Hendrik Rost: Der Pilot in der Libelle

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Hendrik Rost: Der Pilot in der Libelle

Rost-Der Pilot in der Libelle

1969

Love travels at illegal speed

Ein falscher Befehl an den Computer,
und Erinnerung hat keinen Ort.
Die Mondlandung habe ich vor Augen,
als wäre ich dabei gewesen.
Ich wollte Notizen aus einem Dokument
kopieren, der Verlust
kostet mich eine halbe Nacht.
Der Sommer war heiß
Aldrin und Armstrong schweben noch
immer in Schwarzweiß auf dem Trabanten.
In der Computertechnik wurde
ein magnetischer Speicher erfunden,
der Daten sichert, auch wenn das Gerät
ausgeschaltet wird. Theodor W. Adorno
starb, Otto Dix und Rocky Marciano.
In Vietnam gab es ein Massaker.
Ich erinnere mich an Bilder von Woodstock
und vom Christopher Street Day
aus der Tagesschau.
Heintje war auf Platz eins in Deutschland,
das White Album in England und den USA.
Die halbe Nacht.
Meine Mutter verblutete fast bei der Entbindung.
Der Arzt schickte meinen Vater im Wagen
zur nächsten Klinik. Ich sehe ihn
durch die Zeit rasen, auf dem Beifahrersitz
Konserven, das seltene Blut. Das erste künstliche
Herz wurde damals in Texas eingepflanzt.
Der Patient lebte damit, bis ich drei war.

 

Hendrik Rost liest beim Literaturtelefon Kiel aus Der Pilot in der Libelle

 

 

Inhalt

Gedichte vom Unterwegssein und Ankommen.
In bewegenden Bildern von großer Prägnanz und in einer Sprache, die dem Klang der Dinge angelehnt ist, betrachtet der Autor den Alltag aus der Mitte des Lebens: Phänomene teils in extremer Nahaufnahme, teils aus der Warte dessen, der um die Unterschiede zwischen Wahrnehmen und Begreifen weiß. So finden Geburt und Vergänglichkeit ihren selbstverständlichen Platz. Der Blick auf Kreatur, Werk und Erleben geht über den Einzelnen hinaus und wird Überlieferung.

Wallstein Verlag, Ankündigung

 

Von gemeinen Stubenfliegen

„Leben ist Bruch mit Fiktion“ heißt es am Ende eines der Gedichte. Wie eine Quintessenz scheint dieser Satz, deren Ausformulierung es indes gar nicht bedurft hätte, liegt er doch fast allen Gedichten aus Hendrik Rosts viertem Lyrikband mehr oder minder offensichtlich zugrunde. Leben, das ist bei Rost, der unter anderem mit dem Brentano– und dem Dresdner Lyrikpreis ausgezeichnet worden ist, vor allem das Alltägliche, das ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, wenn das einstmals Vorläufige auf Dauer gestellt wird, wenn das frei Flottierende in feste Bahnen einläuft:

Statt eines Rücktrittsgesuchs
schrieb ich eine Liebeserklärung,
und plötzlich war das Leben,
das wir geteilt hatten, unser Leben,
das wir miteinander führen werden.

Das klingt weniger nach Glück des Ankommens als nach Fügen ins Unumgängliche.

Wir besichtigen Wohnungen
für unser Leben, gemeinsam.
Das Gehalt reicht für drei
Zimmer, Bett, Tisch, geteilt.

Eine Lethargie, der keine Verzweiflung, eher etwas Verkniffenes anhaftet, durchzieht viele dieser Gedichte. Wenig überraschend, dass es ausgerechnet die gemeine Stubenfliege ist, die als wiederkehrendes Motiv (welch Euphemismus!) auftaucht. Das Alltägliche, das vermeintlich Nebensächliche entfaltet hier nicht seine verborgenen Reize, sondern verkommt zur Nickligkeit, mit der in biederer Selbstgerechtigkeit gehadert wird.
Symptomatisch für die allgegenwärtige Scheu vor all jenem, was über Biedermanns Gefühlshaushalt hinausgehen könnte, ist etwa das Gedicht „Paarweise“. Eine Kuh steht kurz davor zu kalben, der Beobachter entfernt sich, um bei seiner Rückkehr wenig später das frisch geborene Kälbchen anzutreffen.

Inzwischen
musste Schmerz gewesen und
vergangen sein.

Das Wesentliche, das, was die Routine und emotionale Mediokrität stören könnte, bleibt ausgespart. Warum es das bleibt, könnte man für das große Geheimnis dieser Gedichte halten, wäre man nicht allzu bald der Überzeugung, dass es Rost schlicht nicht interessiert.
Bloß, was um alles in der Welt könnte es dann sein? Die Form der Gedichte bleibt genauso flau und unwesentlich wie ihr Inhalt. Nichts öffnet sich, nichts bleibt in einer Schwebe, die sie irgendwo hintreiben könnte. Nirgendwo entsteht eine sprachliche Spannkraft, die etwas aufbrechen, aus der etwas hervorbrechen könnte. Stattdessen brechen die Gedichte, wie erschlafft, mit dem letzten Wort ab. Fast schon erstaunlich, mit welcher Akribie Rost darüber hinaus darauf geachtet zu haben scheint, dass kein Zeilenumbruch Überraschung oder gar Witz generiert, womöglich eine semantische oder grammatikalische Irritation stiftet, die eine zweite Sinnebene aufblitzen lassen könnte. Von Musikalität ganz zu schweigen.
„Wie über Träume nachdenken, die ich nie hatte?“, heißt es an einer Stelle. Vermutlich gibt es einfach keine Antwort auf diese Frage. Bis auf wenige Ausnahmen – den Ansatz von Humor in „Naturgesetze“, einem Gedicht über die Dynamik, die der eigene Körper auf Fotos annimmt, oder einen Hauch von Sinnlichkeit in „Kinderszene“, einem Winterbild von der Kieler Förde – sind diese Gedichte der deprimierende Beweis nicht nur für die Profanität des Lebens, sondern mehr noch dafür, dass bessere Buchhaltung sein kann, was sich Lyrik nennt.

Wiebke Porombka, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.6.2010

 

Am 1.4.2014 sprachen Hendrik Rost und Ron Winkler untere der Überschrift Kontrastprogramm in der literaturwerkstatt berlin mit Insa Wilke über ihre Bücher und ihr Schreiben.

 

 

Fakten und Vermutungen zum Autor
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Hendrik Rost liest sein Gedicht „Gesellschaftsvertrag“.

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