Ingeborg Bachmann: die gestundete zeit

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit

Bachmann-Die gestundete Zeit

EINEM FELDHERRN 

Wenn jenes Geschäft im Namen der Ehre
ergrauter und erblindeter Völker
wieder zustande kommt, wirst du
ein Handlanger sein und dienstbar
unsren Gemarkungen, da du’s verstehst,
sie einzufrieden mit Blut.
Voraus in den Büchern schattet
dein Name, und es verleitet
sein Anflug den Lorbeer zum Wuchs. 

Wie wir’s verstehen: opfre keinem vor dir
und rufe auch Gott nicht an. (Verlangte ihn je
teilzuhaben an deiner Beute? War er je
ein Parteigänger deiner Hoffnungen?)

Eins sollst du wissen:
erst wenn du nicht mehr versuchst,
wie viele vor dir, mit dem Degen
den unteilbaren Himmel zu trennen,
treibt der Lorbeer ein Blatt.
Erst wenn du mit einem ungeheuren Zweifel
dein Glück aus dem Sattel hebst und selbst
aufspringst, verheiß ich dir Sieg!

Denn du errangst ihn nicht damals,
als dein Glück dich besiegte;
zwar sanken die Fahnen des Feindes
und Waffen fielen dir zu
und Früchte aus Gärten,
die ein andrer bebaute.

Wo am Horizont der Weg deines Glücks
und der Weg deines Unglücks
in eins verlaufen, richte die Schlacht.
Wo es dunkelt und die Soldaten schlafen,
wo sie dir fluchten und von dir
verflucht wurden, richte den Tod.

Du wirst fallen
vom Berg ins Tal, mit den reißenden Gewässern
in die Schluchten, auf den Grund der Fruchtbarkeit,
in die Samen der Erde, dann in die Minen von Gold,
in den Fluß des Erzes, aus dem die Standbilder
der Großen gehämmert werden, in die tiefen Bezirke
des Vergessens, Millionen Jahre von dort,
und in die Bergwerke des Traums.
Zuletzt aber in das Feuer. 

Dort reicht dir der Lorbeer ein Blatt.

 

 

 

Die gruppe 47

verlieh in diesem jahre (1953) ihren preis den gedichten einer nahezu unbekannten jungen Österreicherin. studio frankfurt legt die bisher nur verstreut in zeitschriften erschienenen gedichte Ingeborg Bachmanns zum erstenmal gesammelt vor – als beginn des weges einer dichterischen kraft, die sich ebenso unaufdringlich wie unüberhörbar erhebt.

Frankfurter Verlagsanstalt, Klappentext, 1953

Beiträge zu diesem Buch (Erstausgabe/Neuausgabe/Hörbuch):

Gespräch mit der jungen Ingeborg Bachmann
BR Retro Gespräche und Interviews, 10.6.1953

[Klaus Wagner]: Bachmann, Stenogramm der Zeit
Der Spiegel, 18. 8. 1954

Clemens Heselhaus: Suche nach einer neuen Dichtung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. 9. 1954

Heinz Piontek: Ingeborg Bachmann „Die gestundete Zeit“
Welt und Wort, Heft 9, 1954

Albert Arnold Scholl: Die gestundete Zeit. Junge deutsche Lyrik nach dem Kriege
Schweizer Rundschau, 1954/55

Günter Blöcker: Nur die Bilder bleiben
Merkur, Heft 163, September 1961

Günter Blöcker: Auf der Suche nach dem Vater
Merkur, Heft 276, April 1971

Karl Krolow: Nach zwei Jahrzehnten. Neuausgabe der Gedichte Ingeborg Bachmanns
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 3. 1974

Hilde Spiel: Das Neue droht, das Alte schützt nicht mehr
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 8. 1974

Jürgen P. Wallmann: Ingeborg Bachmann: Die gestundete Zeit–Anrufung des Großen Bären. Gedichte. Serie Piper No. 78
Literatur und Kritik, Heft 86/87, 1974

Wilfried Heck: Ingeborg Bachmann „Die gestundete Zeit“. Eine Interpretation
Diskussion Deutsch, Heft 1, 1978

Jochen Hieber: Süße Früchte allein sättigen nicht
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 5. 2004

Uta-Maria Heim: Spuren einer Liebe
Mannheimer Morgen, 10. 7. 2004

Irene Fussl: Die gestundete Zeit der Ingeborg Bachmann
logbuch-suhrkamp.de, 17.10.2023

Beate Tröger: Ingeborg Bachmanns erster Gedichtband „Die gestundete Zeit“ neu aufgelegt
der Freitag, 01/2024

 

Zu Ingeborg Bachmann 

Im Widerspiel des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten… Ich glaube, daß dem Menschen eine Art des Stolzes erlaubt ist – der Stolz dessen, der in der Dunkelhaft der Welt nicht aufgibt und nicht aufhört, nach dem Rechten zu sehen.

Mit diesen Worten schließt Ingeborg Bachmanns Kommentar zu ihrem Beitrag in meinem Buch Doppelinterpretationen.
Es gibt einen Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und mir. Nur einmal sind wir uns ja begegnet, 1957, in München, wo wir einen langen Nachmittagstee in einem Schwabinger Café bis fast zur Mitternacht ausdehnten, und ich schreibe ihr, wie ich, gleich nach unserer Ankunft in Hamburg (nach 22jährigen Exilen), mich vergeblich um ihre Gedichte bemühte, sie waren vergriffen.
„Wunderbar und ermutigend, daß es soviel Leser für Sie gibt“, schrieb ich ihr damals. Ingeborg Bachmann und Günter Eich, das war das Deutschland, zu dem Menschen wie wir zurückkamen.
„Gruß an I. B.“, das ist eine Art Nachwort zu dem Gandersheimer Roswithapreis aus dem Jahre 1974.
Das letzte, was Ingeborg Bachmann zu mir sagte, 1970, als ich sie anrief, im Verlauf der Redaktion von Nachkrieg und Unfrieden: „Gedichte überstehen“, sagte sie. Wir sprachen über die zeitgenössische Krise der Lyrik. Ingeborg Bachmanns Gedichte, die verfrüht auf die Regale kamen, Klassiker bei Lebzeiten, diese Gedichte haben es in sich, das weiß ich sicher.
Zum Schluß eine Strophe aus dem Gedicht „Früher Mittag“, das sie 1952, sechsundzwanzigjährig, nach ihrer ersten Lesung in Deutschland schrieb: 

Wo Deutschlands Himmel die Erde schwärzt,
sucht sein enthaupteter Engel ein Grab für den Haß
und reicht dir die Schüssel des Herzens.

„Ein Grab für den Haß“ verlangte Ingeborg Bachmann. Dieser Ruf wird – und immer von neuem – durch die Jahrhunderte ergehen, in diesem so haßbegabten Lande, das sich aber doch, in den 50 Jahren Bundesrepublik, einen menschenfreundlicheren Ruf verdient hat, wie ich meine. Die „Schüssel des Herzens“ sollte, hoffentlich, von jetzt ab mehr und mehr gereicht werden. 

Hilde Domin, aus Reinhard Baumgart und Thomas Tebbe (Hrsg.): Einsam sind alle Brücken, Piper Verlag, 2001

Die Dichterin Ingeborg Bachmann

– Einleitende Worte zu einer Lesung. –

Unser heutiger dritter Abend der Reihe „Dichter und Gedichte“ gilt heute zum ersten Mal – nach Enzensberger und Bobrowski – dem Werk einer Dichterin: der Österreicherin Ingeborg Bachmann.
Ingeborg Bachmann wurde 1926 in Klagenfurt geboren. Sie studierte in Wien und Paris Philosophie, promovierte mit einer Dissertation über Die kritische Aufnahme der Existential-Ontologie Martin Heideggers und war dann Redakteurin beim Wiener Rundfunk. Sie lebte später als freie Schriftstellerin, unternahm Reisen nach Rom, Zürich, den USA. 1959 war sie Gastdozentin der Universität Frankfurt a.M., wo sie über Poetik las, 1965 Stipendiatin der Ford-Stiftung und lebte in Westberlin. 1953 erschien ihr erster Gedichtband Die gestundete Zeit, 1956 der Gedichtband Anrufung des großen Bären. Neben Gedichten entstanden Hörspiele, so Der gute Gott von Manhattan und Zikaden; Essays, u.a. über den Mathematiker und Philosophen Wittgenstein. Einen nicht unbeträchtlichen Teil im Werk der Bachmann nimmt die Prosa ein: Die Erzählung „Das dreißigste Jahr“ machte sie als Erzählerin ebenso berühmt, wie sie es als Lyrikerin bereits war. Auch als Nachdichterin des italienischen Lyrikers Ungaretti ist Ingeborg Bachmann hervorgetreten. Sie gehörte der Gruppe 47 an.
So äußerlich und knapp dieser Lebenslauf ist, sagt er doch etwas über das Profil dieser Dichterin aus: Bildungsgang und Wirklichkeitaufnahme durch Reisen entsprechen ziemlich genau dem Bild, das man sich von der Entwicklung eines bürgerlichen Intellektuellen macht. Einen solchen Entwicklungsgang, der frei von unmittelbaren materiellen Sorgen gewesen zu sein scheint, deutet Ingeborg Bachmann auch in ihrer Erzählung „Das dreißigste Jahr“. Aber der Held der Erzählung landet in einer Krise, die ihn beinahe das Leben kostet, als er auf der „Flucht“ nach Italien als Anhalter in einen Autounfall verwickelt wird. Krisen behandeln auch andere Erzählungen der Autorin: In „Alles“ ist es eine Ehekrise, in der Erzählung „Ein Wildermuth“ ist es eine Krise, in die ein Justizbeamter gerät, der schließlich „Recht“ und „Unrecht“ in der Gesellschaft völlig in Frage stellt. Auch in dem Hörspiel Der gute Gott von Manhattan gerät ein amerikanisches Zufalls-Liebespaar in einer New-Yorker Hotelnacht in eine Situation, in der sich die Möglichkeiten menschlicher Beziehungen als fragwürdig erweisen. Die Situation des Justizbeamten in der Erzählung „Ein Wildermuth“ wiederum erinnert an die Situation, von der Hugo von Hofmannsthal in seinem „Brief des Lord Chandos“ spricht.
In einer ihrer Frankfurter Vorlesungen zitierte Ingeborg Bachmann aus diesem Text, der in der bürgerlichen Moderne seit einiger Zeit Beachtung gefunden hat. Im Zusammenhang des Vorlesungstextes stehen die Zitate daraus als ästhetisches Kredo der Autorin, denen sie eigene Ansichten vorausstellt:

Der Fragwürdigkeit der dichterischen Existenz steht nun zum ersten Mal eine Unsicherheit der gesamten Verhältnisse gegenüber. Die Realitäten von Raum und Zeit sind aufgelöst, die Wirklichkeit harrt ständig einer neuen Definition, weil die Wissenschaft sie gänzlich verformelt hat. Das Vertrauensverhältnis zwischen Ich und Sprache und Ding ist schwer erschüttert.

Ingeborg Bachmann erwähnt Begriffe wie „Selbstverzweiflung“, „Sprachverzweiflung“ und „Verzweiflung über die fremde Übermacht der Dinge“, welche die Möglichkeiten der Dichtung bedrohen, zumindest aber erheblich einschränken.
Es scheint nicht sinnvoll, wenn derartige Gedanken wir uns über erhaben dünken oder sie beiseite schieben mit dem Bemerken, dies seien ja nicht unsere Probleme. Wir müssen aber, wollen wir die Gedichte der Ingeborg Bachmann verstehen und die Situation der Dichterin begreifen, auch zu den Quellen zurückgehen, auf die sich westeuropäische Lyriker berufen, wenn sie ihre Anschauungen begründen.
Eine solche Quelle ist dieser „Brief des Lord Chandos“ von Hugo von Hofmannsthal.

Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgestreckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen? / Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu sprechen. / Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeines Thema zu besprechen und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ,Geist‘, ,Seele‘ oder ,Körper‘ nur auszusprechen. Ich empfand es innerlich unmöglich, über die Angelegenheit des Hofes, die Vorkommnisse im Parlament, oder was sie sonst wollen, ein Urteil abzugeben. Und dies nicht etwa aus Rücksichten irgendwelcher Art, denn Sie kennen meinen bis zur Leichtfertigkeit gehenden Freimut: sondern die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilse.

Und weiter:

Allmählich aber breitete sich diese Anfechtung aus wie ein um sich fressender Rost. Es wurden mir auch im familiären und hausbackenen Gespräch alle die Urteile, die leichthin und mit schlafwandlerischer Sicherheit abgegeben zu werden pflegen, so bedenklich, daß ich aufhören mußte, an solchen Gesprächen irgend teilzunehmen. Mit einem unerklärlichen Zorn, den ich nur mit Mühe notdürftig verbarg, erfüllte es mich, dergleichen zu hören, wie: diese Sache ist für den oder jenen gut oder schlecht ausgegangen; Sheriff N. ist ein böser, Prediger T. ein guter Mensch; Pächter M. ist zu bedauern, seine Söhne sind Verschwender; ein anderer ist zu beneiden, weil seine Töchter haushälterisch sind; eine Familie kommt in die Höhe, eine andere ist im Hinabsinken. Dies alles erschien mir unbeweisbar so lügenhaft, so löcherig wie nur möglich. Mein Geist zwang mich, alle Dinge, die in einem solchen Gespräch vorkamen, in einer unheimlichen Nähe zu sehen: so wie ich einmal in einem Vergrößerungsglas ein Stück von der Haut meines kleinen Fingers gesehen hatte, das einem Blachfeld mit Furchen und Höhlen glich, so ging es mir nun mit den Menschen und ihren Handlungen. Es gelang mir nicht mehr, sie mit dem vereinfachenden Blick der Gewohnheit zu erfassen. Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich, sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muß: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.

Ein pathologischer Fall? Keineswegs. Oder wir müßten die Äußerungen vieler moderner westeuropäischer Lyriker als pathologisch werten. Auch Karl Krolow klagte im Tagesspiegel vom 20.2.1966:

Sie, die Poesie, ist im zunehmenden Maße mit sich allein geblieben, allein mit dem erregten Zustand, in dem sich die dichterische Feinfühligkeit mit den Wörtern, mit ihrem ,Material‘ befindet. Diese Wörter sind schöner und quälender Un-Sinn, ihre Unordnung, den Widerstand, den sie der Logik leisten, ihre Vieldeutigkeit, ihre Unfähigkeit gegenüber den Tugenden der Folgerichtigkeit, sind das einzige, mit dem sich der Poet einzulassen hat. Sie sind die faszinierenden Ungeheuer; mit denen er seine Schattengefechte austrägt, die unversehens Kämpfe bis aufs Messer werden.

Von Hofmannsthal über Krolow bis zu Ingeborg Bachmann: das offene Eingeständnis, nicht eindeutig sein zu können. Auch Walter Jens spricht von der „Konturenschwäche des Subjekts“, von dem „dünnen Grenzzaun zwischen Ich und Welt“.
Wir, die wir durch die Lyrik von Brecht, Becher, Hermlin, Maurer u.a. an eine klare, eindeutige Position des Dichters gewöhnt sind, die wir in der Aussage des Gedichts den Standpunkt des Dichters klar und eindeutig ablesen wollen, kommen jedoch nicht umhin, uns mit der Position der westdeutschen und westeuropäischen Lyrik auseinanderzusetzen. Auseinandersetzung aber setzt voraus, daß wir diese Positionen als ehrliche, subjektiv unverfälschte annehmen, sie nicht oberflächlich abwerten. Die Tatsache, daß wir die Welt als erkennbar begreifen, berechtigt uns nicht, uns über die Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt, wie sie auch von Ingeborg Bachmann ausgesprochen worden sind, zu mokieren. Worum geht es also? Einmal um die Beseitigung von Klischee-Vorstellungen, die das Werk eines Dichters mitunter überziehen wie der Tang die Schiffswand, zum anderen um die Aneignung solcher Momente eines dichterischen Werks, die uns angehen. Tatsache ist, daß es in der bedeutenderen westeuropäischen Lyrik deutscher Sprache, z.B. bei Paul Celan, bei Nelly Sachs oder bei Ingeborg Bachmann, Momente gibt, in denen das Gedicht sich in sich selbst zurückzieht. Man muß aber unterscheiden zwischen der Dunkelheit, die bei sekundären westlichen Dichtern in Erscheinung tritt, weil es eben „modern“ ist, dunkel zu sein, und jener Dunkelheit, die aus der Situation echter Resignation, ja Verzweiflung kommt, wie sie im „Brief des Lord Chandos“ ausgesprochen wurde. Tatsächlich sind viele Gedichte westeuropäischer Lyriker nicht „diesseitig“, sondern durch eine „Weltabgewandtheit“ gekennzeichnet, die mitunter bereits den Verzicht auf die noch mögliche humanistische Interpretation der Welt einschließt. Derartige Momente gibt es auch im Werk Ingeborg Bachmanns.
Wenn wir uns aber dem Werk dieser Lyrikerin zuwenden, so geschieht das nicht, weil derartige Momente „an sich“ interessant sind, sondern weil unserer Meinung nach, aus diesen Gedichten etwas anderes herauszulesen ist, als manche Interpreten der westlichen Moderne meinen. Unsere Bemühungen sind aber auch das Gegenteil vom vorsätzlichen Unverständnis, das die Schwierigkeiten der spätbürgerlichen Literatur mit dem Bemerken „Das verstehe ich nicht“ abtun zu können glaubt. Resignation und Verzweiflung sind nämlich dort, wo der Lyriker dafür Worte findet, die nicht im Gestammel untergehen, noch Haltungen, die, wenn ein Kunstwerk dabei zustande kommt durchaus noch die Erklärung der Welt einschließen, die uns angehen, gerade weil unsere Weltanschauung die Welt als erkennbar betrachtet.
Viele Gedichte der Bachmann sind schwierig. Im Gegensatz zu Hans Magnus Enzensberger etwa, dessen Gedichte fast immer auf eine ganz bestimmte politische Aussage gerichtet sind und der auch nicht vor dem verbalen Klartext zurückschreckt, wenn er das Ziel der politischen Aussage verdeutlichen hilft, meidet Ingeborg Bachmann in vielen ihrer Gedichte das Direkte. Blitzartiger Wechsel des Standpunktes, Perspektivschwenks innerhalb einer Strophe verlangen vom Leser eine starke Konzentration auf den Text. Oft wird das Einmalige einer individuellen Situation im Gedicht reproduziert; Anspielungen auf Literarisches, Volkskundliches, Mythologisches und auf Märchenmotive erschweren den Zugang.
Es wäre aber grundfalsch, wenn man Ingeborg Bachmann nun – etwa im Gegensatz zu Enzensberger – als eine nicht „engagierte“ Schriftstellerin bezeichnen würde. Das Gegenteil ist der Fall. Das Engagement der Bachmann liegt aber weniger an der Oberfläche als das Enzensbergers. Ihr Engagement steht im Widerstand gegen das Bestehende einer Konsum- und Warenwelt von einer humanistischen Position aus. Es ist dies ein Widerstand, der sich vor allem gegen die Restaurationsbestrebungen der fünfziger Jahre in Westdeutschland und Österreich richtet, der aber nicht, wie oft bei Enzensberger, in der selbstgefälligen Geste, ja im Klischee verharrt, sondern dichterisch die Schönheit der Welt gegenüber den Kräften der Zerstörung zu bewahren versucht. Ingeborg Bachmann findet freilich keine Formel gegen die Macht, gegen die Restauration, aber sie spricht in ihren besten Gedichten aus, wie sich Macht durch Restauration und Restauration durch Macht zu erhalten suchen:

Sieben Jahre später,
in einem Totenhaus,
trinken die Henker von gestern
den goldenen Becher aus.
Die Augen täten dir sinken
. („Früher Mittag“)

Oder in „Die gestundete Zeit“:

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Und in „Alle Tage“:

Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
Bleibt den Kämpfern fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.

Es ist dies ein Widerstand der „Geduld“, der den Anruf an Gleichgesinnte einschließt. Aber er wird dort zur dichterischen Mahnung, über die es keine Auseinandersetzung gibt, wenn es in „Freies Geleit“ heißt:

Die Erde will freies Geleit ins All
jeden Tag aus der Nacht haben,
daß noch tausend und ein Morgen wird
von der alten Schönheit jungen Gnaden.

Mit solchen Gedichten stellt sich Ingeborg Bachmann an unsere Seite, und es ist nun unsere Pflicht, auch Gedichte, die weniger eindeutig sind, uns zu erschließen.
Die Position der Bachmann ist nicht die eines „abstrakten Humanismus“, wie es mitunter zu hören war. Nicht zufällig hat sich die Dichterin an den Großformen der klassischen deutschen Literatur orientiert, wie beispielsweise in der Hymne „An die Sonne“. Diese Orientierung ist nicht nur eine Sache des Formwillens, sondern vor allem Ausdruck einer geistigen Wahlverwandtschaft, ein Affront gegen den sinnzerstörenden Formzerfall der Moderne.
Natürlich ist nicht jedes ihrer Gedichte so schlüssig zu deuten. Eine Reihe von Gedichten anerkennt durchaus den Zerfall der Welt; in ihnen herrscht eine Weltabgewandtheit, banal gesagt: eine Weltuntergangsstimmung, der sie dann nichts mehr entgegenzusetzen hat. So wird ein Stimmungsgedicht, das man vielleicht konventionell als Naturgedicht deuten könnte, zu einem weltanschaulichen Paradigma, in dem über den gegenständlichen Bezug hinaus die Verzweiflung unüberhörbar wird:

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit. („Die große Fracht“)

In dem Gedicht „Anrufung des großen Bären“ wird die Bedrohung der Welt zu einer allgemeinen Bedrohung durch kosmische Kräfte, denen kein Widerstand mehr entgegengesetzt wird:

Fürchtet euch oder fürchtet euch nicht!
Zahlt in den Klingelbeutel und gebt
dem blinden Mann ein gutes Wort,
daß er den Bären an der Leine hält,
und würzt die Lämmer gut.

’s könnt sein, daß dieser Bär
sich losreißt, nicht mehr droht
und alle Zapfen jagt, die von den Tannen
gefallen sind, den großen geflügelten,
die aus dem Paradies stürzen.

Zu den Gedichten der Bachmann, die sich dem Zugang zunächst zu verschließen scheinen, gehört auch „Curriculum vitae“ – Lebenslauf. Aber gerade dieses Gedicht scheint trotz seiner Hermetik geeignet, die dichterische Methode der Bachmann zu verdeutlichen. Es ist nämlich ein merkwürdiges Phänomen, daß die moderne Lyrik das Wort wieder zum eigentlichen Träger seines ursprünglichen Sinnes macht: Es wird beim Wortgenommen. Das macht paradoxerweise die moderne Lyrik mitunter schwerer verständlich, als sie es eigentlich ist. Der an der klassischen und romantischen Lyrik geschulte Leser ist daran gewöhnt, beim Lesen in Sinn-Übertragungen und Metaphern zu denken. Nun ist aber der in dem Gedicht erwähnte Häuptling tatsächlich ein Indianer, der, in die Großstadt verschlagen, über sich meditiert. Um dieses Gedicht zu verstehen, muß man wissen daß Ingeborg Bachmann in New York war; damit wird einem bewußt daß dieses Gedicht tatsächlich ein Gelegenheitsmoment enthält, das sich aus sich heraus ins Allgemein-Weltanschauliche weitet, ohne dabei seine konkrete Bedeutung einzubüßen.
Wer die Gedichte der Ingeborg Bachmann liest, muß wieder lernen, die Dinge beim Wort zu nehmen:

Da ist etwas mit den Tauen geschehen,
man ruft dich, und du bist froh,
daß man dich braucht. Das Beste
ist die Arbeit auf den Schiffen,
die weithin fahren…

Aber auch eine metaphernreiche Sprache meistert die Bachmann:

In den Muscheln blasend, gleiten die Ungeheuer des Meers
auf den Rücken der Wellen, sie reiten und schlagen
mit blanken Säbeln die Tage in Stücke, eine rote Spur
bleibt im Wasser, dort legt dich der Schlaf hin,
auf den Rest deiner Stunden,
und dir schwinden die Sinne
. („Ausfahrt“)

Konkretheit und Metaphorik – beides ist im Werk dieser Lyrikerin enthalten, beides ist kein Gegensatz.
Man hat im Zusammenhang mit dem Werk dieser Dichterin mitunter von einer „inneren Emigration“ gesprochen. Solche Klischees sind mit Vorsicht zu gebrauchen. Tatsächlich konnte es sich bei der „inneren Emigrations Ingeborg Bachmanns nur um eine Emigration aus der kapitalistischen Wirklichkeit handeln. Aber wohin sollte die Dichterin emigrieren? In dem Gedicht „Landnahme“ bekennt sie:

Um dieses Land mit Klängen
ganz zu erfüllen,
stieß ich ins Horn,
willens im kommenden Wind
und unter den wehenden Halmen
jeder Herkunft zu leben!

Solche Verse setzen eine Gegenposition gegenüber der moralischen, sozialen und politischen Wirklichkeit des Westens gewissermaßen von „innen“ voraus. Sie erklären die Aufschwünge ins humanistische Bewußtsein der Hymne „An die Sonne“, aber sie zeigen keinen Weg der Überwindung des Leidens an dieser Welt, auch wenn Ingeborg Bachmann deren Krankheitssymptome sehr genau zu benennen weiß:

Alles Leben ist abgewandert in Baukästen,
neue Not mildert man sanitär, in den Alleen
blüht die Kastanie duftlos, Kerzenrauch
kostet die Luft nicht wieder, über der Brüstung
im Park weht so einsam das Haar…
(„Große Landschaft bei Wien“)

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“, hat Ingeborg Bachmann einmal gesagt. Diese Wahrheit, die über den Zustand eines Teiles der Welt Auskunft gibt, ist es, die uns diese Gedichte wertvoll macht.

Heinz Czechowski, 1967, aus Heinz Czechowski: Spruch und Widerspruch. Aufsätze und Besprechungen, Mitteldeutscher Verlag, 1974

 

Birgit Schmid: „Es gab keinen Ort mehr für sie, der ihr nicht wehtat“ – in Klagenfurt suchte Ingeborg Bachmann Abstand. Und hielt es doch nie lange aus

 

MEIN BETTTUCH BRENNT
Zum 40. Todestag von Ingeborg Bachmann

Ich kenne diese flammen
Ich hatte mich wundgelegen
An heinrich von kleist
In jungen jahren
Und einen brandfleck
Im herzen
Dann tratst du ein
Kurfürstendamm 59/60
Und stöbertest in
Staubigen folianten
Das antiquariat
Verjüngte sich bei
Deinem lächeln
Wir einigten uns auf Else lasker-schüler
Wir hatten noch einen langen weg
Zu ihrem ,weltende‘

Ich war schon in prag
Ein jahr zuvor
Ich weinte in
Theresienstadt
Du wolltest kafka
Eine rose aufs grab legen
Und jacob schnupperte
An deinem lachen
Dann deckte euch
Mein wundgelegenes laken zu
Weil ihr frort
Im jänner ist es
Kalt in prag
Ich kenne die kälte
Ich bin geboren
Im winter
In dem land
Das mich verjagt
Ich habe mein kinderbett
Dagelassen…

Böhmen am meer
Eine obsession
Der dichter
Die sich in illyrien
Wähnen und
Der mimikry von ahornbäumen
Lauschen
Dein kindheitsfluss
Klingt böhmisch
Sagst du
Moldau, donau
Bei mir singen sirenen
In elbe und rhein

Als jacob starb
Nahm ich seine hand
Das war’s sagte er
Und es war viel
Geh jetzt
Der rabbi kommt
… ich ging zu heinrich
An den wannsee
Die spiegelfläche grau
Und steinern wie granit
Tiefgründig und uralt
Das wasser das schweigt…

Jenny Schon

 

 

 

Bachmann  Loops von Tim van Jul

Stimmen zu Ingeborg Bachmann

Hermann Burger: Abend mit Ingeborg Bachmann
DU, Heft 9, 1994

Peter K. Wehrli: Unverbunden in Zürich
DU, Heft 9, 1994

Uwe Johnson: Good Morning, Mrs. Bachmann
DU, Heft 9, 1994

Inge Feltrinelli, Fleur Jaeggy, Toni Kienlechner, Christine Koschel, Inge von Weidenbaum: Römische Begegnungen
DU, Heft 9, 1994

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstlerin Ingeborg Bachmann

Uwe Kolbe: Über den Nachteil. Dichtung, Liebe, Größenwahn und die „Lieder auf der Flucht“. Eine Art Rede für Ingeborg Bachmann.

Heinz Bachmann: „Die Ärzte wollten dringend wissen, ob es irgendwelche Medikamente gab“
Die Welt, 5.9.2023

 

 

 

 

 

 

Ingeborg Bachmann erhält den Georg-Büchner-Preis 1964. Dankesrede und kurzer Fernsehbericht über sie inklusive Interview. Außerdem Rezitation des Gedichts „Die große Fracht“.

 

 

 

 

 

 

Zum 10. Todestag der Autorin:

Christa Wolf: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar
DU

Zum 30. Todestag der Autorin:

Rolf Löchel: Es schmerzte sie alles, das Leben, die Menschen, die Zeit
literaturkritik.de, Oktober 2003

Zum 40. Todestag der Autorin:

Jan Kuhlbrodt: Zum 40 Todestag von Ingeborg Bachmann
signaturen.de

Zum 75. Geburtstag der Autorin:

Susanne Petersen: „Keine neue Welt ohne neue Sprache“
Sonntagsblatt

Diemut Roether: Ein Ungeheuer mit Namen Ingeborg
die taz, 23.6.2001

Otto Friedrich: Zum 75. Geburtstag von Ingeborg Bachmann
Die Furche, 20.6.2001

Zum 80. Geburtstag der Autorin:

Evelyne von Beime: „Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen“
literaturkritik.de, Juni 2006

Zum 90. Geburtstag der Autorin:

Ria Endres: „Es kommen härtere Tage“
faustkultur.de, 15.6.2016

Hans Höller: Ingeborg Bachmann: Phänomenales Gedächtnis ganz aus Flimmerhaar
Der Standart, 25.6.2016

Zum 95. Geburtstag der Autorin:

Hans Höller: Die Utopie der Sprache
junge Welt, 26.6.2021

 

Zum 50. Todestag der Autorin:

Hannes Hintermeier: Horror vor der Sprache der Bundesdeutschen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2022

Edwin Baumgartner: Bachmann für Verehrer
Wiener Zeitung, 24.11.2022

Ingeborg Bachmann: Eine poetische Existenz auf der Rasierklinge
Kleine Zeitung, 16.10.2023

Hans Höller: Kriminalgeschichte der Autorschaft
junge Welt, 17.10.2023

Claudia Schülke: Elementare Grenzgängerin
Sonntagsblatt, 11.10.2023

Paul Jandl: Vor fünfzig Jahren starb Ingeborg Bachmann an schweren Brandverletzungen. Dann gab es Gerüchte über einen Mord, und es entstand ein Mysterium
Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2023

Teresa Präauer: Nur kurz hineinlesen – und nächtelang hängen bleiben
Die Welt, 17.10.2023

Andrea Heinz: Erinnerung an eine Unvergessene: Vor 50 Jahren starb Ingeborg Bachmann
Der Standart, 17.10.2023

 

 

 

Fakten und Vermutungen zur Autorin + ForumIMDbÖM + KLG +
Archiv 1, 2, 34 + Internet Archive + Kalliope +
Georg-Büchner-Preis 1 & 2 + Interview
Porträtgalerie: Keystone-SDA + deutsche FOTOTHEK
shi 詩 yan 言 kou 口

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Bachmann, der“.

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

0:00
0:00