Horst Bienek: Zu Günter Eichs Gedicht „Zu spät für Bescheidenheit“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Zu spät für Bescheidenheit“ aus Günter Eich: Zu den Akten

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Zu spät für Bescheidenheit

Wir hatten das Haus bestellt
und die Fenster verhängt,
hatten Vorräte genug in den Kellern,
Kohlen und Öl,
und zwischen Hautfalten
den Tod in Ampullen verborgen.

Durch den Türspalt sehn wir die Welt:
Einen geköpften Hahn,
der über den Hof rennt.

Er hat unsere Hoffnungen zertreten.
Wir hängen die Bettücher auf die Balkone
und ergeben uns.

 

Die geköpfte Welt

Neun Jahre lang war kein Gedichtband von Günter Eich erschienen. Die Botschaften des Regens aus dem Jahr 1955 hatten ein paar aufmerksame Kritiker vernommen, aber geschrieben wurde nicht sehr viel darüber. Es war die Zeit, da Eich mit seinen Hörspielen Furore machte. Die Leute saßen an den Radios und ließen sich allein durch Stimmen verzaubern, eine magische Bühne, ach was, eine magische Welt tat sich auf, es war dunkel, abends, und die „Mädchen aus Viterbo“ kamen aus der Höhle nicht heraus, die „Stunde des Huflattichs“ fing an zu singen, und alle zog es auf eine geheimnisvolle Weise in eine fremde, unbekannte, rätselhafte Stadt, obwohl sie doch gewarnt worden waren: „Geh nicht nach El Kuhwed…“ Die Magie des Hörspiels – heute, in der übermächtigen Welt der TV-Bilder, vermag sich keiner mehr davon eine rechte Vorstellung zu machen…
Eich war damals der berühmteste, der erfolgreichste, der meistinszenierte deutsche Hörspiel-Autor. Aber Eich war ein Dichter. Neun Jahre nach den Botschaften kamen neue Gedichte heraus: mit dem kalten, ganz unlyrischen, eher wegwerfenden Titel: Zu den Akten. In dem Band war das Gedicht „Zu spät für Bescheidenheit“ enthalten. Es erfaßte ziemlich genau das Bewußtsein jener Jahre. Auch das politische. Wir sind noch einmal davongekommen. Keine provisorische Baracke mehr. Wir sind wieder in einem festen Haus. Wir werden weiterkommen. Doch die Sicherheit ist trügerisch. Vorräte sind zwar genug in den Kellern, und genug Medikamente sind da. Wir müssen nicht älter werden. Wir verhängen die Fenster. Wir schließen die Zeit aus. Wir leben weiter.
Aber wir haben die Tür nicht ganz geschlossen. Einen Spalt weit blieb sie offen. Und obwohl wir mit dem Weiterleben beschäftigt sind, sehen wir gelegentlich hinaus. Und was sehen wir zu unserem Erschrecken? Unser Ausschnitt der Welt, durch den Türspalt, ist ein geköpfter Hahn, der über den Hof rennt. Also eine Welt ohne Kopf. Und die Welt existiert weiter. Gut, wir geben auf. Wir kapitulieren. Wir hängen die weißen Bettlaken aus dem Fenster. Wir ergeben uns. Doch keiner will mehr unsere Übergabe. Nichts ist mehr so wie es einmal war. Früher stolzierte der Hahn langsam über den Hof, jetzt rennt er, ohne Kopf. Und verkörpert das Bild der Welt.
Ein einfaches Gedicht in der einfachen Sprache der neusachlichen Schule, das uns ganz in seinen Bann zieht, so daß wir Leser uns als Eingeschlossene in diesem Haus fühlen. Ja, wir hissen die weiße Fahne. Wir ergeben uns. Nicht dem Feind. Den Wörtern.
Und der Titel? Nein, Bescheidenheit, Demut, Angst – das alles rettet uns nicht mehr. Es ist zu spät. Es ist zu spät für alles. Die Barbaren sind vor der Stadt, sagt das Gedicht in Erinnerung an einen großen Dichter, an Kavafis. Draußen erwartet uns nicht nur ein geköpfter Hahn. Es erwartet uns eine geköpfte Welt.

Horst Bienekaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreizehnter Band, Insel Verlag, 1990

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