leidenschaftliche Anrufung der Jungfrau durch den Fürsten weist zurück auf die letzte Strophe eines der bekanntesten Gedichtzyklen Ekelöfs, Nimm und schreib aus der Sammlung Fährgesang (Färjesång) von 1941, wo der Glaube an die Jungfrau quasi als eine Art Lehrgedicht formuliert wird. Die Angerufene zeigt sich dem, der den Daseinskampf zwischen widerstreitenden Gegensätzen durchschaut, als unsichtbare Macht.
Die Anwesenheit des Unsichtbaren, bereits in Ekelöfs Erstlingswerk spät auf erden (sent på jorden, 1932) ein Grundthema, erhält im Dīwān eine neue Intensität. Die Grenze zwischen Erotik und mystischer Hingabe läßt sich ebenso schwer ziehen wie bei dem heute erneut aktuellen Ibn al-’Arabī, jenem sufischen Dichter aus dem 13. Jahrhundert, dessen Sammlung Tarǧumān al-Ašwāq seit den Jahren 1927-28 einen der Grundbezugspunkte für Ekelöf bildete. Die Gedichte im Dīwān nähern sich ständig von neuem dieser Grenze in der Form der Anrede:

Nicht dein Fuß war es den ich begehrte
sondern dein Fuß in Ihrem
deren Schritte ins Nichts führen

Der Fürst wird zur Einsicht gezwungen, daß die Jungfrau des Trostes eine Jungfrau des Durstes ist. Nur die Macht der Entsagung – ein buddhistisch klingender Vorsatz – kann wirkliche Macht verleihen und von Bindungen befreien.

Oh, wer liebte dich nicht
die uns befreit von der Liebe
von Geburt, Schmerz und Tod!

Gunnar Ekelöf gehört zu den großen Dichtern der Negation in der Tradition der Moderne, neben einem Mallarmé, Pierre Reverdy oder Wallace Stevens. Die Bewegung hin zur mystischen Auslöschung fällt in Ekelöfs Dichtung ineins mit dem Liebesakt. Wie Mallarmé könnte auch Ekelöf von sich sagen, „die Zerstörung war meine Beatrice“, allerdings hinzufügen, daß Sie, die Jungfrau, selbst aus Feuer und Nichts ist.
Die Verbindung von Vernichtung und Begehren erreicht ihren am stärksten verdichteten Punkt in jenem Gedicht des Dīwān, das direkt auf die Begegnung mit der verdunkelten Ikone im Innern der Blachernen-Kapelle, neben der Reinigungsquelle der byzantinischen Kaiser, zurückgeht. Die Formel „zerküßt“, die darauf abzielt, wie alles Sichtbare auf der Ikone im Laufe der Zeit durch die Berührung der Lippen abgetragen worden ist, wird ein ums andere Mal in einer beschwörenden, ekstatischen Bewegung wiederholt. Diese ebenso passionierten wie negierenden Lippen verwandeln sich so zu denen des Gedichts selbst.

Alles was wir wünschten
zerküßt
Alles was wir nicht wünschten
geküßt und zerküßt
Alles dem wir entrannen
zerküßt.
Alles was wir wünschen
wieder und wieder geküßt.

Anders Olsson, Nachwort

 

Gunnar Ekelöf

Die erste Aufgabe eines Dichters ist es, sich selber ähnlich, also ein Mensch zu werden. Seine erste Pflicht- oder vielmehr sein bestes Mittel, um dieses Ziel zu erreichen – besteht darin, dass er seine unheilbare Einsamkeit und die Sinnlosigkeit seines irdischen Lebens vor sich selber eingesteht. Dann erst vermag er die Wirklichkeit aller Kulissen, Dekorationen und Vermummungen zu entkleiden. Auf keine andere Weise kann er andern von Nutzen sein, als dadurch, dass er sich in die verzweifelte Lage der andern – und aller – Menschen begibt. Die Sinnlosigkeit ist es, was dem Leben seinen Sinn gibt. Das ist, in aller Kürze, mein credo quia absurdum.

Dieses Zitat aus Ekelöfs Essay „Der Weg eines Außenseiters“, hier zitiert in der „klassischen“ Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger, wie in den Anmerkungen im Band Der ketzerische Orpheus angegeben wird, formuliert präzise den Grund, warum ich seit langem, sporadisch, aber immer wieder, ein Leser der Texte Ekelöfs bin, warum ich mich, ohne die zitierte Textstelle, die mir erst vor kurzem untergekommen ist, zu kennen, der Person und dem Werk dieses Dichters aus dem für mich eher fremden Norden Europas von Anfang an so nahe, verbunden, verwandt, ja sogar seltsam verpflichtet fühle…
Begriffe wie „Außenseiter“, „unheilbare Einsamkeit“, „Sinnlosigkeit des irdischen Lebens“, „Kulissen, Dekorationen und Vermummungen der Wirklichkeit“, „Sinnlosigkeit, die dem Leben Sinn gibt“, „das Absurde“ – gehören auch zu dem Klage-Vokabular, dessen ich mich selber oft bediene, um mein Unbehagen, meinen Unwillen, meinen Missmut, meine Verärgerung, auch meinen Zorn, DAS Leben und MEIN Leben betreffend, zum Ausdruck zu bringen.
(Das österreichische Wort GRANT kommt mir zwangsläufig in den Sinn: ein Begriff, der eine für alle schwer erträgliche Gemütsverfassung beschreibt, zu der ich als Wiener fatal neige und die für mich nicht nur aus vielen der Gedicht- und Prosatexte Ekelöfs spricht, sondern auch aus seiner Physiognomie auf den für mich zugänglichen Fotografien von ihm.)

Ich mutmaße, dass meine Anwesenheit hier heute, meine Teilnahme an dieser Veranstaltung vor allem ihren Grund darin hat, dass man einfach einen LESER brauchte, einen, der kein Literaturwissenschaftler ist, auch kein ausgewiesener Fachmann für das Werk Ekelöfs, sondern einen, der bereit ist, Zeugnis davon abzulegen, dass er und warum er „Ekelöf liest“. Vielleicht war auch meine Position im Literaturleben für die Wahl ausschlaggebend, bin ich doch, wie Ekelöf, seit jeher ein Außenseiter im Betrieb gewesen und einer, der die ihm von Anfang an zugewiesene Rolle des Außenseiters – und übrigens auch die des „érudit“ oder „poeta doctus“ – sehr bald angenommen und inzwischen verinnerlicht hat – und zu Zeiten sogar genießt.

In dem von Kurt Neumann von mir für das Programm verlangten Kern- oder Schlüsselsatz über mein Verhältnis zu Ekelöf stelle ich fest: „… die durch einen Zufall begonnene, dann doch durch lange Jahre durchgehaltene Beschäftigung mit dem Werk und der Person Ekelöfs ist schon bald zu einer beinah esoterischen Identitäts-Erfahrung geworden, quasi zu einem ,déjà vu‘, was Fakten eines Lebens und das Machen von Texten betrifft…“ – ich beschreibe derart also ein Verhältnis, das in manchem gewiss durch Unwägbares, Zufälliges, vage Erahntes, möglicherweise irrelevant Oberflächliches, vielleicht sogar Irrtümliches, Missverstandenes, aber vor allem durch ein erstaunliches, über das Literarische hinausgehendes Gefühl der Nähe, der Verwandtschaft, der Vertrautheit gekennzeichnet ist.
Wie die Einladung zu dieser Veranstaltung zustande gekommen ist, das hätte, mutmaße ich, dem für Mystisches, Esoterisches anfälligen Dichter aus dem Norden gefallen: Kurt Neumanns Einladung erreichte mich, als ich, angeregt durch die Teilnahme am Festival MERIDIAN 2016 in Czernowitz, mich wieder mit den Werken jüdischer Autoren zu beschäftigen, Bücher von Paul Celan, Nelly Sachs und anderen hervorgeholt hatte und wieder darin las, darunter auch in dem Suhrkamp-Band Gunnar Ekelöfs Poesie, in der Übersetzung von Nelly Sachs.
Auf Gunnar Ekelöf stieß ich vor Jahren zufällig. Bei meiner essayistischen Beschäftigung mit dem Werk W.H. Audens fand ich in der Bibliografie der Werke Audens seine Übersetzung von Texten Ekelöfs. Ein paar Jahre später befasste ich mich ausführlich mit Audens Übersetzungen, die er zumeist nach Interlinearübersetzungen anderer angefertigt hatte. Die Texte Ekelöfs in Enzensbergers Museum der modernen Poesie schließlich wiesen mich auf den Band Gunnar Ekelöfs Poesie, Texte in zwei Sprachen hin. Das von mir damals heftig mit Unterstreichungen versehene Nachwort von Bengt Holmqvist beweist mir heute mein von Anfang an lebhaftes Interesse an Ekelöfs Gedichten und der Person des Autors.
Mein Zugang zu Ekelöfs Werk ist ein vielleicht fragwürdig idiosynkratischer: der nämlich der virtuellen Identifikation von Leser und Autor: ein – zugegeben – dilettantischer Zugang zu einem literarischen Werk, der aber – so meine Erfahrung – für mich immer wieder insofern erfolgreich war, als es mir nämlich derart gelang, Autor und Werk, intensiv lesend mir einverleibend, für mich maximal relevant werden zu lassen – will heißen: mit den Büchern und den Autoren buchstäblich zu LEBEN, ja sogar zu versuchen, ihnen NACHzuLEBEN…
Wesentlich ist dabei stets nicht nur das „Erkennen“ der DURCH die Texte und HINTER den Texten für mich spürbar, sichtbar, ja greifbar gewordenen, in manchen Fällen zur Nachahmung und Nachfolge anregenden Person des Autors, sondern auch die banale Tatsache, dass es in den Werken der von mir bewunderten Autoren Gedanken, Sätze, Formulierungen, Texte gab, die ich einfach gern geschrieben hätte oder die auch von mir schon gemachten Aussagen entsprachen oder die, zu meiner Überraschung oder auch Genugtuung, auf mich und mein Leben und Schreiben zutrafen…

Einige Beispiele:

Seinerzeit wollte ich Musiker werden, sah mich aber auf Grund verschiedener Umstände gezwungen, den Gedanken aufzugeben. Deshalb begann ich ernsthaft zu schreiben: ich formuliere seit jeher knapper: „ich schreibe, weil ich als Musiker nichts geworden bin.“

Die Musik war es, die mir das Meiste und Beste gab. Es ist sicher die Bedeutung der Musik für Ekelöf und sein Schreiben, die mich, den gescheiterten Musiker, von Beginn an faszinierte.

Seitdem habe ich alle Gelegenheitsarbeiten der Literatur verrichtet, selbst Ghostwriting, und habe mir gleichwohl Augen, Ohren und Herz nur leicht beschmutzt, (…).Und:

Bisweilen nennt man mich einen Gelehrten, ,un érudit‘, dabei war das nie mein Bestreben. Ich habe nur unsystematisch studiert, und zwar Gegenstände, die von Belang für meine Arbeit als Dichter sein können.

Ich könnte viele Äußerungen in den Gedichten, vor allem aber in den, mir erst vor kurzem vorliegenden Prosaaufzeichnungen Ekelöfs anführen, die, ungeachtet der Unterschiede, was Herkunft, Zeitumstände, Poetik, literarische Leistung etc. angeht, für mich deutliche Hinweise auf Parallelitäten in Ekelöfs und meinem Leben und Schreiben enthalten und mich derart von Anfang an zu einer intensiven Beschäftigung mit seinem Werk motiviert haben.
Wohin ich Ekelöf nicht nachfolgen kann und will, das ist seine, für sein Werk unabdingbare, programmatische, dezidierte – zeitgeistige?? – Hinwendung zur Mystik, sein gebildetes Spiel mit diesem Phänomen.
Voll Verständnis für die Faszination, die für Ekelöf von der Mystik ausgeht – wohl auch aufgrund, wie ich noch einmal mutmaße, gemeinsamer wesensmäßiger Voraussetzungen und psychisch-geistiger Entwicklungen (z.B. Sehnsucht nach Selbstvergessenheit, nach Ekstase etc.) – auch ich bewegte mich – suchend – ein Jahrzehnt meines Lebens im Milieu der Anthroposophie Rudolf Steiners, lese auch heute noch, begeistert und voll Neid und Sehnsucht, Bücher über Chassidismus, Sufismus… –, überwiegen in mir heute doch Nüchternheit und Skepsis, ein, altersbedingt, mit Überlebens-Konzepten voll geräumtes Bewusstsein, vor allem aber der instinktive Widerstand dagegen, derart vage wolkige Konzepte, in welcher Gestalt auch immer, als Movens für ein kreatives literarisches Arbeiten zu verwenden ( oder gar zu missbrauchen?).

Für mich ist an der von Mystik bestimmten Trilogie des Spätwerks Ekelöfs, das mich – ich bekenne, am wenigsten interessiert und überzeugt – vor allem das virtuose Hinter- einer – Maske-Sprechen des Lyrischen Ich bemerkenswert… Derartige „Rollenfiktionen“, gelehrte Verbrämungen, „Bildungs-Maskeraden“ finden sich öfter in der Literatur, z.B. bei Pessoa, bei Kavafis… Mit letzterem verbindet Ekelöf übrigens wohl die Absicht, die in einer fiktiven Vergangenheit angesiedelten Gedichte für eine Kritik an der Gegenwart zu instrumentalisieren, allerdings nicht mit dem Mittel der Ironie, wie Kavafis, sondern leidenschaftlich und engagiert, naiv und unverstellt…
Ich lese die Texte des Spätwerks einfach als ausdrucksstarke, direkte, überraschend schlichte LIEBESGEDICHTE…

Ich glaube, dass Ekelöfs poetische Texte in einer „live“ – Präsentation wie Musik erlebt werden sollten: sozusagen AUFGEFÜHRT: laut gelesen und aufmerksam angehört – KONSUMIERT, nicht unbedingt sofort VERSTANDEN, KAPIERT, aber doch eine immediate emotionale Reaktion bedingend. Das VERSTEHEN ist Sache einer literatur- und sprachwissenschaftlich analytischen Auseinandersetzung mit den Texten, die aber oft Gefahr läuft, sich vom Text entfernend, sich zu verselbständigen, zum Selbstzweck zu werden…
Über dieses Verstehen von Gedichten, sagt Ekelöf einmal, anlässlich von Texten Mallarmés:

Gedichtzyklen, die ich wohl nicht verstand und die wohl auch nicht zu verstehen sind, außer in dem Sinne, dass man den Willen, das Wagnis, die aktive Künstlermoral versteht, (…).

Ich wählte für diese zweisprachige Lesung Texte aus, die – didaktisch – eine Art Poetik formulieren – wie POETIK, DINGLICHE POESIE –, Texte, die für mich überzeugend musikalisch strukturiert sind – wie DORDOGNE (das mich an das in Ton und Inhalt ähnliche SONETT AN ORPHEUS XI (Zweiter Teil) erinnert), JARAMA und vor allem ABSENTIA ANIMI, ein Text, in dem Ekelöfs Konzepte von „Unfoug“ und „non sense“, von Musik und Mystik beispielhaft verwirklicht sind – ein für mich, wegen der gelungenen Musikalisierung, ganz besonders rätselhafter und reizvoller Text, auch als ich noch nicht Ekelöfs Bemerkung darüber kannte: (…) „der Versuch, auf die Poesie eine Art musikalischer Form anzuwenden, etwas, das mir unendliche Mühe bereitet hat und wohl nur in ABSENTIA ANIMI halbwegs gelungen sein durfte“; und schließlich eine Reihe von Texten aus DIWAN ÜBER DEN FÜRSTEN VON EMGION.

Hans Raimund, in Hans Raimund: Neigungen. Zuneigungen | Abneigungen | Verneigungen. Porträt des Autors als Leser, Löcker Verlag, 2019

 

Fakten und Vermutungen zum Übersetzer

 

Fakten und Vermutungen zum Autor + IMDb + Internet Archive +
Kalliope

 

TV-Porträt über Gunnar Ekelöf Eine Welt, jeder Mensch…

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