Hans Thill: Zu Hans Thills Gedicht „Eukalyptusbonbon“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Hans Thills Gedicht „Eukalyptusbonbon“ aus Hans Thill: Kühle Religionen.

 

 

 

 

HANS THILL

Eukalyptusbonbon

Mons Tabor in jedem gelobten Land
ein nasser Topf
die Kälte griff uns zwischen die Ohren
wir ein schwerer Wind über die Westerwelt
Klotz am Bein

Mann für Mann seit langem
schon Kleinholz und kein Härchen
gesehen auf der Zunge den klebrigen
kühlen Kern

oh du usw.
Montabaur geschmetterter Tafelberg über
Spritgeruch gelalltes Massiv
jeder in seinem gepanzerten
Maul ein Lied aus dem Kalyptischen
oh du usw.

Kein Winterdienst
half uns über die testamentarische Platte
aus Wetter Schlacke Kreuz und Leder
die Faust unsere einzige Braut

 

Heute wollen wir marschier’n, einen neuen Marsch probier’n,
in dem schönen Westerwald, ja, da pfeift der Wind so kalt;
in dem schönen Westerwald, ja, da pfeift der Wind so kalt.

O du schöner Westerwald, (Eukalyptusbonbon!)
Über deine Höhen pfeift der Wind so kalt,
Jedoch der kleinste Sonnenschein
dringt tief ins Herz hinein.

Und die Gretel und der Hans geh’n des Sonntags gern zum Tanz,
weil das Tanzen Freude macht, und das Herz im Leibe lacht;
weil das Tanzen Freude macht, und das Herz im Leibe lacht.

O du schöner Westerwald…

Ist das Tanzen dann vorbei, gibt es meistens Keilerei,
und vom Bursch, den das nicht freut, sagt man, der hat ja keine Schneid;
und vom Bursch, den das nicht freut, sagt man, der hat ja keine Schneid.

O du schöner Westerwald…

anonym

 

Als Junge habe ich das Lied noch gehört.

Damals befand ich mich in einer nebulösen Zwischenzeit, in der Idyll und Revolte sich mischten, Lagerfeuer, Steckenwurst und Joint. Die Älteren unter den Pfadfindern sangen es manchmal im Auto, wir Knaben mochten das Gegröl nicht hören, dieses Lied wurde nicht gesungen. War unsere Abneigung schon ideologiekritisch, oder störte uns einfach nur, daß es aus Bierseligkeit geschmettert wurde, also gleichsam dem falschen Rausch entsprungen war, wenn man es mit dem Geschrei unserer Pop-Songs verglich? Daß es ein Wehrmachtslied war, wußte ich, wer hat es mir gesagt?
Marschlieder gibt es viele. Dieses hier war erst in den dreißiger Jahren offenbar im Bergwerk entstanden (Arbeitsdienst der „Siegfriedhütte“, Daaden), wurde innerhalb kurzer Zeit zum offiziellen Marschlied der Wehrmacht befördert und ist heute noch im Internet als „Volkslied“ zu finden. Es faszinierte mit seinem schmissigen Refrain und gewiß auch, weil ein Paradox diesen vorwärtstreibt: schöner Westerwald – kalter Wind. Ironie gegen eine Region, die damals nicht zu den bevorzugten Feriengebieten zählte. Richtig einprägsam wird es durch das vermutlich spontan hinzugefügte „Eukalyptusbonbon“, das als infantil-hypochondrischer Nachtreter die Sache zu einem Kasernenhofwitz der milderen Sorte macht. Verräterisch diese gestiefelte Harmlosigkeit des deutschen Landsers, die mit zu dem Grauen gehört, das er überall hinterlassen hat, wo er durchmarschierte.
Als ich mir im Jahr 2001 für ein Stipendium des Umweltministeriums Rheinland-Pfalz („An die sieben Himmel“) Lektüre über den Westerwald besorgt hatte, stellte ich fest, daß hinter diesem Schlager aus vergangener Zeit eine historische Realität steckte: der Westerwald war seit der römischen Besatzung Durchmarschgebiet zahlreicher Armeen, eine leicht überschaubare Kammstraße machte es den Soldaten ebenso leicht wie dem Wind. Jetzt erfuhr ich auch, daß Montabaur, die südlichste Stadt des Westerwalds, seinen Namen vom Mons Tabor ableitet, jenem Berg in Galiläa, der im Neuen Testament der Berg der Verklärung ist.
So entstand dieses Gedicht als deutscher Klonmythos aus Fundstücken: Wehrmachtspsychologie, Lesefrüchte, Lutherbibel, Werbe-Slogan, Hinweisschild, Männerwitz.

Aus Manfred Enzensperger (Hrsg.): Die Hölderlin Ameisen, DuMont, 2005

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