H.C. Artmann: Zu H.C. Artmanns Gedicht „landschaft 8“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu H.C. Artmanns Gedicht „landschaft 8“ aus H.C. Artmann: Das poetische Werk – Landschaften. –

 

 

 

 

H.C. ARTMANN

landschaft 8

ein ersehntes gewitter hat sich der kuh in die hörner
gesetzt es trottet näher die langsame kuh ist das

haustier der eichen durch die schatten die ein friedlich
ereignis vorauswirft spaziert diese kuh an den hörnern

gewitter sekunden vergehn am expreßzug er huscht in die
ferne jeder blitz sitzt noch fest in hülsen aus messing

oho der schäfer in loden kratzt sich am glied es wird
ein gewitter geben ich spür es ich habe noch vieles zu

tun ein jüngling wirft einen cent in den fischteich der
schlägt ihm ein auge aller donner ist noch zum trocknen

an freyas leine der mann von der bahn versieht seinen
handgriff an halbdunklen weichen er kratzt sich am glied

oho es wird ein gewitter geben ich spür es ich habe noch
vieles zu tun ein kuh kommt aus eichen hervor trägt

hülsen aus messing die leine ein leinchen von horn zu
horn gehts mit trocknendem donner im duftenden westwind

der in eichen erwacht flattert freyas reinheit ein jüngling
kratzt sich am glied oho es wird ein gewitter geben ich spür

es ich habe heute gar nichts zu tun das gefällt mir ein regen
geht nieder die blitze zersprengen die hülsen der donner

verläßt seine klammern scheu wird die kuh geneigter die
eiche der jüngling zu ihr: mit freyas erlaubnis ein kuß

 

Ein gedicht und sein autor

Ich habe ihnen das gedicht „landschaft 8“ vorgelesen. Es stammt aus einem zyklus von zwanzig gedichten, die unter dem gleichen titel stehen. Ich möchte ihnen – nach maßgabe meiner fähigkeit, die allerdings nicht besonders aufs essayistische geht – zunächst erläutern, was für mich das wort „landschaft“ bedeutet und welchen platz es im haushalt meiner sinnlichen erfahrungen einnimmt.
1961 fiel mir in Stockholm das buch Iter Laponicum von Carl von Linné in die hand. Linné war damals, anfang des 18. jahrhunderts, student der naturwissenschaften und erhielt ein stipendium, das ihm nach Lappland zu reisen ermöglichte, um dort natur und bewohner zu studieren. Über diese reise verfaßte Linné einen umfangreichen wissenschaftlichen bericht. (Er ist in der bibliothek zu Stockholm zu sehen). Gleichzeitig aber führte Linné ein privates tagebuch über seine beobachtungen, meist unter den schwierigsten umständen, während kurzer rastpausen oder auf dem reittier. Dieses tagebuch ist fetzenhaft, bruchstückartig, unvollständig und unvollkommen. Aber als ich es las, war mir sofort klar, daß ich hier etwas für mich ungeheuer wichtiges gefunden hatte. Daß ich das buch später übersetzte, ist eigentlich nur eine randerscheinung. Was mich faszinierte, war nicht der behäbige und distanzierende bericht eines naturforschers, sondern es waren die strahlenden momentaufnahmen winziger dinge, seien sie organischer oder anorganischer, materieller oder sozialer art: abgesprungene, isolierte details und im strahlenglanz ihrer leuchtenden faktizität. Hier finden sich minibeschreibungen von pflanzen und gerade aufgebrochenen blüten oder eines bestimmten sonnenwinkels, in dem sie erglühen. Da gibt es listen von mineralien und holzarten, von kochrezepten und interieurs von rauchstuben, badekammern und auch ungewollt „poetische notizen“ über merkwürdige augenkrankheiten oder, meinetwegen, harnleiden, vogelarten, lurcharten, mitternachtssonnenerscheinungen, und alles in der wertfreien gleichzeitigkeit des daseins. Ich will ihnen aus diesem buch ein paar beispiele geben, die meine faszination erklären:

„Die lerche sang den ganzen weg für uns, sie zitterte in der luft
Ecce suum tirile, tiriIe, suum tirile tractat
Im walde, an der jenseitigen seite des sumpfes, standen alle arten
Lycopodia: sabinae, cupressi, abietis bifurcati.
Nomina plantarum:
Botska. wird gegessen, alias Rasi. Engelwurz
Fatno. Angelica. Caulis. Engelwurz
(stengel und blätter)
Jerja. Sonchus purpur.
Gänsedistel
Jert. Ölsenich, wird als Ingwer gebraucht.
Hótme. Rausch- oder Trunkelbeere, Moorbeere
Cheruna. Schneehuhn, zart und klein
Lues. Großer Lachs
Stabben. Frauenfisch.
Ketke. Vielfraß.    usw.

Ich hatte sogleich nach meiner ankunft ein zimmer bekommen und mich eben hingelegt, als ich an der wand ein licht erblickte. Ich fürchtete einen brand, sah aber gleich darauf durchs fenster, wie die sonne ganz rot aufging, was ich noch längst nicht erwartet hatte. Der hahn begann zu krähen und die vögel zu singen. Allein der sommer wollte nicht kommen.“ Und so geht es weiter.
Es sind beobachtungen, nicht feinsinnig, nicht ästhetisierend und exklusiv, sondern handfest und sich berufend auf die groben tatsachen, denen das leben gerade in diesem landstrich unterworfen ist. Linné hat sich wortlisten zusammengestellt, behelfsmäßige vokabelsammlungen und alles trägt in sich ein moment des surrealen und gleichzeitig eine augenblickshafte erscheinung des willens und der selbstbehauptung, die das einzelne bild und das isolierte wort hineinstellt in eine umgreifende erfahrung. Wir kennen den begriff vom automatischen schreiben. Er ist hier nicht anzuwenden. Aber das erzwungene schreiben unter widerstrebenden umständen, das rasche festhalten von eindrücken hat ein ähnliches ergebnis. Es sind vorfabrikate an worten und erscheinungsketten, erfahrungsbrocken, abgegrenzt und in der abgegrenztheit spontan und versehen mit dem reiz des spontanen, den das feinsinnige, langsame beobachten und aufschreiben kaum zu erreichen vermag.
Schon während der übersetzung des Linné-buches begann ich mit der niederschrift eines imaginären tagebuches. Es erschien unter dem titel Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. In diesem tagebuch wollte ich nicht mein tägliches dasein in seiner abfolge darlegen. Ich versuchte vielmehr, den Blick zu schärfen für die voluminösen einzelheiten dieses täglichen daseins: voluminös nota bene als qualitativer begriff. Ich bin in dieser zeit viel gereist und reisen bedeutet für mich nicht fortbewegung, sondern wohnen dort, wo ich vorbeifahre, sichtbares aufnehmen und mit diesem sichtbaren mein eigenes gesicht zu verändern.
Meine lust, landschaft oder welt zu sehen, ist nicht reguliert vom ehrgeiz eines kartenstechers oder eines geographen, die schlüssige oder geschlossene zusammenhänge und betrachtungen liefern mögen, genau wie auch mein ehrgeiz nicht dahin geht, in einem „klassischen“ romanwerk ein geschlossenes und schlüssiges dasein vorzugeben. Meine vorstellung von landschaft bedeuten der grashügel, über den ich gestolpert bin, der geruch einer straße, um punkt zwölf uhr und nicht später, das singen einer elektrischen säge, während ich hinter den verstaubten stores eines hotelzimmers sitze oder das: in der grünen intimität wuchernder brennessel-wälder die wässer meines bierrausches abzuschlagen.
Ich habe versucht, ihnen die art darzustellen, in der ich landschaften sehe, empfinde und sie in mir identifiziere. Was ich hier erzählt habe, sind voraussetzungen, private einzelheiten: ein gedicht zu schreiben ist etwas anderes. Was sie von mir gehört haben und hören werden, ist unter anderem getragen von dem wortmaterial: gewitter, kuh, schatten, schäfer, loden, gewitter, kuh, messing, leine, hülse, blitz, messing, jüngling.
Hinter diesen worten stehen vorstellungen, die „ich“ habe, die ich mehr oder weniger privat besitze, aber diese vorstellungen geben kein gedicht. Ich habe vorstellungen und setze sie ein. Dieser einsatz entfremdet mir in gewisser weise meine privaten vorstellungen: denn worte haben eine bestimmte magnetische masse, die gegenseitig nach regeln anziehend wirkt; sie sind gleichsam „sexuell“, sie zeugen miteinander, sie treiben unzucht miteinander, sie üben magie, die über mich hinweggeht, sie besitzen augen, facettenaugen wie käfer und schauen sich unaufhörlich und aus allen winkeln an. Ich bin kuppler und zuhälter von worten und biete das bett; ich fühle, wie lang eine zeile zu sein hat und wie die strophe ausgehen muß. Der blitz begattet sekunden, die hülsen finden sich in messing, die kuh nimmt gewitter auf hörner, Freyas reinheit reizt den jüngling, der schäfer kratzt sich am glied, der jüngling kratzt sich am glied, der mann von der bahn kratzt sich am glied und versieht seinen griff.
Sie sehen, meine damen und herren, ich rede nicht von meinen gefühlen; ich setze vielmehr worte in szene und sie treiben ihre eigene choreographie.
Meine gedichte, die ich hier unter anderem vorlese, heißen „landschaften“. Sie sehen, daß es keine landschaften im hergebrachten sinne sind, sondern innere landschaften, imaginäre paysagen, landschaften, die die worte sich selbst schaffen oder die durch worte neu erstellt werden.

H.C. Artmann, aus: Walter Höllerer (Hrsg.): Ein Gedicht und sein Autor, Literarisches Colloquium, 1967

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